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Alexandros
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Erde

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Insgesamt 29 Bewertungen
Bewertung vom 20.05.2024
Nachspielzeiten
Vogelsang, Lucas

Nachspielzeiten


weniger gut

Post von Wagner in Langform

Zugegeben: Das Buch „Nachspielzeiten“ von Lucas Vogelsang liest sich ganz gefällig. „Denn der Fußball schreibt die besten Geschichten“ lautet die Erläuterung zum Titel. Doch da fängt es schon an, schief zu werden, noch bevor man das Buch überhaupt aufgeschlagen hat. „Nachspielzeiten“ deutet ja darauf hin, dass es gerade nicht um Fußball geht, also eher um das Danach, so wie im Kapitel über Ex-Fußballprofis im Dschungelcamp oder Tim Wiese als Wrestler. Da gehe ich noch halbwegs mit. Allerdings zeigt die stilisierte Illustration auf dem Cover das berühmt-berüchtigte Bild von Vinnie Jones, der Paul Gascoigne dahin greift, wo es ein klein bisschen mehr weh tut als anderswo. Also geht es scheinbar doch um Fußball. Richtiger wäre vermutlich gewesen: „Fußballer lassen die besten Geschichten schreiben“. Denn das „denn“ ergibt hier wie dort gleichermaßen keinen Sinn.

Worum geht es also? Im Grunde ist es Boulevard-Klatsch über Fußballer der tendenziell eher abgehalfterten Art. Hier kommen die B- und C-Promis zu Wort bzw. schreibt der Autor über sie. Wie bereits angedeutet kann man das alles so weglesen. Eine Metapher ergibt die nächste. Es ist so eine Art Post von Wagner (Bild) in Langform. Wenn auch die sprachlichen Bilder durchaus stimmig und kurzweilig sind; die Sprache ist es nicht.

„Die Zeit, sie läuft von Beginn an für die Griechen“, ist da nur ein Beispiel. Dieser Art nutzlose Subjekt-Relativsatz-Konstruktionen kommen auf beinahe jeder zweiten Seite vor. Wer hier mein Problem nicht erkennt: Was ist gegen den normalen Hauptsatz „Die Zeit läuft von Beginn an für die Griechen“ einzuwenden? Entweder hat der Lektor das nicht gesehen oder Herr Vogelsang war diesbezüglich beratungsresistent. Oder aber diese Art der Sprachverwirrung gehört mittlerweile dazu, wie ich leider oft auch beim Deutschlandfunk hören muss – und das ist schon einer der besseren Radiosender in Deutschland.

Insgesamt geht es, mehr oder weniger ausschweifend und ausschmückend, in sieben Kapiteln um Griechenlands Gewinn der Europameisterschaft 2004, um Mehmet Scholl, die bereits erwähnten Fußballer im Dschungelcamp, Tim Wiese, eine eher marginale Geschichte mit DJ Ferry, die dem Autoren persönlich am Herzen lag, Beckenbauer und eben Gazza und Vinnie. Es ist eine durchaus wilde Mischung, aus der ich nicht wirklich erkennen konnte, weshalb er nun gerade diese Charaktere und Begebenheiten ausgewählt hat.

Fazit: Das Buch ist kurzweilig und in metaphernreicher Sprache verfasst. Der größte Witz jedoch ist, dieses Machwerk als Sachbuch zu bezeichnen. Als wäre die Bild-Zeitung das Feuilleton der FAZ.

Bewertung vom 20.05.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


ausgezeichnet

Entlarvt den Literaturbetrieb und bedient sich seiner Mittel

Auch wenn es in der heutigen Zeit beinahe zum schlechten Ton zu gehören scheint, wenn jemand seine Meinung ändert, gehöre ich bei diesem Buch gerne zu diejenigen, die sagen: Ja, ich war voreingenommen, weil dieses Buch schon im Vorfeld extrem gehypt wurde, dass mich bereits die erste Seite, der dortige Plauderton und die schreienden Großbuchstaben genervt haben. Dennoch habe ich das Buch, vielleicht aus einer Laune heraus, dann doch gekauft - und sogar in der Buchhandlung noch mit Buchschnitt bekommen. Dabei war zum Zeitpunkt des Erscheinens bei Amazon bereits nur noch die dritte Auflage erhältlich. Und selbstverständlich hatte nur die erste Auflage diesen coolen Buchschnitt mit der tropfenden schwarzen Schreibfeder auf gelbem Grund.

