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Benutzername: 
dorli
Wohnort: 
Berlin
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 889 Bewertungen
Bewertung vom 08.04.2025
Was ich von ihr weiß
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


ausgezeichnet

Jean-Baptiste Andrea beginnt seinen Roman „Was ich von ihr weiß“ mit dem Ende seines Protagonisten - Michelangelo Vitaliani oder kurz: Mimo - liegt in einer piemontesischen Abtei, in der er vierzig Jahre als Restaurator verbracht hat, im Sterben. Die letzten Stunden, die ihm noch bleiben, nutzt er, um sein bewegtes Leben Revue passieren zu lassen und nimmt mich dabei mit auf eine genauso mitreißende wie unterhaltsame Reise.

Mimo kommt 1904 in Frankreich zur Welt. Er leidet an Achondroplasie - eine Form des genetisch bedingten Kleinwuchses. Sein Vater stirbt im Krieg, seine Mutter schickt ihn als 12-Jährigen in ihre Heimat nach Italien, damit er dort eine Ausbildung zum Bildhauer machen kann.

Mimo landet in einer kleinen Werkstatt in einem Vorort von Turin bei Onkel Alberto - kein Verwandter, ein Nenn-Onkel -, der ihn zunächst nicht will und dann nur ausnutzt. Als Onkel Alberto eine neue Werkstatt in Pietra d’Alba kauft, lernt Mimo bei Arbeiten an der Villa der Familie Orsini Viola kennen. Viola Orsini ist der jüngste Spross der angesehenen Adelsfamilie. Viola ist hochintelligent und ein Freigeist - sie will fliegen lernen und weigert sich, das für sie vorbestimmte Leben auch nur in Erwägung zu ziehen.

Dass Mimo trotz eines denkbar schwierigen Starts im Laufe seines Lebens Karriere gemacht hat, liegt zu einem großen Teil an der Freundschaft mit Viola. Mimo und Viola driften im Verlauf der Jahre immer wieder auseinander, doch das Band ihrer Freundschaft hat trotzdem Bestand, und das, obwohl die gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit diese Verbindung nicht gutheißen.

Mimo lässt mich an seinem Leben teilhaben. Ich erlebe sein Wachsen und Werden mit, begleite ihn durch die Höhen und Tiefen der Jahrzehnte, sehe mir aus seinem Blickwinkel die Welt um ihn herum an, während links und rechts die Historie Italiens an uns vorbeizieht.

Jean-Baptiste Andrea hat einen wunderbaren Schreibstil. Ich war schon nach wenigen Seiten von der Handlung gefesselt. Die feine Charakterisierung der Figuren, die bildhaften Beschreibungen der Handlungsorte, die stimmige Atmosphäre und die emotionale Tiefe haben mich durchweg bestens unterhalten.

„Was ich von ihr weiß“ hat mir sehr gut gefallen - ich habe den mit poetischer Stimme erzählten Roman, der sich manchmal ein wenig in Details verliert, von der ersten bis zur letzten Seite genossen.

Bewertung vom 07.04.2025
Die Mündung
Pieper, Tim

Die Mündung


ausgezeichnet

Tim Pieper beginnt seinen Thriller „Die Mündung“ mit einem neugierig machenden Prolog: ein Mann in einem Segelboot kreuzt das Fahrwasser im Bereich der Elbmündung dicht vor dem Bug eines Containerschiffes - er versucht, mit dem waghalsigen Manöver seine Verfolger abzuhängen…

Im Folgenden lerne ich Lena Funk kennen - die Kriminalhauptkommissarin hat sich eine Auszeit genommen, um zu verarbeiten, dass ihre Schwester Jette einem Serientäter zum Opfer gefallen ist. Lena verbringt deshalb einige Zeit als Umweltpraktikantin auf der Vogelinsel Scharhörn. Doch wiederkehrende Albträume und der Eindruck, dass die mit dem Fall betraute SoKo bei den Ermittlungen geschlampt hat, lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Interessant wird es, als Lena nach einem Unwetter eine männliche Leiche in den Dünen entdeckt. Der offensichtlich ermordete Mann hat Schmuckstücke bei sich, die der sogenannte Gezeitenmörder von seinen Opfern als Trophäe behalten hat. Auch ein Anhänger von Jette ist dabei…

Nach diesem Fund will Lena wieder mitermitteln und macht sich auf die Suche nach Antworten - und ich bin zunächst einmal irritiert, denn Lena verhält sich ganz und gar nicht wie eine erfahrene Kripo-Beamtin. Die Erklärung, warum ihre Ermittlungen so untypisch und nachlässig wirken, lässt nicht lange auf sich warten und hat es in sich…

In diesem Thriller ist vieles nicht so, wie es auf den ersten Blick erscheint. In einem dem Prolog vorangestellten Zitat von der US-amerikanischen Psychologin Elizabeth Loftus heißt es: „Unser Gedächtnis arbeitet konstruktiv. Es arbeitet rekonstruktiv. Das Gedächtnis funktioniert ein bisschen wie Wikipedia: Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch.“ Diese Worte lassen bereits erahnen, dass Tim Pieper sich für seine Protagonistin und damit auch für den Leser ein paar besondere Herausforderungen ausgedacht hat - so muss Lena sich im Verlauf der Handlung die Frage stellen, wie sie den Fall lösen soll, wenn sie ihren eigenen Erinnerungen nicht trauen kann. Und ich frage mich ständig, was hier tatsächliches Geschehen ist und welche Ereignisse aufgrund von Manipulation Hirngespinste sind und nur scheinbar geschehen.

