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Christina19

Bewertungen

Insgesamt 71 Bewertungen
Bewertung vom 13.02.2025
Flusslinien
Hagena, Katharina

Flusslinien


sehr gut

Eine lebensnahe Geschichte mit ruhiger Erzählstimme

Margrit lebt in einer Seniorenresidenz an der Elbe. Mit ihren über 100 Jahren hat sie ein bewegtes Leben hinter sich, wobei vor allem ihre Mutter und deren Bekanntschaften sie auch im hohen Alter noch beschäftigen. Täglich lässt sich Margrit von ihrem Fahrer Arthur in den Römischen Garten bringen. Dort findet sie die Ruhe, um sich auf all ihre Erinnerungen zurückzubesinnen.
Regelmäßig erhält Margrit Besuch von ihrer Enkeltochter Luzie. Die hat vor Kurzem die Schule abgebrochen und ist von einer für ihre Großmutter unergründlichen Wut erfüllt.
Dann gibt es da noch Arthur, der seit Kurzem als Fahrer in der Seniorenresidenz tätig ist. Arthur ist oft in Gedanken, denn nach einem tragischen Vorfall kämpft er noch immer mit Schuldgefühlen.

„Flusslinien“ nimmt uns mit nach Hamburg. Dank einer durchweg ruhigen Erzählstimme lernt man mit Margrit, Luzie und Arthur die Protagonisten des Romans kennen. Durch häufige Rückblenden taucht man tief in deren Leben ein. So erfährt man von ihren Ängsten, Sorgen und Nöten. Während Margrit ihre erste Lebenshälfte reflektiert und Erinnerungslücken zu schließen versucht, sind es im Fall von Luzie und Arthur kürzliche Geschehnisse, die ihr Leben bis in die Gegenwart prägen. Die beiden Jüngeren lernen allmählich, ihre Schicksalsschläge zu verarbeiten und loszulassen, haben aber in meinen Augen noch einen weiten Weg vor sich.
Alle Figuren sind nach meiner Meinung authentisch gezeichnet. Stellvertretend stehen sie jeweils für eine Generation, die eine eigene Sicht auf die Welt mit sich bringt und mit ihren eigenen Problemen fertig werden muss. Dabei klingen die Themen Altern, Schuld und Reue, die Verarbeitung von Traumata sowie die seelische Heilung genauso an wie Naturschutz und der Kampf gegen patriarchale Strukturen. Entsprechend durchlebt man mit Margrit, Luzie und Arthur eine Vielzahl von Emotionen, darunter Sanftheit und Güte, Trauer und Schuld sowie Zorn und Mut.
Obwohl ich die Erzählweise sehr mochte, hat mich die Geschichte zwischenzeitlich immer wieder verloren, da ich einzelne Passagen als zu langatmig empfand. Das Ende des Romans war in Teilen erwartbar. Da manches offenblieb, hat mich das Buch ein wenig unzufrieden zurückgelassen.

Bewertung vom 08.02.2025
Der Wolfspelz
Sharp, Sid

Der Wolfspelz


ausgezeichnet

Inhaltlich und künstlerisch wertvoll

Bellwidder Rückwelzer liebt den Wald. Gerne hört er den Vögeln zu, riecht an Blumen und sammelt Brombeeren. Eines Tages vernimmt er das Heulen von Wölfen. Bellwidder, seines Zeichens ein Schaf, bekommt große Angst, gefressen zu werden und traut sich fortan kaum mehr vor die Tür – bis er beim Nähen einen Einfall hat: Er fertigt sich einen Wolfspelz an und begibt sich damit unter die Wölfe des Waldes. Doch schon bald stellt Bellwidder fest, dass nicht alles ist, wie es scheint….