Weshalb ich das so ausführe? Weil es ja im Grunde genau das Marketingkonzept ist, das die Autorin Rebecca F. Kuang in ihrem Buch „Yellowface“ so genüsslich durch den Kakao zieht. Sie entlarvt all die überhypten, öffentlichkeitswirksamen Werbemaßnahmen, um ein Buch zu pushen und den zugehörigen Autor so interessant wie möglich darzustellen. Der Autor soll authentisch sein, ist aber auch nur eine Kunstfigur. Soweit ist das nichts wirklich Neues, aber es ist schon gut gemacht. Zumal das Buch samt Autorin eben - wie geschrieben - die doppelte Ironie erkennen lässt, die nun mit ihrem eigenen Buch über das Buch einhergeht.

Die Geschichte ist an sich kurz erzählt: Zwei Autorinnen, die eine berühmt und gehypt, natürlich auch total gutaussehend und mit Migrationshintergrund, die andere eher Typ „graue Maus“, deren Erfolg mit ihrem Debütroman schnell im Sande verschwimmt, sind lose befreundet. Doch die Beziehung ist eher von Neid einerseits, von nichtsahnender Überheblichkeit andererseits geprägt. Unter beiden Oberflächen verbirgt sich jedoch Unsicherheit und Nichtzugehörigkeitskomplexen. Die berühmte Autorin stirbt nun durch einen grotesken Unfall beim abendlichen Wettessen; die andere, nur marginal traumatisiert, eignet sich deren Romanentwurf an, komplettiert ihn und wird schließlich endlich das, was sie immer erträumt hatte: eine berühmte Autorin.

Vor diesem Setting kann Rebecca F. Kuang nun genüsslich ausbreiten, was im Literaturbetrieb, v.a. unter und mit jungen Autoren, so alles passiert, schief läuft und einfach nur Kopfschütteln hervorruft. Bei mir jedenfalls beinahe täglich, wenn mir mal wieder bei Instagram eine völlig überhypte Werbeanzeige eines nichtssagenden neuen Romans per aufgedrehtem „Influencer“ untergejubelt wird, die ich nicht rechtzeitig wegklicken kann. Vor diesem Hintergrund fallen zwei weitere Dinge ironisch auf: Zum einen der gelbe Schutzumschlag des Buches, der, wenn man ihn entfernt, das fiktive Buchcover des Romans im Roman „Die letzte Front“ von Athena Liu bzw. Juniper Song, offenbart; zum anderen die nichtssagenden, hypenden Floskeln berühmter Autoren, die eben jenen gelben Schutzumschlag zieren, hier aber wiederum „Yellowface“ über den grünen Klee loben. Bei diesem Sarkasmus will man gleichzeitig lachen und weinen.

Fazit: Das Buch entlarvt den modernen Literaturbetrieb, reitet aber genau die gleiche überhypte Welle. Ironie im Sarkasmus oder umgekehrt. Es ist schwer, das Buch nicht zu mögen; andererseits ist es traurig, dass der Literaturbetrieb mittlerweile genau so funktioniert.

Bewertung vom 19.05.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Liebesgeschichte oder philosophisches Gedankenexperiment? Beides!

Normalerweise verliere ich wenige Worte über das Cover eines Buches. Doch bei "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard hatte ich das Gefühl, das es mit jedem weiteren gelesenen Kapitel immer besser passte. Das beinahe unscheinbare Aquarell symbolisiert das Tal, in dem Odile, ein 16-jähriges Mädchen lebt. Ihr Leben ist sehr begrenzt, denn es spielt sich nur in ihrer Stadt, in ihrem Tal ab. Den Osten oder Westen dürfen die Bewohner nicht betreten, außer sie haben einen guten Grund. Der Grund ist meistens ein toter Angehöriger, den die Familie vor seinem Sterbedatum noch einmal lebend sehen möchte. Dann reisen sie in den Osten, eine Stadt, ein Tal, das ebenso aussieht wie bei ihnen, nur um zwanzig Jahre in die Vergangenheit versetzt. Ebenso kann es geschehen, dass Besucher mit Masken im Tal von Odile erscheinen. Dann kommen sie aus dem Westen, das zwanzig Jahre in der Zukunft liegt.