Tim Pieper wartet mit einer raffiniert gestrickten Geschichte auf, die voller falscher Fährten und dramatischer Wendungen ist. Die Spannung ist dabei von Anfang an auf einem hohen Level und wird durch unerwartete Ereignisse, temporeiches Geschehen und das stückweise Aufdecken von Hintergründen immer wieder aufs Neue befeuert.

Und auch die unterschiedlichen Zeitebenen tragen dazu bei, dass die Handlung einen enormen Sog entwickelt. Während ich in Rückblenden erfahre, was vor Jettes Verschwinden passiert ist und zudem die familiären Angelegenheiten der Schwestern kennenlerne, kann ich in dem gegenwärtigen Part prima mit den Akteuren mitfiebern und rausche so mit großer Geschwindigkeit durch das Buch, immer begierig darauf zu erfahren, wer hier seine kriminellen Finger im Spiel hat.

Als sehr gelungen habe ich auch die Beschreibungen der Schauplätze empfunden - die rauen Bedingungen an der Küste, der Wechsel von grauen Nebelschleiern und stürmischen Winden, das Spiel der Gezeiten und auch die Einsamkeit des Wattenmeers sorgen für eine düstere Atmosphäre und geben der Thrillerhandlung den passenden Rahmen.

„Die Mündung“ hat mir sehr gut gefallen - ein Thriller, der mit einem abwechslungsreichen Geschehen punkten kann und mir ein paar spannende Lesestunden beschert hat.

Bewertung vom 01.04.2025
Vor hundert Sommern
Fuchs, Katharina

Vor hundert Sommern


sehr gut

Die 94-jährige Elisabeth Liebig ist vor kurzem in ein Hamburger Seniorenheim gezogen, um in der Nähe ihrer Familie zu sein. Die Folgen eines Schlaganfalls haben es unmöglich gemacht, dass sie weiterhin allein in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg lebt. Die Wohnung soll verkauft werden, daher macht sich Elisabeths Tochter Anja daran, den Haushalt aufzulösen. Unterstützt wird Anja dabei von ihrer 19-jährigen Tochter Lena. Beim Ausräumen der Wohnung finden die beiden Frauen Fotos, Briefe und Gegenstände, die sie nicht nur neugierig auf ihre Familiengeschichte machen, sondern die gleichzeitig auch Fragen aufwerfen und ein dunkles Geheimnis vermuten lassen.

Ein zweiter Handlungsstrang spielt im Berlin der 1920er und 30er Jahre. Clara Brand wächst in einfachen Verhältnissen in Berlin-Neukölln auf. Bereits in jungen Jahren arbeitet sie in der Spülküche der Kindl-Brauerei, um etwas zum Familieneinkommen beizutragen. Die monotone, körperlich anstrengende Arbeit verlangt Clara und ihren Kolleginnen einiges ab. Hinzu kommt ein Vorarbeiter, der alle ständig drangsaliert und schikaniert. Als Clara sich bei einem Vorfall zur Wehr setzt, wird sie fristlos entlassen. Der Verlust ihres Arbeitsplatzes erweist sich als Glück im Unglück - Clara bekommt eine Anstellung als Hundebetreuerin angeboten. Ein Job, mit dem sie den Grundstein für ihre berufliche Zukunft legt.

Katharina Fuchs hat einen tollen Schreibstil, der mich immer wieder begeistert. Es braucht nur wenige Seiten und schon bin ich mittendrin in der Welt der Protagonisten und verfolge gespannt, was ihnen auf ihren Wegen widerfährt.

Katharina Fuchs verbindet das ereignisreiche Leben ihrer 1904 in Berlin geborenen Großtante Clara mit einer genauso fesselnden wie unterhaltsamen fiktiven Geschichte, die bis in das Jahr 2024 reicht und in Berlin und Hamburg spielt. Die Autorin lässt mich dabei nicht nur an den Höhen und Tiefen teilhaben, die die Zeit der Weimarer Republik mit sich brachte, sie macht auch deutlich, dass sich die Herausforderungen, mit denen wir heutzutage konfrontiert werden, gar nicht so sehr von den damaligen Problemen unterscheiden.

In „Vor hundert Sommern“ kann ich mitverfolgen, wie es Clara in der Zwischenkriegszeit ergangen ist, wie aus der Flaschenspülerin die Besitzerin eines Hundesalons wurde. Ich begleite Anja durch ihren herausfordernden Alltag, bis es ihr gelingt, ein Gleichgewicht zwischen familiären Verpflichtungen und eigenen Bedürfnissen zu finden. Ich beobachte Lena, die sich auf der Suche nach ihrem Platz im Leben befindet und noch ein wenig orientierungslos umherdriftet. Und ich lausche Elisabeths Erzählungen, die wie eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf mich wirken.