Die Illustratorin Sid Sharp stammt aus Kanada und hat mit „Der Wolfspelz“ ihr erstes Bilderbuch veröffentlicht. Dieses sticht durch seine Gestaltung unter anderen Kinderbüchern hervor, denn die Geschichte darin ist im Stil einer Graphic Novel verpackt. Kurze Sätze und viel wörtliche Rede in Sprechblasen machen den Text lebendig und regen Kinder zum eigenen Erlesen der Geschichte an. Sid Sharps Bilder zeichnen sich durch kräftige, oft dunkle Farben aus und wirken dadurch mitunter recht düster. Mit vielen Details gelingt es ihr jedoch, die schaurige Atmosphäre aufzulockern, sodass es ein Vergnügen ist, das Buch zu lesen und alle Darstellungen zu entdecken.
Auch inhaltlich hat die Geschichte einen großen Mehrwert zu bieten: Sie führt uns kindgerecht vor Augen, dass es unvernünftig ist, die eigene Persönlichkeit zu verbergen und sich seinen Mitmenschen gegenüber zu verstellen. Oft steckt, wie in Bellwidders Fall, Angst dahinter. Während das Schaf in Sorge davor ist, gefressen zu werden, ist es bei uns Menschen häufig die Angst vor Ablehnung, die zur Anpassung führt. Die Lösung scheint zunächst einfach: Man schneidert sich einen Anzug, der augenscheinlich Sicherheit bietet, am Ende aber doch nicht richtig passt. Das bedeutet in der Folge, sich ein Stück weit selbst aufzugeben und macht somit nicht dauerhaft glücklich. Bellwidder beispielsweise kann in seinem Wolfspelz weder die Vögel, die er so gerne mag, hören noch die duftenden Blumen riechen. Sein Lügenkonstrukt aufrechtzuerhalten, ist für das Tier in der Geschichte wie auch für uns Menschen zudem eine große Last – zumal keine noch so gute Maskerade ewig währt. „Der Wolfspelz“ zeigt uns, dass wahre Freundschaften nur dann entstehen können, wenn man sich seinen Mitmenschen gegenüber öffnet und ihnen vertraut.
Eine wichtige Botschaft, die in einer für mich neuen Art der Gestaltung vermittelt wird: Kein Wunder also, dass „Der Wolfspelz“ im letzten Jahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war!

Bewertung vom 26.01.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

Eine ebenso skurrile wie meisterhaft konstruierte Geschichte

Franz Escher hat einen Wackelkontakt. Die Steckdose in seiner Küche soll daher endlich repariert werden. Während er auf den Elektriker wartet, setzt er nicht nur ein Puzzle zusammen, sondern liest auch noch in einem Buch. Die Hauptfigur darin: Elio, der als Mafia-Kronzeuge in einem italienischen Gefängnis einsitzt.
Währenddessen liest der echte Elio in seiner Zelle ein Buch. Hierin wiederum geht es um einen gewissen Escher, der wegen einer defekten Steckdose auf das Klingeln des Elektrikers wartet…

Was in der Inhaltszusammenfassung nach einem skurrilen Zufall klingt, entpuppt sich bald als geschickt konstruiertes Meisterwerk: Mit „Wackelkontakt“ hat Wolf Haas einen Roman verfasst, der von Beginn an einen solchen Sog entwickelt, dass ich das Buch kaum mehr aus der Hand legen wollte. Darin lernen wir unter anderem Franz Escher kennen, dessen Name sicherlich an den niederländischen Illusionskünstler M. C. Escher angelehnt ist. Der Protagonist ist ein Sonderling durch und durch, er arbeitet als Trauerredner, liebt Puzzle, ist im Bereich der Kunst sehr bewandert und verhält sich bei sozialen Interaktionen oft befremdlich. Eine weitere wichtige Rolle in der Geschichte kommt außerdem Elio zu, der als Kronzeuge im Zeugenschutzprogramm ein rasantes Leben mit unvorhersehbaren Wendungen führt.
Beide Figuren sind Teil von zwei scheinbar getrennten Erzählsträngen. Lediglich das Buch, das sie über den jeweils anderen lesen, verbindet sie anfangs miteinander. Wolf Haas nutzt diesen Twist, um auf gelungene Art und Weise immer wieder Szenenwechsel herbeizuführen. Während des Lesens setzen sich die einzelnen Fragmente schließlich wie Puzzleteile Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammen: Escher, der die Geschichte seines Buches zunächst für fiktiv hält, erkennt nicht nur, dass diese real ist, sondern begreift sich irgendwann auch als Teil des Ganzen. Dies gibt Wolf Haas‘ Roman eine ganze neue Ebene. Der Autor spielt mit den Grenzen zwischen Realität und Fiktion und erzeugt damit wiederkehrend Illusionen.
Sehr gemocht habe ich neben dem raffinierten Aufbau der Geschichte auch den Schreibstil. Haas‘ Sprachwitz hat mich gut unterhalten und dazu beigetragen, dass ich das Buch als sehr kurzweilig empfunden habe.
Kennt man M. C. Eschers Figuren, die auf optischen Täuschungen basieren und daher unmöglich sind, so wirkt „Wackelkontakt“ wie das literarische Pendant dazu – gleichermaßen bizarr und gerade deshalb absolut faszinierend!