Genau solche Besucher beobachtet Odile eines Tages und erkennt die beiden als Eltern eines Klassenkameraden, für den die sonst stille Einzelgängerin Odile heimlich Gefühle hegt. Edme ist ihre erste Liebe, derer sie sich anfangs noch nicht bewusst ist. Nun jedoch weiß sie, dass Edme sterben wird, etwas, das sie eigentlich gar nicht wissen darf. Wie soll sie mit diesem Wissen umgehen? Soll sie Edme warnen? Sie weiß nicht, wie er zu Tode kommt. Was also ist, wenn sie versucht, ihn zu retten, es aber genau dieser Versuch ist, der zu seinem Tod führt? Andererseits kann gerade das nicht passieren. Wenn sie also so tut, als wüsste sie nichts, wird alles so geschehen, wie es vorbestimmt ist. Allerdings ist schon alles anders seit dem Zeitpunkt, als Odile Edmes Eltern erkannt hat. Sie verhält sich also künftig bereits anders als sie es getan hätte, da sie es nicht wusste. Und wäre sie ohne ihr Wissen überhaupt zum Auswahlverfahren des Conseil gekommen?

Das Aquarell auf dem Cover deutet nur an. In ihm verschwimmen die beiden dominierenden Farben zu einer Landschaft, zu der das Auge und das Denken viel hinzudichten muss, um wirklich etwas zu erkennen. Und so ging es mir auch bei diesem Roman. Er ist sehr gut geschrieben und lässt Fragen wie oben angedeutete zwanglos aufkommen. Interessant finde ich auch das kurze Interview mit dem Autor am Ende des Buches, in dem er ein wenig darüber berichtet, wie es zur Idee mit den zusammenhängenden, aber zeitlich versetzten Tälern kam. Überrascht war ich, dass die ehemalige innerdeutsche Grenze mit ihren Wachtürmen und dem Stacheldraht ein Ideengeber war. Aber auch der Tod zweier noch junger Freundinnen von Howard gaben den Anstoß, sich darüber Gedanken zu machen, was wäre, wenn man die Chance hätte, diese verstorbenen Menschen noch einmal wiedersehen zu können.

Fazit: "Das andere Tal" ist ein höchst philosophisches Buch, das aber gar nicht so daherkommt. Und deshalb ist es auch für Menschen geeignet, die einfach nur eine schöne Liebesgeschichte lesen möchten.

Bewertung vom 21.04.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Ein Buch wie eine Melodie

Dieses kleine Buch ist eine sprachliche Offenbarung. Jedem einzelnen Wort merkt man an, dass es nicht zufällig gesetzt ist. Eine melancholische Sprachmelodie zieht sich durch alle Zeilen, Absätze, Seiten bis zum letzten Punkt.

Worum geht es? Im Grunde um nichts. Um das im Titel genannte "Mutternichts". Das Unausgesprochene, Ungesagte der toten Mutter der Autorin Christine Vescoli, an der sie sich nun abarbeitet, zu ergründen versucht, worin wohl die Seele, das Leiden im Leben der Mutter bestand.

Zum Ende ihres Lebens gab es immer mehr dieser schweigenden Momente, nach denen die Mutter dann doch einen Satz oder nur ein Versatzstück sagte, das die Tochter aufhorchen ließ. Ließ sie etwas durchblicken? Wollte sie doch endlich etwas sagen von dem, was ihr auf der Brust drückte? Wollte sie, dass die Tochter endlich einmal fragte? Wie war das damals für dich, als du weggeschickt wurdest? Weshalb hast du laut Gedichte rezitiert, wenn du allein warst? Was hat dir die Arbeit als Kind, als Dirn am fremden Hof bedeutet? Weg von der eigenen Familie zu sein? Scheinbar nicht gewollt zu sein?

