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sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 492 Bewertungen
Bewertung vom 13.12.2024
Zerstört / Grant County Bd.6
Slaughter, Karin

Zerstört / Grant County Bd.6


ausgezeichnet

„Zerstört“, der sechste und letzte Teil von Karin Slaughters „Grant County“-Serie, hat es in sich. Mittendrin dieses Mal: Lena Adams, Polizistin, enfant terrible und bekannt als Magnet für Unheil und Probleme. Das Buch ist der letzte Teil der Serie, der Schluss kommt also ein bisschen wie eine kalte Dusche, wenn man die Charaktere vorher liebgewonnen hat. Ich hatte es vor über zehn Jahren zum ersten Mal gelesen, jetzt in der Neuauflage noch einmal – und ich muss sagen, es gefiel mir dieses Mal noch besser.
Aber von vorn.
Jeffrey Tolliver, Polizeichef von Heartsdale, wird nach Reese im Elawah County gerufen. Seine Kollegin Lena ist in dem Ort aufgewachsen, ihr Onkel Hank lebt noch dort. Jetzt wurde eine weibliche Leiche in einem ausgebrannten Auto gefunden und Lena ist in Polizeigewahrsam. Sie ist gleichzeitig Zeugin und Hauptverdächtige. Dr. Sara Linton, Kinderärztin und Rechtsmedizinerin, hat einen Kunstfehlerprozess am Hals, der sie sehr mitnimmt. Daher nutzt sie die Gelegenheit, ihren Mann Jeffrey nach Reese zu begleiten. Lena schafft es, aus dem Gewahrsam zu verschwinden und taucht unter. Telefonisch fordert sie Jeffrey und Sara mehrfach auf, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Als eine männliche Leiche durch das Fenster in deren Motelzimmers geworfen wird, bekommen die beiden einen Eindruck von der wirklichen Dimension der Kriminalität in Reese. Der tote Mann hat nicht nur ein auffälliges Hakenkreuz-Tattoo am Arm, in seinem Rücken steckt auch noch Lenas Messer. Weiß ihr inzwischen inhaftierter ex-Freund Ethan Green etwas über die Morde? Und was hat das alles mit Lenas Familiengeschichte zu tun?
Es ist eine ganze Menge, die Karin Slaughter da ihrer Leserschaft auftischt. Saras Kunstfehlerprozess, unter dem sie sehr leidet, verkommt da schnell zur Nebensache. Drogen, Gewalt und Rechtsradikale prägen den Handlungsstrang, der in Reese spielt. Und mittendrin befinden sich Lena Adams und ihr Onkel Hank. Die beiden sind die wahren Protagonisten des Buchs. Hank hängt inzwischen wieder an der Nadel und, obwohl es ihr selbst nicht gefällt, sorgt sich Lena um ihn, schließlich hat er sie und ihre Zwillingsschwester Sybil großgezogen. Karin Slaughter baut die beiden Charaktere in allen möglichen Facetten sehr detailreich aus. Lena wird dadurch nicht sympathischer und ihre Handlungen auch kein bisschen logischer. Jeffrey und Sara, inzwischen wieder miteinander verheiratet, haben sich dazu durchgerungen, ein Kind zu adoptieren. Der Rest der Charaktere verkommt allerdings mehr zu Nebenfiguren, eher stereotyp als dreidimensional.
Karin Slaughter erzählt die Geschichte in mehreren Zeitebenen und aus verschiedenen Perspektiven, aus der Sicht von Lena und Jeffrey und Sara. Die Handlung schließt zeitlich sehr nah an den Vorgängerband an und erstreckt sich grob über eine Woche. Man erfährt einiges aus Lenas Vergangenheit und aus der Zeit direkt vor dem ersten Mord. Sprachlich ist das Buch so, wie man es von der Autorin erwartet: brutal, blutig und voller Kraftausdrücke, dieses Mal wird auch ganz gerne mal gezündelt. Wie immer wird geflucht und beleidigt, was das Zeug hält. Der blanke Rassismus, den Slaughter beschreibt, ist sicherlich realistisch und die Verstrickungen und extrem gute Vernetzungen der Beteiligten sind beängstigend realitätsnah. Ich brauchte eine Weile, bis ich mit dem Buch warm war, aber nach ein paar Dutzend Seiten hatte es mich gepackt. Dann fand ich auch den Spannungsbogen zum Teil fast unerträglich hoch und bin nur so durch die Kapitel geflogen. Die Auflösung des Falls war für mich eine Überraschung und das Buch endet mit einem Paukenschlag.
Für mich war „Zerstört“ ein enorm spannender Thriller, den ich Karin-Slaughter-Fans und solchen, die es werden wollen, ans Herz legen möchte. Eventuell sollte man aber die anderen Teile der Serie vorher in der richtigen Reihenfolge lesen, es erleichtert das Verständnis ungemein. Von mir gibt es fünf Sterne.