Besonders in dem zeitgenössischen Part wartet Katharina Fuchs mit einer wahren Flut an Themen auf - gefühlt alles, was uns aktuell in unserem Alltag beschäftigt und bewegt, scheint Einzug in die Geschichte gehalten zu haben. Mir hat diese Vielfalt sehr gut gefallen, weil sie das Leben von Anja und ihrer Familie authentisch macht und die Hektik unserer Zeit widerspiegelt. Ich hätte mir diese Fülle auch für den historischen Teil gewünscht; hier gerät manches für meinen Geschmack ein wenig zu knapp.

Katharina Fuchs hat ein sehr gutes Händchen für stimmige Atmosphäre. Sie trifft den Zeitgeist auf beiden Zeitebenen ganz hervorragend - trotz aller Parallelen, die im Verlauf der Handlung deutlich werden, spürt man beim Lesen durchweg, dass sich die Mentalität und die Eigenarten der Menschen von heute und von vor einhundert Jahren eben doch in einigen Dingen unterscheiden.

Eine Sache hat mich bereits während des Lesens und auch danach noch besonders beschäftigt: Schulden unsere Vorfahren uns die Wahrheit über die Dinge, die sie erlebt haben? Haben wir wirklich ein Recht darauf zu erfahren, was vorherige Generationen durchgemacht haben? Lena bedrängt ihre Oma geradezu, ihre Erinnerungen preiszugeben. Elisabeth kommt dem schließlich nach und erzählt von Dingen, die sie ihr Leben lang verschwiegen hat. Dabei merkt man deutlich, wie sehr sie das Erzählen belastet. Alte Wunden werden aufgerissen, Schuldgefühle ans Licht gezerrt. Ich habe es in dem Moment als falsch empfunden, dass Elisabeth die zum Teil sehr schmerzhaften Erfahrungen und Emotionen gedanklich noch einmal durchleben musste. Vielleicht ist der Zeitpunkt, sich ein traumatisches Erlebnis von der Seele zu reden, irgendwann einfach überschritten und dunkle Geheimnisse sollten das bleiben, was sie sind - geheim.

„Vor hundert Sommern“ hat mir sehr gut gefallen - ein anschaulich und lebendig erzählter Familienroman, der mir ein paar kurzweilige Lesestunden beschert hat und mich ein wenig nachdenklich zurücklässt.

Bewertung vom 27.03.2025
Ein ungezähmtes Tier
Dicker, Joël

Ein ungezähmtes Tier


ausgezeichnet

Joël Dicker beginnt seinen Roman „Ein ungezähmtes Tier“ mit einem sehr kurzen, dafür aber spannenden Prolog - es ist der 02. Juli 2022, wir befinden uns in Genf und erleben den Beginn eines minutiös geplanten Raubüberfalls auf einen Juwelier mit.

Die eigentliche Handlung beginnt 20 Tage vor diesem Überfall. In einem Genfer Villenviertel leben Sophie und Arpad Braun - sie Anwältin, er Banker - mit ihren beiden Kindern. Das Familienleben scheint perfekt zu sein. Eine heile Welt wie aus dem Bilderbuch.

Unweit der Brauns wohnen Karine und Greg Liégan mit ihren Kindern in einer preiswerten Reihenhaussiedlung. Karine arbeitet in einer Boutique, Greg ist bei der Polizei. Im Alltag der Liégans scheint nichts wirklich rund zu laufen und doch wirkt ihr Leben auf dem ersten Blick viel realer als das von Sophie und Arpad.

Arpad und Greg lernen sich im Fußballverein ihrer Söhne kennen. Die Männer sind sich auf Anhieb sympathisch, es folgt eine Einladung zu Arpads Geburtstagsfeier, die Ehepaare freunden sich an. Alles scheint ganz normal zu sein. Alltäglich. Aber das ist es bei weitem nicht…

Schnell zeigt sich, dass das luxuriöse Leben der Brauns nur Fassade ist und dahinter dunkle Geheimnisse und tiefe Abgründe schlummern. Und im Hause Liégan sorgen Unzufriedenheit und Neid für eine giftige Stimmung, die Karine immer frustrierter werden lässt und Greg zu einem Voyeur macht.

Joël Dicker ist ein Virtuose, wenn es darum geht, eine Geschichte fesselnd und unterhaltend zu erzählen. Ich liebe es einfach, wie der Autor seine Geschichten aufbaut. Er jongliert mit mehreren Handlungssträngen und springt in der Zeit vor und zurück, lässt mich aber trotz der zahlreichen Perspektiv-, Schauplatz- und Zeitwechsel nie den Faden verlieren. Er spielt mit meinen Erwartungen. Lässt mich Vermutungen anstellen, die er dann mit überraschenden Wendungen wieder zunichte macht. Joël Dicker liebt es, den Leser in seinen Geschichten an der Nase herumzuführen. Und ich genieße es jedes mal wieder.

Während der Tag des Raubüberfalls unaufhörlich näher rückt, teile ich nicht nur die Alltagsprobleme mit den Akteuren, ich erlebe auch eine Welt voller Lügen, Neid, Intrigen und Begierde. Nach und nach kommen Heimlichkeiten an Licht, Hintergründe werden aufgedeckt und am Ende bin ich wieder einmal begeistert, wie nachvollziehbar alles aufgelöst wird.