Doch im Leben haben Mutter und Tochter nie so gesprochen. Nun ist es zu spät, und Christine Vescoli versucht mit diesem Buch - ja, was eigentlich? Für mich beschreibt sie ihre Mutter mit ganz viel zärtlicher Liebe, fragt sie, versucht selbst zu antworten und setzt ihr somit nicht unbedingt ein Denkmal, entreißt sie jedoch den Klauen des Vergessens. Und das ist wohl das schönste Geschenk, das sie ihr machen kann.

Fazit: Am außen schmucklosen Buch könnte man leicht vorbeigehen. Doch im Inneren entfaltet sich eine sprachliche Wucht, die von viel Liebe zeugt. Ein wunderbares Buch.

Bewertung vom 02.04.2024
Die Spiele
Schmidt, Stephan

Die Spiele


gut

Zu viele Sprünge; kaum Spannung

Für die Lektüre dieses Buches habe ich etwas länger benötigt als gewöhnlich, und sogar während des Lesens habe ich nicht so ganz verstanden warum. Am Schreibstil lag es jedenfalls nicht. Der liest sich flüssig, ist zuweilen humorvoll, aber auch politisch interessant und kenntnisreich, also durchaus anspruchsvoll. Das mag ich allerdings. Auch kein Problem hatte ich mit den leicht launenhaften Beschreibungen der deutschen Politiker im Regierungsflieger nach China. Wenn Frau Merkel immer nur als "Kanzlerin" bezeichnet wird, der Regierungssprecher Seibert jedoch seinen Namen hat, kann man das als inkonsequent bezeichnen. Sollte Herr Seehofer das Buch lesen, würde ich mich darüber hinaus nicht wundern, wenn er sich abschätzig darüber äußert oder den Autor Stephan Schmidt sogar vor Gericht zerrt. Nein, das Geschriebene selbst, diese Episoden im großen Ganzen haben mich gut unterhalten.

Was mich störte waren zwei Dinge, die bei einem Buch von etwa 400 Seiten jedoch nicht unerheblich sind: Zum einen gibt es einfach zu viele Sprünge, sowohl zeitlich als auch örtlich. Da muss man sich schon einiges merken, um die kleinen Hinweise, die fünfzig Seiten später weitergesponnen werden, richtig verknüpfen zu können. Zum anderen geht es äußerst schleppend voran. Im Grunde begrenzt sich die erzählte Zeit auf wenige Tage, knapp drei vor dem Mord bis knapp drei nach dem Mord. Der Protagonist Thomas Gärtner (ist er überhaupt der Protagonist oder ist es nicht doch Sascha Daniels oder Lena Hechfellner oder ein ganz anderer?) taucht am Anfang hauptsächlich auf, danach verliert sich seine Spur weitgehend. So wie sich die Spannung im Verlauf der Lektüre weitestgehend auflöst. Irgendwann will man einfach nur am Ende ankommen und wissen, wer nun der Mörder war - obwohl zumindest ich das schon recht früh wusste.

Fazit: Bei guten Krimis finde ich es schade, wenn das Buch zu Ende ist; bei "Das Spiel" war ich froh, als es vorbei war. Gut geschrieben, aber leider kein wirkungsvoller Spannungsbogen.

Bewertung vom 25.02.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


sehr gut

Streiflichter auf schwarze Biografien in den 1960er Jahren

Die Sammlung von fünfzehn Erzählungen von Diane Oliver mit einem Nachwort von Tayari Jones, ins Deutsche übertragen von Brigitte Jakoleit und Volker Oldenburg habe ich mit viel Vorfreude zur Hand genommen und gelesen. Und bin danach zwar durchaus angetan, doch nicht wirklich begeistert. Viel an meinem Urteil liegt an den überbordenden Vorschusslorbeeren sowie an der Biographie bzw. dem Schicksal der Autorin, die bereits mit 22 Jahren bei einem Motorradunfall starb. Ebenso am selbstkasteienden Nachwort von Jones, die sich selbst dafür herabwürdigt, vor der Beschäftigung mit den Geschichten in "Nachbarn" nie etwas von Diane Oliver gehört oder gelesen zu haben. Still mochte ich ihr zugerufen haben: Man kann schließlich nicht jeden kennen. Auch nicht, wenn man Literatur studiert hat. Das kann ich aus Erfahrung sagen.