Bewertung vom 13.12.2024
Küstenwahn
Dobitsch, Sebastian

Küstenwahn


sehr gut

Der Klappentext von Sebastian Dobitschs „Küstenwahn“ hatte mich angesprochen, sonst wäre ich vermutlich nie auf das Buch gestoßen. Eine psychiatrische Anstalt auf einer abgelegenen Insel vor der schottischen Küste, drei verschwundene Mitarbeiter, zwei sehr verschiedene Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen auf die Suche nach den Verschwundenen machen, dazu einige sehr undurchsichtige Personen auf der Insel – das alles klingt sehr verlockend. So ganz konnte der Autor für mich die Erwartung nicht erfüllen, doch im Endeffekt hat das Buch mich positiv überrascht.
Aber von vorn.
Privatdetektiv Liam Hopkins bekommt den Auftrag, drei auf einer abgelegenen Insel verschwundene Menschen zu suchen. Dabei handelt es sich um den Hausmeister, einen Wachmann und eine Ärztin, die alle drei in der psychiatrischen Anstalt arbeiten, die auf Widow Peak beheimatet ist. Der Auftrag kommt Liam sehr gelegen, ist er doch auf der Flucht vor einem Geldeintreiber, der ihm noch dazu die Killerin Sonya auf den Hals gehetzt hat. Damit er sich nicht absetzen kann, fährt sie mit zur Insel. Sie tarnen sich beide als Patienten, schnell stellt sich aber heraus, dass Sonya ein ganz eigenes Motiv hat, die Psychiatriemitarbeiter wiederzufinden: die vermisste Ärztin ist ihre Schwester. Der verschwundene Hausmeister wird nach einer Explosion tot aufgefunden, schnell stellt sich doch heraus, dass er schon ermordet wurde, bevor die Detonation den Funkmast der Insel lahmlegte. Solange Liam und Sonya suchen, verschwimmen die Grenzen – die Jäger werden zu Gejagten und überhaupt – wer ist wer und wer hat welche Ziele in dem seltsamen Spiel? Ein Wettlauf um die Wahrheit und gegen die Zeit beginnt, ein Rennen, das man nur durch Zusammenarbeit und nicht durch Konkurrenz gewinnen kann.
Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um mit dem Buch warm zu werden. Die beiden Protagonisten lagen mir allerdings bis zum Schluss nicht, zugegebenermaßen aber alle anderen Charaktere im Buch auch nicht. Sie sind zwar gut durchdacht und beschrieben und die Tatsache, dass man praktisch bis zum Schluss nicht weiß, wer oder was sie wirklich sind und was sie eigentlich antreibt, machte sie interessant und speziell. Trotzdem konnte ich mich mit ihnen einfach nicht anfreunden. Der Schauplatz des Buchs ist zwar nichts Neues, aber hervorragend gewählt. Der Autor hat die klaustrophobische Atmosphäre hervorragend eingefangen, dazu die alten Gebäude, die raue See und die steilen Klippen sehr gut beschrieben, dass die Fähre die Insel nur einmal im Monat anfährt, war für mich ein Sahnehäubchen. Leider gelingt es ihm nicht hundertprozentig, den Spannungsbogen konstant hoch zu halten, aber über weite Strecken hat das Buch mich vor allem aufgrund der vielen Wendungen gefesselt. Sprachlich fand ich das Buch eher durchschnittlich, aber dem Genre entsprechend.
Insgesamt fand ich „Küstenwahn“ unterhaltsam und eine spannende, eher anspruchslose Lektüre für zwischendurch. Der Schluss passt, mich hat er tatsächlich etwas überrascht. An manchen Stellen der Handlung scheint der Autor sich etwas verrannt zu haben. Um aus manchen chaotischen Situationen wieder herauszukommen, muss er zu einigen Tricks greifen, wodurch die Geschichte an ein paar Stellen schon sehr konstruiert wirkt. Aber er schafft es, alles zu einem stimmigen Ganzen zu verbinden. Die Tatsache, dass man zwischendurch nicht mehr weiß, was die Wahrheit ist und wer zu den Guten und wer zu den Bösen gehört, ist ein gelungener Kniff und Gänsehautfaktor gibt es an einigen Stellen durchaus auch. Von mir gibt es vier Sterne.