Joël Dicker hat in diesem Roman einmal mehr bewiesen, dass er ein gutes Gespür dafür hat, wie er die Spannung dosieren muss, damit die Sogwirkung der Handlung durchgehend auf einem hohen Niveau bleibt.

„Ein ungezähmtes Tier“ hat mir sehr gut gefallen - eine fesselnde, raffiniert gestrickte Geschichte, die zahlreiche Überraschungen in petto hat und so für spannende Lesestunden sorgt.

Bewertung vom 09.03.2025
Der Gott des Waldes
Moore, Liz

Der Gott des Waldes


ausgezeichnet

In ihrem Roman „Der Gott des Waldes“ nimmt Liz Moore den Leser mit in die im US-Bundesstaat New York liegenden Adirondack Mountains. Hier befinden sich das Naturreservat der Bankiersfamilie Van Laar sowie das daran angrenzende Ferienlager Camp Emerson. Das Ferienlager gehört zwar zum Eigentum der Van Laars, wird aber schon viele Jahre von Vic Hewitt und seiner Tochter T.J. verwaltet.

Die Handlung spielt im Jahr 1975. Es ist das Jahr, in dem die 13-jährige Barbara Van Laar zum ersten Mal die Sommermonate im Camp verbringen darf. Das freut nicht nur Barbara selbst, sondern ganz besonders ihre Mutter - die seit dem spurlosen Verschwinden ihres Sohnes Bear vor 14 Jahren psychisch labile Alice ist überaus froh, dass sie ihre zu Wutanfällen neigende Tochter für einige Wochen los ist.

Noch bevor der Sommer zu Ende ist, geschieht das Undenkbare: eines Morgens ist Barbara verschwunden. Es gibt keinerlei Hinweise auf ihren Verbleib. Niemand will etwas gesehen oder gehört haben. Eine groß angelegte Suchaktion verläuft ohne Ergebnis.

Liz Moore versteht es ausgesprochen gut, den Leser mit ihrer Erzählweise zu fesseln. Trotz der besorgniserregenden Ereignisse - schließlich ist eine Teenagerin aus reichem Hause in den undurchdringlichen Wäldern verschwunden und ein entflohener Straftäter soll sich in der Gegend aufhalten - lässt die Autorin die Handlung geradezu ruhig verlaufen. Keine actionreiche Höchstspannung. Keine atemlose Verfolgungsjagd. Kaum brenzlige Situationen während der Ermittlungen. Es ist gerade diese Ruhe, die mich in den Bann gezogen hat. Von der ersten Seite an schwebt über allem eine ständige, deutlich spürbare unterschwellige Spannung, die einen enormen Sog auf mich ausgeübt hat.

„Der Gott des Waldes“ besticht vor allen Dingen durch ein abwechslungsreiches Geschehen und einen vielschichtigen Handlungsaufbau - mehrere, ständig wechselnde Zeitebenen sorgen dabei für eine genauso lebhafte wie mitreißende Szenerie. Die aktuelle Handlung wird von zahlreichen Rückblenden in die 1950er und 60er Jahre unterbrochen - so erfährt man häppchenweise, was in den einzelnen Zeitabschnitten passiert ist und kann die Unstimmigkeiten und Widersprüche rund um Bears Verschwinden und die Fehler, die bei den damaligen Ermittlungen gemacht wurden, hautnah miterleben.

Liz Moore hat ein feines Gespür für die Figurengestaltung. Sie schickt eine ganze Reihe interessanter Charaktere ins Rennen, die im stetigen Wechsel zu Wort kommen, so dass man intensiv an den Gedanken, Emotionen und Geheimnissen jedes Einzelnen teilhaben kann und dadurch versteht, was sie bewegt und wie sie ticken. Man kann die positiven wie negativen Schwingungen zwischen den Akteuren deutlich spüren. Beziehungen und Abhängigkeiten sowie Andeutungen über Verwicklungen und tatsächliche Konflikte befeuern immer wieder meine Neugierde auf die Hintergründe zu den Vermisstenfällen. Die Autorin lässt mich glauben, dass so gut wie jeder für das Verschwinden von Barbara verantwortlich sein könnte. Geschickt lenkt sie meinen Blick von einem zum nächsten und ich verfolge aufmerksam, was jeder Einzelne zu berichten hat, immer auf der Suche nach dem kleinen Hinweis, der mich der Lösung des Falls und damit Barbaras und auch Bears Schicksal näher bringt.

Der Roman hat jede Menge Gesellschaftskritik im Gepäck. Neben der damals wie heute stark auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich beleuchtet Liz Moore vor allen Dingen das Frauenbild in den 1950er bis 1970er Jahren - obwohl die Lebensläufe der Frauen in diesem Roman, ihre Altersstufen und ihr sozialer Stand ganz unterschiedlich sind, verbindet sie doch eine Sache: sie werden von den Männern in ihrem Umfeld als unterlegen angesehen. Sie werden unterdrückt, herumkommandiert, in ihrer beruflichen Entwicklung ausgebremst oder sogar zum Schweigen gebracht. Obwohl es sich durchaus um starke Frauenfiguren handelt, die den Herausforderungen des Lebens mutig begegnen, kämpfen sie meist vergeblich um einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft.