Die Erzählungen selbst kommen nun nie mit dem erhobenen Zeigefinger. Sie sind facettenreich und mit scharfem Blick daher. Sie werfen Schlaglichter auf das Leben schwarzer Menschen in den USA der 1960er Jahre, als die sogenannte "Rassen"trennung im Zuge der kurzen Präsidentschaft John F. Kennedys gerade juristisch abgeschafft, in den Köpfen der Menschen aller Hautfarben jedoch noch immer präsent war. Das sogenannte N-Wort verwendet Diane Oliver selbst, in einer merkwürdigen Mischung aus Schimpfwort und Selbstbeschreibung. In der Buchausgabe von "Nachbarn" ist das Wort im Original erhalten; in der deutschen Übersetzung wird es ausgesternt.

Ich halte es für schwierig, auf diese Art und jede andere "sensible" oder "behutsame" Sprachanpassung den Leser quasi zu entmüdigen, ihn als Kind zu behandeln, der entweder geschützt oder belehrt werden soll. Aus meiner Sicht zerstört das die Authentizität der Texte, in denen nicht mehr die Lebenswirklichkeit der Zeit dargestellt wird, in denen sie entstanden sind.

Inhaltlich sind die fümfzehn Geschichten äußerst facettenreich an Stil und Thematik. Das Buch liest sich auch wie das Ausprobieren einer jungen Autorin an unterschiedlichen Stimmen und Rhythmen. Als sie starb, hatte sie ihre eigenen Klang noch nicht gefunden. So konnte ich mich zumindest nicht nur auf den Inhalt konzentrieren, sondern musste jedes mal aufs Neue in die Sprachmelodie hineinfinden. Das war durchaus spannend. Allerdings erscheint der Band so eher wie ein Sammelband von unterschiedlichen Autoren als das Werk aus nur einer Feder.

Was allen Erzählungen jedoch gemein ist, ist die noch immer vorherrschende Segregation zwischen Weiß und Schwarz. Es wird nicht miteinander gesprochen; Schwarze sondern sich lieber von Weißen ab und erschießen sie, als auf Angebote einzugehen oder auch nur mit ihnen zu reden. Das liest sich teilweise verstörend, zeugt allerdings von den Erfahrungen vieler Menschen zu dieser Zeit.

Und ist es heute anders? Auch heute noch werden Menschen grundlos erschossen, nur weil sie zu nahe ans eigene Haus kommen. Es wird nicht miteinander geredet, denn der andere könnte ja etwas im Schilde führen. Es erschreckt, wie wenig sich in sechzig Jahren auf US-amerikanischen Straßen und in Häusern geändert hat. Die Segregation ist längst wieder in den Köpfen angekommen, wenn sie überhaupt je verschwunden war. Unter dem Gesichtspunkt sind die hier vorgestellten Texte der Autorin äußerst modern.

Fazit: Geschichten, die das Leben abbilden und einen Blick werfen, den es aus der Zeit der 1960er Jahre wohl selten gibt: eine schwarze junge Frau beschreibt Lebensfacetten kurz nach Abschaffung der Segregation in den USA. Eine facettenreiche Sammlung, allerdings ohne eigene Stimme. Zudem fokussiert sich die Außenwirkung zu sehr auf die tragische Biographie Diane Olivers.

Bewertung vom 24.09.2023
One Second to Love / Breaking Waves Bd.1
Moninger, Kristina

One Second to Love / Breaking Waves Bd.1


sehr gut

Eigentlich gar nicht mein Fall, aber...

Die Reihe "Breaking Waves" von Kristina Moninger, von der hier der erste Band "One Second To Love" vorliegt, ist im Grunde gar nicht mein Fall. Junger Erwachsenenroman, aber die primäre Zielgruppe sind junge Frauen. Es geht vordergründig um Beziehungen, die große Liebe in Vergangenheit und Gegenwart und die dazugehörenden Verstrickungen. Dazu ein wenig Spannung durch die verschwundene Freundin, deren Verschwinden Avery nun aufklären will.