Bewertung vom 25.01.2025
9 kleine Menschen
Feldmann, Regina

9 kleine Menschen


sehr gut

Die Vielfalt der Menschen in Kinderreimen

Regina Feldmann stellt uns in „9 kleine Menschen“ zusammen mit Martina Stuhlberger neun Kinder vor, die wir von der Geburt an in ihren ersten Lebensjahren begleiten. Dabei können wir in Bild und Text die Entwicklung der Mädchen und Jungen verfolgen und sehen, wie sie zu guten Freunden zusammenwachsen.

„9 kleine Menschen“ wurde, wie wir im Nachwort erfahren, durch das bekannte Kinderlied „10 kleine …“ inspiriert. Regina Feldmann schreibt dazu, dass dieser Fingerabzählreim heute vor allem negative Erinnerungen in ihr weckt, da er einerseits schwarze und indigene Menschen diskriminiert, andererseits auch Kinder mit besonderen Merkmalen nicht mitdenkt. Es war ihr daher ein wichtiges Anliegen, eine neue Version zu schaffen, die alle Kinder inkludiert. In Kombination mit den Zeichnungen von Martina Stuhlberger ist ihr das in meinen Augen mit diesem Buch gelungen.
Auf insgesamt 40 Seiten kann man Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft entdecken: Wir sehen verschiedene Hautfarben, Haarfarben, Haarstrukturen usw. Bei näherer Betrachtung verbirgt sich in den Bildern aber noch viel mehr: Die Kinder leben nämlich in unterschiedlichen Familienmodellen, darunter Familien mit Mutter und Vater ebenso wie alleinerziehende Mütter, Familien mit nur einem sowie solche mit mehreren Kindern. Darüber hinaus finden auch Mädchen und Jungen mit körperlichen Beeinträchtigungen wie einem amputierten Körperteil oder einer Sehschwäche/Blindheit Eingang in die Geschichte. Kurzum: Diversität wird in diesem Bilderbuch großgeschrieben, was mir ausgesprochen gut gefällt.
Der von Regina Feldmann verfasste Text ist in kurzen Sätzen formuliert und wartet mit Reimen auf, sodass er zum Nachsprechen anregt. Die Illustrationen zeichnen sich durch eine besondere Farbgebung in Orange-, Grün- und Fliedertönen aus, was sie sehr modern wirken lässt. Obwohl von Verlagsseite ein Alter von vier Jahren angegeben ist, halte ich das Buch auch schon für zwei- bis dreijährige Kinder für geeignet.
„9 kleine Menschen“ ist eine zeitgemäße Version eines längst überholten Abzählreimes, die die Vielfalt der Menschen hochleben lässt. Indem sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede anklingen, vermittelt das Buch Toleranz und lehrt uns, dass Freundschaften über alle Grenzen hinweg möglich sind.

Bewertung vom 11.01.2025
Für immer
Lunde, Maja

Für immer


ausgezeichnet

Vor allem das Ende hat mich überrascht!

Als an einem Tag Anfang Juni die Zeit stehen bleibt, ist nichts mehr, wie es zuvor war: Babys und Kinder wachsen nicht mehr, Senioren sterben nicht mehr. Schnell stellen die Menschen fest, dass sie aus der Zeit gefallen sind, während die Natur um sie herum jedoch wächst und gedeiht wie bisher.
Jenny nutzt die ihr geschenkte Zeit, um ihrer Berufung als Fotografin nachzugehen. Die Rentnerin Margo erlebt einen neuen Frühling und möchte noch einmal verreisen. Jakob, dessen Freundin gerade schwanger ist, macht sich dagegen Sorgen, welchen Einfluss die Situation auf ihr ungeborenes Kind hat. Mehr und mehr besorgt es die Menschen, was den Stillstand verursacht hat und so versuchen sie, ihr altes Leben zurückzugewinnen.