Die sehr gelungenen Beschreibungen der imposanten Natur, die Schilderung der Gefahren, die die raue Wildnis birgt und auch die Einblicke in die Historie der Adirondacks unterstreichen die Handlung dieses Familiendramas ganz hervorragend und runden den Roman damit perfekt ab.

„Der Gott des Waldes“ ist sowohl mitreißende Familiengeschichte wie auch fesselndes Gesellschaftsporträt - ein Roman, der mir mit seiner abwechslungsreichen Handlung nicht nur spannende Lesestunden beschert hat, sondern mich auch einen Blick auf die Abgründe menschlicher Moral hat werfen lassen.

Bewertung vom 05.02.2025
Die Schwestern von Krakau
Storks, Bettina

Die Schwestern von Krakau


ausgezeichnet

Bettina Storks beginnt ihren von wahren Begebenheiten inspirierten Roman „Die Schwestern von Krakau“ mit einem fesselnden Prolog, der im April 1943 im Montelupich-Gefängnis in Krakau spielt. Ich lerne die inhaftierte Widerstandskämpferin Gusta Dawidson Draenger kennen und erfahre, was gerade in ihr vorgeht. Ihre Gedanken reißen mich mit - ich möchte mehr wissen über den jüdischen Widerstand in Krakau. Möchte erfahren, was die jüdische Gemeinschaft und die polnische Bevölkerung während der Besetzung Krakaus durch die Nationalsozialisten durchmachen mussten. Schon nach diesen ersten Seiten weiß ich, dass mich eine Geschichte erwartet, die unter die Haut geht.

Im Folgenden geht es nach Paris in das Jahr 2017. Hier begegne ich Édith Mercier. Die 52-jährige Architektin entdeckt im Nachlass ihres Vaters Simon Dokumente und Fotos, die ihre bisherige Welt ins Wanken bringen. Simon war adoptiert!? Édith will sich über ihre Wurzeln Klarheit verschaffen. Sie macht anhand der Notizen ihres Vaters Familienangehörige in Fellbach bei Stuttgart ausfindig und trifft sich daraufhin mit ihrer Großcousine Tatjana. Die beiden Frauen stellen schnell fest, dass es viele Ungereimtheiten in ihren Familienangelegenheiten gibt und beschließen, auf Spurensuche zu gehen…

Die Handlung des historischen Parts beginnt im Frühjahr 1941. Lilo Wagner und ihre Schwester Helene wachsen als sogenannte Volksdeutsche in Krakau auf. Während die rebellische Helene bereits 1936 ihrem konservativen Elternhaus den Rücken gekehrt und in Paris ihr Glück gesucht hat, ist die pflichtbewusste Lilo in der Stadt an der Weichsel geblieben und macht eine Ausbildung zur Apothekerin. Die Adlerapotheke, in der Lilo beschäftigt ist, liegt in dem vor kurzem errichteten Krakauer Ghetto im Stadtteil Podgórze. Obwohl der Alltag in der Stadt durch die Machenschaften der Nationalsozialisten mehr und mehr in Schieflage gerät und es Lilos Eltern ein Dorn im Auge ist, dass ihre Tochter im Ghetto arbeitet, hat die 27-Jährige sich bewusst entschieden, dort ihre Ausbildung zu beenden. Weil sie ihre Arbeit liebt. Und ein bisschen auch, weil sie für ihren Vorgesetzten Tadeusz Pankiewicz schwärmt. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Lilo noch nicht, wie sehr ihre Entscheidung ihren gesamten Lebensweg prägen wird…

Bettina Storks erzählt die Geschichte rund um die fiktive Krakauer Arztfamilie Wagner und ihre Nachkommen sehr anschaulich - die Charakterisierung der Figuren, die bildhaften Beschreibungen der Schauplätze (besonders Krakau hat mich fasziniert) und die intensiven Schilderungen des abwechslungsreichen Geschehens sowohl in dem historischen wie in dem zeitgenössischen Part machen diesen Roman zu einem genauso ergreifenden wie spannenden Leseerlebnis.

In dieser mehrere Generationen umspannenden Familiengeschichte geht es um das Schweigen der Kriegsgeneration über die erlebten Schrecken. Es geht darum, wie sich Ereignisse und Entscheidungen aus früheren Zeiten auf das aktuelle Geschehen auswirken können und welchen Einfluss das Verdrängen von Wahrheiten auf die Lebenswege von Angehörigen und Nachkommen haben kann. Es war äußerst spannend zu beobachten, was Tatjana und Édith alles aufdecken. Gewichtige Tatsachen, sorgsam in den hintersten Winkeln der Gedächtnisse vergraben, kommen ans Licht und bewirken auch über ein dreiviertel Jahrhundert nach den eigentlichen Ereignissen bei den Protagonisten emotionale Achterbahnfahrten.