Obwohl das inhaltlich so gar nicht mein Fall ist, hat mich die Gestaltung davon überzeugt, hier mal eine Ausnahme zu machen. Habe also direkt alle vier Bände der Reihe vorbestellt. Das Coverbild, eins von vier Puzzleteilen zum Gesamtbild, wenn die Reihe im kommenden Frühjahr abgeschlossen ist, der farbige Buchschnitt, auf dem sich das Coverbild fortsetzt, die Innenumschläge, auf denen die Insel Harbour Bridge zur besseren Orientierung für den Leser skizziert ist sowie der Bildeinleger, der als Lesezeichen verwendet werden kann - all das ergibt ein wirklich rundes Bild. Ganz dickes Daumen-hoch an die Gestaltung und die Marketingabteilung.

Inhaltlich möchte ich nicht so viel verraten. Nur soviel: Es ist natürlich keine Spitzenliteratur. Leichte Unterhaltung trifft es ganz gut, locker zu lesen, obwohl ich bei den Interaktionen und Dialogen schon manchmal mit den Augen rollen musste. Aber es sind eben junge Erwachsene. Die probieren sich aus, sind zuweilen etwas stur und emotional sprunghaft.

Fazit: Was mit Josie passiert ist, werden wir wahrscheinlich erst im vierten Band der Reihe erfahren. Der Stil ist jugendlich sprunghaft. Doch komplett sehen die Bücher später richtig gut im Bücherregal aus!

Bewertung vom 24.09.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


ausgezeichnet

Tasmanien ruht im Auge des Sturms unserer Zeit

Auf den ersten Blick plätschert das Buch leise und sanft vor sich hin. Paolo Giordano erzählt ruhig, in einer Sprache, die hineinzieht ins Geschehen, ohne handgreiflich zu werden.

Doch bereits das Cover suggeriert die Brüchigkeit des Lebens, die Lücken, die sich auftun, wenn das eigene Dasein eben nicht nach Plan verläuft und man sich erneut auf die Suche begeben muss.

Alles beginnt damit, dass Paolos Frau ihm mit Anfang Vierzig ihre Entscheidung mitteilt, alle Versuche, doch noch ein Kind mit ihm zu bekommen, einstellen will. Mutter, Vater, Kind - das war bisher ihre Idee vom gemeinsamen Glück gewesen. Ein Kind für die eigene Zukunft. Doch wenn das Kind unmöglich ist, gibt es dann überhaupt noch eine gemeinsame Zukunft?

Diese Frage schwebt im Roman über den weiteren Worten, über den Reisen, die Paolo unternimmt. Er will seinen Freund unterstützen, dessen Ehe gerade zerbrochen ist - trotz Kind - und um dessen Umgangsrecht sich der Freund nun vor Gericht bemühen muss.

Mal beiläufig, mal zentriert stolpert Paolo über die großen Fragen und Hürden der Gegenwart: islamistischer Terror, Klimawandel, Kriege, zwischenmenschliche Sprachlosigkeit. Das mag viel erscheinen, ist jedoch wohl dosiert und regt zum Nachdenken an statt zur Überforderung.

Fazit: Tasmanien ist ein interessanter Report über die Gegenwart, die mich gewiss lange nicht loslassen wird. Er ermutigt, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, anstatt sich immer weiter zurückzuziehen. Große Lesefreude!

Bewertung vom 04.09.2023
Das Licht zwischen den Schatten
Beck, Michaela

Das Licht zwischen den Schatten


ausgezeichnet

Der gro0e deutsch-deutsche Roman

Mit seinen knapp 850 Seiten hat man an "Das Licht zwischen den Schatten" von Michaela Beck vergleichsweise lange zu lesen. Dafür lohnt es sich aber auch. Mich hat die "deutsche Familiengeschichte", so die nähere Bezeichnung des Romans, jedenfalls von der ersten Seite an gepackt.

Drei Zeiten des 20. Jahrhunderts werden anhand von drei Menschen beschrieben. Bereits der Untertitel deutet natürlich darauf hin, dass die drei Protagonisten zusammengehören. Wie bei einer Kriminalgeschichte erhält der Leser immer wieder kleine Hinweise, die er selbständig miteinder verknüpfen kann.