Mit „Für immer“ ist Maja Lunde ein ganz besonderer Roman gelungen. Sie erzählt darin die Geschichten mehrerer Menschen, die offenbar aus dem Lauf der Zeit gefallen sind. Zunächst scheinen die einzelnen Erzählstränge unabhängig voneinander zu sein, werden jedoch allmählich zart miteinander verknüpft.
Inhaltlich hat der Roman in mir viele Erinnerungen an den Ausnahmezustand in der Corona-Pandemie geweckt – zumal auch Andersdenkende mit ihren „alternativen Wahrheiten“ Eingang in die Geschichte finden. Gleichzeitig habe ich einige Parallelen zu Maja Lundes Klimaquartett gesehen, da auch in „Für immer“ ein Appell zum Schutz unserer Umwelt anklingt. Ich war während des Lesens dadurch die meiste Zeit der Annahme, ein weiteres Werk vor mir zu haben, dass uns in dystopischer Art und Weise verdeutlichen soll, was der Menschheit droht, wenn wir unser Verhalten auf diesem Planeten nicht ändern. Damit war ich allerdings sprichwörtlich auf dem Holzweg unterwegs. Erst das Ende des Romans, das ich so nicht erwartet hatte, hat mir die Kernaussage der Geschichte verdeutlicht und mir damit einen richtigen Aha-Moment beschert.
Vielmehr als ein Umwelt-Appell ist „Für immer“ ein Buch über Zeit, insbesondere unsere Lebenszeit: Wie nutzen wir sie? Mit wem verbringen wir sie? Da der Verfall unseres Körpers stetig voranschreitet und wir Sekunde für Sekunde, Minute für Minute ein wenig sterben (S. 305), müssen wir irgendwann auch dem Tod ins Auge blicken. Doch was bleibt von uns, wenn wir nicht mehr sind? Ernste Themen, die Maja Lunde hier aufgreift und auf gelungene Art und Weise verpackt. Daher eine unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 22.11.2024
Das kleine Café der zweiten Chancen
Ota, Shiori

Das kleine Café der zweiten Chancen


sehr gut

Klassische japanische Wohlfühlliteratur mit kleinen Schwächen

Nach einem Unfall kehrt Himari aus dem englischen Internat in ihre Heimat Japan zurück. Am Rande eines Parks ihrer Stadt entdeckt sie ein ihr bis dahin unbekanntes, sehr besonderes Café: Hayari und Herr Higure, die das Lokal betreiben, können Menschen helfen, sich von jahrelangen Reuegefühlen zu befreien. Dazu kehren sie mit ihren Gästen an den Punkt in deren Leben zurück, den diese bedauern. Genau 4 Minuten und 33 Sekunden haben diese dann Zeit, einen Fehler zu beheben und damit ihre Zukunft zu ändern.
Himari besucht das Café regelmäßig. Sie schließt dabei nicht nur viele neue Bekanntschaften, sondern begleitet die Menschen auch bei ihren zweiten Chancen und lernt mit ihrem eigenen Schicksal umzugehen.