Neben der Geschichte der Familie Wagner geht es in diesem Roman auch um den jüdischen Widerstand in Krakau. Hier hat Bettina Storks sich eng an das tatsächliche Geschehen in den 1940er Jahren gehalten und mit Gusta Dawidson Draenger und dem Apotheker Tadeusz Pankiewicz zwei überaus wichtige Mitglieder des Widerstands in den Mittelpunkt gestellt. Die Autorin schildert die Lebensumstände im Ghetto und die zutiefst bewegenden und manchmal erschütternden Ereignisse sehr mitreißend. Sie lässt die Widerstandsbewegung vor meinen Augen lebendig werden, so dass ich am Schicksal der Menschen teilhaben kann. Ich kann die ständige Bedrohung deutlich spüren und erlebe dabei mit, wie trotz aller Widrigkeiten absolute Einigkeit in der Gruppe um Gusta und Tadeusz herrschte und wie groß ihre Entschlossenheit war, für die Nachwelt etwas zu bewegen.

Besonders begeistert hat mich dabei immer wieder das stimmige Bild, das Bettina Storks zeichnet. Romanhandlung und reale Ereignisse werden zu einer Einheit. Alles passt zusammen und wirkt durchweg authentisch und lebensnah. Auch das Zusammenspiel zwischen fiktiven Figuren und historischen Persönlichkeiten ist ausgeklügelt und funktioniert reibungslos.

„Die Schwestern von Krakau“ hat mir sehr gut gefallen - eine tiefgründige Familiengeschichte, die voller tragischer Momente ist und mich auch nach dem Lesen noch lange beschäftigt hat.

Bewertung vom 07.11.2024
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


ausgezeichnet

In seinem historischen Roman „Die Lungenschwimmprobe“ nimmt Tore Renberg den Leser mit in die 1680er Jahre nach Leipzig und erzählt von der Verteidigung der 15-jährigen Anna Voigt, die beschuldigt wurde, ihr Kind nach der Geburt ermordet zu haben.

Dieser Roman ist anders, als ich erwartet hatte. Im Klappentext heißt es „Erzählt nach wahren Begebenheiten“ - eine Anmerkung, die mich immer anlockt. Meist wird dann ein historisches Ereignis mit reichlich stimmiger Fiktion verknüpft. Ich mag solche Geschichten sehr. Renberg hat mir ein etwas anderes Leseerlebnis beschert: hier steht die Historie dominant im Vordergrund, Fiktion scheint nur schmückendes Beiwerk. Ein Lückenfüller. Renbergs Schreibstil wirkt dadurch sehr sachlich. Wer hier eine emotionale und zu Herzen gehende Geschichte rund um Anna und ihr Schicksal erwartet hat, wird von diesem Roman enttäuscht sein. In der „Lungenschwimmprobe“ geht es um das Rechtssystem im ausgehenden 17. Jahrhundert und um den Beginn der modernen Gerichtsmedizin. Renberg hat mehrere Jahre intensiv recherchiert und aus den unzähligen Fakten über die damaligen Ereignisse und Persönlichkeiten ein sehr umfassendes und vor allen Dingen äußerst glaubwürdiges Bild von Zeit und Ort gezeichnet.

Bei einer Lungenschwimmprobe handelt es sich um ein rechtsmedizinisches Verfahren, mit dem überprüft wurde, ob ein verstorbenes Neugeborenes womöglich nach der Geburt getötet wurde. Im Rahmen einer Obduktion wird ein Teil der Lunge in Wasser gelegt und beobachtet, ob diese sinkt oder schwimmt. Schwimmt die Lunge, so enthält sie bereits Luft in den Lungenbläschen und das Kind hat geatmet. Eine nicht belüftete Lunge von tot geborenen Kindern sinkt dagegen ab.

Im Jahr 1681 führte der belesene Stadtphysikus Johannes Schreyer als erster Mediziner überhaupt diese Probe durch und erbrachte damit den Nachweis, dass Annas Kind tot zur Welt gekommen war. Doch die Stadtoberen hielten Anna weiterhin für schuldig und ein langjähriger Prozess nahm seinen Anfang.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht nicht - wie ich eigentlich vermutet hatte - die junge Anna, sondern der damals 26-jährige aufstrebende Jurist Christian Thomasius. Dieser hatte sich auf Bitte von Annas Vater bereiterklärt, die Verteidigung der Familie Voigt zu übernehmen. Im Verlauf der Handlung wird schnell klar, dass es dem Anwalt nicht nur darum ging, Annas Unschuld zu beweisen und sie vor der Todesstrafe zu bewahren. Thomasius, der heute als Wegbereiter der Frühaufklärung in Deutschland gilt, wollte die in den 1680er Jahren noch vorherrschenden mittelalterlichen Strukturen aufbrechen, für frischen Wind in Leipzig sorgen und Reformen durchsetzen. Besonders die miserable Verfassung des Gerichtswesens war ihm ein Dorn im Auge. Obwohl er großen Mächten gegenüberstand, scheute er sich nicht, die gesellschaftlichen Institutionen aufzurütteln und wissenschaftliche Neuerungen voranzutreiben, doch die Welt um Thomasius schien zu träge für sein Tempo und wehrte sich gegen Veränderungen und Umbrüche.