Zur Aufteilung des umfangreichen Werks gehört darüber hinaus die Fünfteilung. Fünf große Kapitel stehen unter jeweils einem größeren Thema, das häppchenweise einem vorgestellten Gedicht entnommen wird. Die Überthemen sind hier Liebe und Beziehung. Man verliebt sich, es folgt kein Happy-end, man muss flüchten und trifft sich schließlich wieder. Im Prinzip ein klassisches Thema - so alt wie die Menschheit.

Doch von Michaela Beck glänzend umgesetzt und ins Deutschland des vergangenen Jahrhunderts übersetzt. Teil 1 beginnt mit Konrad im Jahr 1919, Brigitte 1950 und André 1976. Der Roman endet 1989. Dazwischen werden die Charaktere erwachsen. Sie müssen sich in den jeweils herrschenden Systemen zurechtfinden und sich entscheiden, ob sie mitmachen, protestieren, dagegen agieren oder weglaufen. Neben der Liebe bestimmt mehr und mehr die jeweilige Herkunft der drei ihr Leben. Woher komme ich? ist die alles entscheidende Frage. Und was mache ich daraus?

Der Roman beginnt kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als sich auch das Deutsche Reich fragt: Wer bin ich eigentlich? Das Erstarken des Nationalsozialismus wird anhand weniger Schicksale beleuchtet, ebenso wie die Nachkriegszeit in beiden deutschen Ländern, der kalte Krieg, deutsche Verbindungen zu Südamerika, der Sport in der DDR, der Linksextremismus in der BRD, der Kalte Krieg. All das ist kenntnisreich und authentisch geschildert. Kein Satz ist hier zuviel.

Fazit: "Das Licht zwischen den Schatten" ist für mich das beste Buch dieses Jahres und endlich der deutsch-deutsche Roman, der bisher fehlte. Dieses Buch sollte jeder gelesen haben.

Bewertung vom 21.08.2023
Mattanza
Fabiano, Germana

Mattanza


ausgezeichnet

Eine Frau steht ihren Mann

"Mattanza" von Germana Fabiano hat mich begeistert. Der schmale Band von gerade einmal 183 Seiten ist an Sprache so reich wie ein 500-Seiten-Roman. Dabei trägt er eine zweifache Melancholie mit sich, die allerdings nicht betroffen macht, sondern eher einnimmt für eine dörfliche Inselgemeinschaft, deren Schicksal über fünf Jahrzehnte der Leser im Zeitraffer begleitet.

Die einzelnen Kapitel sind mit Jahreszahlen betitelt; wir tauchen im Jahr 1960 in die Erzählung ein. Ein Mädchen wird geboren, das eigentlich ein Junge werden sollte, denn es war die letzte Chance, die jahrhundertealte Tradition fortzusetzen. Auf der kleinen italienischen Insel Katria ist der Raìs derjenige, der für den Fortbestand der Dorfgemeinschaft sorgt. Der Raìs ist für den Thunfischfang zuständig. Er bestimmt, wann der richtige Zeitpunkt ist, um die Mattanza zu beginnen, wie der jährliche große Fang genannt wird. Der amtierende Raìs ist jedoch ein alter Mann, und das Amt wird in seiner Familie vererbt. Bisher gibt es nur weibliche Nachkommen, und mit der Geburt des jüngsten Mädchens ist guter Rat teuer. Bisher hatte es immer nur männliche Raìs gegeben. Doch um der Tradition willen - nun eben das erste Mädchen.

Obwohl sie das Meer von klein auf nicht wirklich mag, fügt sich Nora, der künftige Raìs, in ihre Rolle. Doch von Beginn an wird sie ins Dorfleben nicht wie ein normales Kind integriert. Sie ist etwas besonderes, und das wird ihr jeden Tag gespiegelt. Als junge Frau und sehr junger Raìs spielt sie gewissermaßen zwei Rollen. Sie ist hin- und hergerissen. Und was vor Jahrzehnten noch eine abgeschiedene Insel war, von der kaum jemand wusste, entwickelt sich bald zum Touristenmagnet und zu einem Ort, der plötzlich zum Mittelpunkt zwischen Hierseits und Jenseits wird.

Fazit: Eine großartige, tiefsinnige, melancholische Erzählung. Um Rollenerwartungen, Rollenverständnis und Rollenzuschreibungen. Um Tradition, Wandel und Moderne. Sehr zu empfehlen.