Shiori Ota erzählt in ihrem Roman in insgesamt vier Kapiteln von Menschen, deren Weg sie auf die eine oder andere Weise ins „Café der zweiten Chancen“ führt. Alle eint die Tatsache, dass sie eine Entscheidung, die sie in der Vergangenheit getroffen haben, bereuen. Während sie den Kaffee zubereiten, eröffnen Hayari und Herr Higure ihren Gästen die Möglichkeit einer kleinen Zeitreise.
Was an dieser Stelle nach einer stetigen Wiederholung des immer gleichen Schemas klingt, liest sich keineswegs eintönig: Die Autorin hat die unterschiedlichsten Figuren und Lebensentwürfe geschaffen, sodass sich die einzelnen Fälle deutlich voneinander unterscheiden. Auch die Art, wie die Figuren jeweils ihre zweite Chance nutzen und welches Schicksal sie in der Folge erwartet, geht weit auseinander.
Die Kapitel werden dank der Rahmenhandlung um Himari zusammengebracht. Ich mochte es sehr gerne, dass die kürzeren Erzählstränge dadurch in einen größeren Kontext gebracht werden. Das Ende des Romans kam für mich etwas überraschend und erscheint mir nach dem zuvor Erzählten ein wenig inkonsequent.
Die Geschichte ist ruhig erzählt und schafft eine sanfte Atmosphäre, die gut zum Inhalt passt. Die Ausdrucksweise hat dieses Gefühl an den meisten Stellen unterstrichen. Aufgefallen ist mir einzig die direkte Rede von Himari. Als Mittelschülerin ist sie etwa 12-14 Jahre alt, weshalb ich die Wortwahl in ihrem Fall an der einen oder anderen Stelle als etwas hochtrabend empfunden habe.
Trotz kleiner Schwächen habe ich „Das kleine Café der zweiten Chancen“ sehr gerne gelesen und kann es insbesondere Liebhabern japanische Wohlfühlliteratur empfehlen!

Bewertung vom 27.10.2024
Wohnverwandtschaften
Bogdan, Isabel

Wohnverwandtschaften


ausgezeichnet

Wenn aus Fremden eine Familie wird

Nachdem sie sich von ihrem Lebensgefährten getrennt hat, sucht Constanze in Hamburg eine neue Bleibe. Sie kommt in einer WG unter, in der sie Jörg, Murat und Anke kennenlernt. Was zunächst als Übergangslösung gedacht ist, entpuppt sich als absoluter Glücksgriff. Obwohl die vier nicht unterschiedlicher sein könnten, wachsen sie zu einer Gemeinschaft zusammen, die stets füreinander da ist.

Mit „Wohnverwandtschaften“ hat Isabel Bogdan einen absolut lesenswerten Roman über eine besondere Wohngemeinschaft geschrieben. Die Figuren wirken zunächst wie eine bunt zusammengewürfelte Truppe: Da ist Constanze, die als Zahnärztin arbeitet, Anke, die als Schauspielerin mittleren Alters kaum mehr Rollen bekommt, Murat, der bei der Gartenarbeit und beim Kochen so richtig aufblüht, und Jörg, der mittlerweile Rentner und schon länger verwitwet ist. Alle stehen sie also an unterschiedlichen Punkten ihres Lebens und haben jeder für sich ihre ganz eigenen Probleme und Sorgen. Diese kann man dank der Erzählweise hautnah miterleben: Das Buch ist in kurze Kapitel gegliedert, die aus wechselnden Perspektiven erzählt sind. Während man anfangs beispielsweise Einblick in die Gedanken von Constanze erhält, schlüpft man schon kurze Zeit später in das Seelenleben von Jörg. Die Handlung wird somit aus Sicht aller vier WG-Mitglieder geschildert, sodass ich mich beim Lesen mit allen Figuren sehr vertraut gefühlt habe. Außergewöhnlich fand ich eingeschobene Kapitel, die wie Szenen aus einem Theaterstück anmuten. Diese bestehen fast ausschließlich aus wörtlicher Rede. Entsprechend nimmt man als Leser nicht die Perspektive einer der Figuren ein, sondern steht förmlich außerhalb des Geschehens und beobachtet dieses. Ich mag die Erzählweise von „Wohnverwandtschaften“ total gerne, da sie das Lesen sehr abwechslungsreich macht.
Inhaltlich beginnt der Roman sehr humorvoll und hat mich an der einen oder anderen Stelle schmunzeln lassen. Die Geschichte verläuft jedoch nach und nach in eine Richtung, die ich so nicht erwartet hatte. Die Themen, die im Roman anklingen, werden mit zunehmender Seitenzahl nämlich ernster. Während Murat, Anke, Constanze und Jörg aufeinander Acht geben und sich um jeden Einzelnen kümmern und sorgen, stellen sie fest, dass sie doch längst mehr sind als eine reine Zweck-WG.
Unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 19.10.2024
Die Geschichte vom zauberbunten Garten
Rübben, Andrea

Die Geschichte vom zauberbunten Garten


ausgezeichnet

Wahrlich zauberhafte Illustrationen

In einer großen grauen Stadt lebt eine alte Frau. Sie pflegt dort einen üppigen, bunten Garten. Eines Tages beginnt sie, ihre farbenfrohen Blumen zu verschenken. Mit dem Postboten, der Friseurin, dem Schuljungen und weiteren Menschen verbreiten sich die Farben und es zieht Leben in die Stadt ein.