Renberg erzählt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei erfahre ich gefühlt einfach alles über jede einzelne der handelnden Personen. Eine wahre Flut an Details. Auch viele Anmerkungen und Erläuterungen, die mit der eigentlichen Handlung und dem Gerichtprozess wenig bis gar nichts zu tun haben. Aber es sind gerade diese Nebensächlichkeiten und zusätzlichen Einblicke in die Historie, die mir die Möglichkeit gegeben haben, mich tief in die barocke Welt einzufühlen. Die damalige Stimmung zu spüren. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Renberg jede Kleinigkeit recherchiert hat, damit jede einzelne Szene historisch korrekt dargestellt wird.

Obwohl das Buch anders war, als ich es erwartet hatte, bleibe ich nach dem Lesen fasziniert zurück. Es war für mich äußerst spannend, das Miteinander und Gegeneinander an der Schwelle zu einer neuen Zeit zu beobachten und habe es als sehr gut gelungen empfunden, wie Renberg das Gerangel zwischen denen, die am Althergebrachten festhalten und denen, die Neuerungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen die Tür öffnen wollten, dargestellt hat.

Es gibt eine Kleinigkeit, die mir nicht gefallen hat - statt eines gewohnten Anhanges am Ende des Buches, wird hier ein Link zum Download bereitgestellt. Ein kurzer Blick auf eine Karte oder mal eben eine Info zu den historischen Persönlichkeiten nachschlagen ist damit nicht möglich. Kein Beinbruch, dennoch hat es mich gestört.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.10.2024
Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel / Heißmangel-Krimi Bd.3
Franke, Christiane;Kuhnert, Cornelia

Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel / Heißmangel-Krimi Bd.3


ausgezeichnet

Leer, 1958. Ein fröhliches Versteckspiel im Garten des Kindererholungsheimes in der Evenburg endet für den kleinen Holger schlagartig, als er hinter einen Gebüsch die zusammengekrümmte Leiche des Leiters des Heimes entdeckt. Schnell steht fest, dass Dr. Hartnagel an einer Zyankalivergiftung gestorben ist. Was auf den ersten Blick wie ein Suizid aussieht, erweist sich allerdings schon bald als ausgeklügelter Mord.

Als die ersten Hinweise durchblicken lassen, dass Doktor Hartnagel nicht der ehrenwerte Mann gewesen ist, für den ihn alle gehalten haben, will Kommissar Onnen den Fall möglichst schnell zu den Akten legen, um das Ansehen des Arztes zu wahren. Im Gegensatz zu seinem Chef sieht Polizeiwachtmeister Hans Frisch einige Ungereimtheiten. Er will gute Ermittlungsarbeit leisten, wird aber von Onnen ausgebremst. Unterstützt wird Hans dagegen von seiner Großtante Martha und deren Enkelin Annemieke. Durch aufmerksames Zuhören und genaues Hinschauen können die beiden Hobbyermittlerinnen wertvolle Tipps zur Lösung des Falls beisteuern.

„Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel“ ist bereits der dritte Band rund um die Heißmangel-Betreiberin Martha Frisch - der Krimi ist aber auch ohne Kenntnis der vorherigen Bände bestens verständlich.

Christiane Franke und Cornelia Kuhnert haben ein ausgesprochen gutes Händchen dafür, die 1950er Jahre vor den Augen des Lesers lebendig werden zu lassen und verstehen es ganz ausgezeichnet, ihr Personal authentisch und lebensnah zu präsentieren. Es hat mir auch in diesem Band wieder ausnehmend gut gefallen, wie das Leben, der Alltag und ganz besonders die Polizeiarbeit in einer Kleinstadt zur damaligen Zeit dargestellt werden. Man fühlt sich mitgenommen in eine Welt, in der von der NS-Ideologie geprägte Strukturen noch nicht verdrängt wurden, freiheitliches Denken aber schon auf dem Vormarsch ist.

Der verzwickte Kriminalfall mit den spannenden Ermittlungen steht natürlich im Mittelpunkt des Krimis. Falsche Fährten, mehrere Verdächtige, brisante Hintergründe und weitere Morde halten nicht nur die Handlung lebendig, sondern haben mich auch prima über das Motiv und die Identität des Täters miträtseln und mitgrübeln lassen.

Darüber hinaus warten die Autorinnen mit einem dunklen Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte auf: es geht um das sehr ergreifende Thema Kinderverschickung. Unzählige Kinder wurden besonders in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zum Aufpäppeln in Kindererholungsheime verschickt. Diese Heime waren allerdings vielfach nicht das, was sie vorgaben zu sein, sondern Orte des Schreckens. Die Kinder wurden systematisch gedemütigt, misshandelt, oft sogar missbraucht und erlebten statt Erholung und Genesung häufig einfach nur pures Leid.

„Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel“ hat mir sehr gut gefallen - ein aufwühlender Krimi, der mit authentischen Figuren und einer spannenden Handlung punkten kann.