„Die Geschichte vom zauberbunten Garten“ stammt aus der Feder von Andrea Rübben. Sie beginnt mit „Es war einmal…“ und mutet nicht allein dadurch wie ein modernes Märchen an. Andrea Rübben entführt ihre Leser/innen und Zuhörer/innen in eine dunkle Stadt und einen zauberhaften, geradezu magischen Garten. Mit leicht verständlichen Sätzen eignet sich ihre kurze Geschichte auch schon für junge Kinder.
Stella Dreis hat dem Buch die passenden Illustrationen beigesteuert. Mit ihrem unverwechselbaren Stil schafft die preisgekrönte Illustratorin die unterschiedlichsten Orte und Stimmungen: Wir sehen die Stadt, die im grauen Nebelschleier verschwimmt und den Garten, der wie eine Oase in der großen Wüste wirkt. Besonders gelungen ist der zarte Einzug der Farben in die Welt. Zuerst breiten sie sich ganz vorsichtig aus, ehe sie das Grau vollends überdecken. Die Farben in Stella Dreis‘ Bildern kommen durch den weißen Rand, der diese umgibt, besonders zur Geltung. Ich habe diese Art der Gestaltung so in noch keinem anderen Bilderbuch sehen können, finde sie aber genau passend für dieses wahrlich bezaubernde Buch.
„Die Geschichte vom zauberbunten Garten“ zeigt, dass auch kleine Gesten Großes bewirken können. Sie regt dazu an, selbst Gutes zu tun und an die Kraft der eigenen Taten zu glauben, ganz nach Mahatma Gandhi: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“

Bewertung vom 07.10.2024
La Louisiane
Malye, Julia

La Louisiane


gut

Kolonialisierung, Sklaverei und starke Frauen

Als die „La Baleine“ Frankreich im Jahr 1720 in Richtung Louisiane verlässt, befinden sich 90 Frauen an Bord. Sie wurden unter den Bewohnern und Gefangenen einer psychiatrischen Anstalt in Paris ausgewählt, um den Aufbau einer französischen Kolonie in Amerika zu unterstützen. Unter ihnen sind Charlotte, Étiennette, Pétronille und Geneviève. Während die Siedler versuchen, die Wildnis in dem fremden Land zu zähmen, bauen sich ihre Frauen auf dem neuen Kontinent unter widrigen Bedingungen ein neues Leben auf.

„La Louisiane“ ist mit all den Themen, die darin anklingen, ein sehr vielschichtiger Roman. Er berichtet von der Kolonialisierung und der damit einhergehenden Ungerechtigkeit, die die indigene Bevölkerung Nordamerikas erfahren hat. Neben der Besetzung und Aneignung großer Landflächen, die die Ureinwohner hinnehmen mussten, fanden sie sich auch mehrfach in gewaltsamen Auseinandersetzungen wieder. „La Louisiane“ gewährt außerdem einen Einblick in die Anfänge der Sklaverei und die Bedingungen, unter denen die afrikanischstämmigen Menschen arbeiten mussten. Vor allem aber berichtet Julia Malye von Frauen, ihren Aufgaben und ihrer Stellung in einer männlich geprägten Welt. Sie schreibt darüber, wie sie sich den Gegebenheiten ihrer Zeit oft unterordnen mussten, sich teils aber auch dagegen auflehnten, sich kleine und größere Freiheiten erkämpften, Homosexualität erkundeten und sich und ihre Familie selbst durchbrachten. Julia Malye erzählt von starken Persönlichkeiten im 18. Jahrhundert, die wir auf über 500 Seiten näher kennenlernen:
Die Französinnen Charlotte, Étiennette, Pétronille und Geneviève waren aus teils fragwürdigen Gründen in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht und wurden von dort gegen ihren Willen nach Louisiane verschifft. In drei Abschnitten lässt uns die Autorin in ihrem Roman an den Leben dieser Frauen teilhaben. Jeder Leseabschnitt ist dabei wiederum in mehrere Kapitel gegliedert, in denen jeweils eine der Frauen im Mittelpunkt steht. Durch diesen stetigen Wechsel der Perspektive ist man nah dran am Leben aller Protagonistinnen. Ich mochte das sehr gerne, zumal es das Lesen abwechslungsreich machte. Die Kapitel bringen außerdem fortlaufend Zeitsprünge mit sich. Manchmal sind es einige Monate, manchmal mehrere Jahre, die zwischen ihnen liegen. Dadurch ist es möglich, Charlotte, Étiennette, Pétronille und Geneviève über einen längeren Zeitraum zu begleiten. Während der insgesamt 15 Jahre, die in der Geschichte beschrieben werden, ändert sich das Leben der Frauen grundlegend. Dem ersten Drittel des Buches konnte ich leicht folgen, doch vor allem im zweiten und dritten Abschnitt gibt es zahlreiche unvorhergesehene Ereignisse sowie viele Nebenfiguren. Dadurch hatte ich ab und an Mühe, den Überblick über die Geschehnisse und Zusammenhänge zu behalten.
Während die Hauptfiguren von der Autorin erdacht sind, liegen der Geschichte doch auch einige wahre Begebenheiten zugrunde. Die Anstalt „La Salpêtrière“ beispielsweise gab es tatsächlich und sie existiert bis heute als Krankenhaus in Paris. Die Überführung einiger Frauen auf einen fremden Kontinent ist ebenso wahr wie einige der Ereignisse, die in Louisiane geschildert werden. Diese Tatsache macht das Schicksal der (wenn auch fiktiven) Frauen noch ergreifender!
Empfehlenswert für Liebhaber historischer Romane.

Bewertung vom 02.10.2024
Mukiza
Jaenicke, Hannes

Mukiza


sehr gut

Bedrohte Tierarten müssen geschützt werden!

Mukiza, das kleine Berggorillababy, erblickt eines Nachts im Bwindi Nationalpark in Uganda das Licht der Welt. Es ist Teil einer größeren Gruppe Berggorillas, zu denen auch seine Mutter Mugwere und sein Vater Zeus zählen. Mukiza wächst zunächst ganz unbekümmert auf. Er spielt mit seinen Gefährten, wird immer mutiger und lernt schnell. Als er eines Tages auf Menschen trifft, bleibt die Begegnung nicht ohne Folgen. Auch in seiner Gruppe gibt es bald Tumulte, sodass Mukiza, mittlerweile ein ausgewachsener Silberrücken, sich behaupten muss.

Hannes Jaenicke schreibt in „Mukiza“ über das Leben eines Berggorillas. Das Tier gibt es tatsächlich und Teile der Geschichte sind ebenso passiert. Umso beeindruckender – an manchen Stellen aber auch umso trauriger – ist das, was der Schauspieler, Umweltschützer und Autor hier schildert:
Wir lernen das Leben dieser besonderen Tiere kennen und erfahren, wie sie in Gruppen zusammenleben, voneinander lernen und sich als Anführer durchsetzen. Gleichzeitig sehen wir aber auch, welchen Gefahren diese sowieso schon bedrohte Tierart ausgesetzt ist. Der Mensch zerstört nicht nur den Lebensraum der Berggorillas, sondern sorgt mit Fallen immer wieder auch dafür, dass sich Tiere verletzen und schlimmstenfalls verenden.
Die Geschichte wird unterstrichen von Illustrationen, die durchweg großformatig gestaltet sind. Diese stellen den Regenwald atmosphärisch dar und zeigen gekonnt die Gemeinschaft der Berggorillas auf. Besonders die Lichteffekte stechen ins Auge, sei es die Stimmung bei Sonnenuntergang oder die eines Gewitters bei Nacht.
Gut gefällt mit, dass sich der CalmeMara Verlag verpflichtet hat, 1 € pro Buch an die Berggorilla & Regenwald Direkthilfe e. V. zu spenden. Damit leistet man mit jedem Kauf automatisch einen Beitrag zum Schutz dieser besonderen Tiere. Ein schönes Buch, um schon Kinder für den Umwelt- und Tierschutz zu sensibilisieren!