Bewertung vom 01.10.2024
Gras drüber
Heinrichs, Kathrin

Gras drüber


ausgezeichnet

„Gras drüber“ beinhaltet 15 ganz unterschiedliche Kurzkrimis. Die Geschichten sind sowohl im idyllischen Sauerland wie auch in anderen eher ländlichen Regionen angesiedelt, also fernab von irgendwelchen Kriminalitäts-Hotspots. Den Leser erwarten daher auch keine actionreichen Verfolgungsjagden, sondern ganz normale Alltagssituationen und Leute wie du und ich, deren Leben - mal geplant, mal spontan, mal ganz unbeabsichtigt - in eine mörderische Richtung abdriftet.

Es geht in diesen Krimis nicht darum zu ermitteln, wer ein Verbrechen begangen hat. Es ist sogar meist schnell auszumachen, wer der Täter und wer das Opfer ist. Für Spannung und Unterhaltung sorgen hier das Drumherum und vor allen Dingen die Fragen, warum jemand einen Mitmenschen aus dem Weg räumen will und wie er es anstellt, unerkannt und damit am Ende straffrei aus der Sache herauszukommen.

Kathrin Heinrichs hat ein gutes Händchen dafür, alltägliche Verstrickungen amüsant darzustellen und versteht es ganz ausgezeichnet, mich schnell mit den jeweiligen Gegebenheiten vertraut zu machen. Ich bin ruckzuck mittendrin im Geschehen und verfolge aus Tätersicht gespannt die verbrecherischen Ereignisse. Die Geschichten sind allesamt kurzweilig, meist humorvoll, manchmal bewegend und ab und an sogar skurril ausgeprägt.

„Gras drüber“ hat mir sehr gut gefallen. Ich habe die abwechslungsreichen Kurzkrimis, deren Figuren und Handlungen wie aus dem Leben gegriffen wirken, mit viel Vergnügen gelesen.

Bewertung vom 14.08.2024
Die Tage des Wals
O'Connor, Elizabeth

Die Tage des Wals


ausgezeichnet

In ihrem Romandebüt „Die Tage des Wals“ nimmt Elizabeth O'Connor den Leser mit in die 1930er Jahre auf eine (fiktive) Insel vor der walisischen Küste. Hier lebt die 18-jährige Manod mit ihrem Vater und ihrer jüngeren Schwester.

Fernab des Festlandes haben die Tage einen ganz eigenen Rhythmus. Die Insel scheint eine isolierte Welt zu sein. Alte Traditionen und ein nüchterner Alltag, der kaum Überraschungen birgt, sondern einen stetigen Ablauf hat, der von den Jahreszeiten bestimmet wird, lassen das Dasein der Fischer und Bauern trostlos wirken. Da wundert es kaum, dass eine aufgeweckte junge Frau wie Manod sich nach Veränderungen sehnt und weg möchte, um woanders ihr Glück zu finden.

Elizabeth O'Connor lässt mich miterleben, was Manod bewegt. Ich sehe die karge Landschaft durch ihre Augen, werde von ihren Erzählungen über das eintönige Inselleben mitgerissen. Manod teilt ihre Tagträume mit mir, ich kann ihren Wunsch nach Veränderung spüren, kann ihre Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit nachvollziehen.

Als eines Tages ein Wal an den Strand gespült wird, kommt Bewegung in die Monotonie. Zwei Wissenschaftler aus Oxford haben in einem Pub auf dem Festland von dem Wal gehört und wollen die Inselwelt und das Leben der Einheimischen erforschen. Manods Hoffnung auf ein anderes Leben als jenes, dass sie auf der Insel erwartet, wird durch die Ankunft der Engländer befeuert. Eifrig unterstützt sie Joan und Edward bei deren Forschungen, arbeitet als Assistentin und Übersetzerin für die beiden und malt sich dabei aus, wie es wäre, selbst auf dem Festland zu studieren.

Es hat mir besonders gut gefallen, wie Elizabeth O'Connor die innere Zerrissenheit ihrer Protagonistin darstellt. Bei allem, was sie über die Insel und ihre Bewohner erzählt, spürt man die Liebe und Verbundenheit zu ihrer Familie und ihrer Heimat. Gleichzeitig ist sie bereit, alles dafür zu tun, um dem Inselleben den Rücken zu kehren, ihren Träumen zu folgen und sich eine eigene Zukunft aufzubauen.

Der Roman besteht aus vielen kurzen bis sehr kurzen, manchmal nicht mal eine Seite füllenden Kapiteln. Die Autorin erzählt ohne Schmuck und Beiwerk, sondern konzentriert sich kurz und knapp auf die Dinge, die sie sagen möchte - ich mag es eigentlich sehr, wenn eine Geschichte etwas ausschweifender erzählt wird, doch obwohl es hier an schmückendem Drumherum fehlt, hat mich die Geschichte gepackt. Sie berührt gerade durch die Kürze. Das karge, abwechslungslose Leben der Inselbewohner wird durch diesen Schreibstil ganz besonders hervorgehoben.

„Die Tage des Wals“ hat mir sehr gut gefallen - eine mitreißende Geschichte über eine junge Frau, die mutig ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen will. Der Roman punktet mit einem stimmigen Zeit- und Lokalkolorit. Vor allen Dingen die schwierigen Lebensbedingungen und der monotone Alltag auf einer walisischen Insel kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs werden sehr überzeugend dargestellt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.