Bewertung vom 04.12.2024
Gottlos / Grant County Bd.5
Slaughter, Karin

Gottlos / Grant County Bd.5


sehr gut

„Gottlos“ ist der fünfte Teil von Karin Slaughters „Grant-County“-Reihe um Polizeichef Jeffrey Tolliver und seine ex-Frau/jetzt Lebensgefährtin, die Kinderärztin und Gerichtsmedizinerin Dr. Sara Linton. Ich habe das Buch schon vor vielen Jahren gelesen, jetzt wurde es neu aufgelegt. Wie die Autorin die seelischen Abgründe beschreibt, hatte mich schon damals fasziniert, daher habe ich es mir jetzt noch einmal vorgenommen.
Aber von vorn.
Dr. Sara Linton und Polizeichef Jeffrey Tolliver tragen bei einem Spaziergang im Wald einen Streit über ihre Beziehung aus. Sara vermutet, dass ihr geschiedener Mann/jetzt wieder Lebensgefährte sie wieder betrügt. Während des Streits stolpert Jeffrey und fällt. Der Waldboden unter ihm klingt hohl. Dadurch aufgeschreckt, beginnen die beiden zu graben und finden eine große Kiste – groß genug, dass eine junge Frau drin lebendig vergraben werden konnte. Inzwischen ist sie tot, nach der Obduktion steht fest, dass sie nicht „einfach nur“ erstickt ist, sondern mit Zyankali vergiftet wurde. Abigail, die Tote junge Frau, gehört einer Freikirche an, die ihr Großvater gegründet hat, die bei näherem Hinsehen fast sektenartige Strukturen aufweist. Die Suche nach Verdächtigen gestaltet sich für Jeffrey, seine Kollegen Lena Adams und Frank Wallace schwierig. Wer könnte ein Motiv haben, die streng gläubige junge Frau auf diese grausame Weise zu töten? Während alle mit privaten Problemen zu kämpfen haben (Lena möchte sich aus ihrer Beziehung mit ihrem gewalttätigen Freund Ethan befreien; Jeffrey und Sara sind wieder zusammengezogen und überlegen, noch einmal zu heiraten), stellt sich heraus, dass Abigail nicht die erste war, die da im Wald vergraben wurde. Eine weitere Leiche wird aber nicht gefunden. Als dann aber Abigails Schwester Rebecca ebenfalls verschwindet, läuft den Ermittlern die Zeit davon. Wurde sie ebenfalls vergraben? So oder so müssen sie sie so schnell wie möglich finden.
Wow. Was für Abgründe tun sich in dem Buch auf! Karin Slaughter verknüpft alle Widerwärtigkeiten gekonnt, schreibt wie üblich brutal, schonungslos und in handfester Sprache. Es wird derbe beschimpft, geflucht und gemordet, aber dazwischen gibt es immer mal wieder ein paar Bibelverse fürs Seelenheil. Ich hatte „Gottlos“ vor einigen Jahren im Original zum ersten Mal gelesen, aber auch bei diesem Mal bin ich durch das Buch geflogen. Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt und die Ermittlungen bringen einige Wendungen. Obwohl der Schluss mich nicht ganz überrascht hat, war es für mich ein spannender Thriller. Der Spannungsbogen mäandert ein bisschen vor sich hin, die Ausflüge ins Privatleben der Protagonisten nehmen manchmal sehr viel Tempo aus der Geschichte und zerreden die Spannung ein bisschen. Außerdem ist die Geschichte zum Teil auf Zufällen aufgebaut, die so konstruiert sind, dass ich manchmal den Kopf schütteln musste. Tessa (Saras Schwester, die mir seit ihrem ersten Auftreten auf die Nerven geht) geht ausgerechnet in die Freikirche, die mit der toten jungen Frau zusammenhängt? Und alle sind irgendwie mit allen verwandt? Naja, so etwas zu konstruieren muss man erst einmal hinbekommen.
Die Protagonisten waren mir bekannt, die Entwicklung aller ist nachvollziehbar. Dass Sara und Jeffrey wieder zusammenkommen, war ja schon seit dem Vorgängerband „Schattenblume“ klar, an den dieses Buch zeitlich sehr nah anschließt. Die toxische Beziehung zwischen Ethan und Lena bereitete mir persönlich fast körperliche Schmerzen, vor allem, dass sie nicht von ihm loskommt.
Das Buch ist nichts für schwache Nerven und empfindliche Mägen, ich empfehle es daher natürlich allen Fans der Serie. Neulingen empfehle ich, die vorherigen Bücher in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Natürlich kann man das Buch auch ohne Vorkenntnisse verstehen, sie machen aber vieles leichter. Es ist sicher nicht Karin Slaughters bestes Buch, dafür gibt es zu viel „unnötiges Geplänkel“ und zu viele Längen. Von mir gibt es daher vier Sterne.

Bewertung vom 04.12.2024
Der letzte Sessellift (eBook, ePUB)
Irving, John

Der letzte Sessellift (eBook, ePUB)


sehr gut

„Der letzte Sessellift“ ist der 2023 erschienene 15. Roman von John Irving, der seit seinem Veröffentlichungstermin bei mir lag und darauf wartete, dass ich ihn doch endlich lesen möge. Abgeschreckt von den fast 1100 Seiten verschob ich die Lektüre immer wieder. Dabei war ich ein großer Fan des Autors, habe „Garp und wie er die Welt sah“, „Owen Meany“ und Gottes Werk und Teufels Beitrag“ mit Begeisterung gelesen. Und nach einigen Anfangsschwierigkeiten muss ich über „Der letzte Sessellift“ eines ganz klar sagen: es ist ein großer (und sehr langer) Roman und ein „typischer Irving“. Mich lässt der „letzte große Irving“ ein bisschen zwiegespalten zurück.
Aber von vorn. Oder auch nicht. Das Buch zusammenzufassen ist schier unmöglich. Irvings Bücher sind wie ein Eintopf. Man nehme eine starke alleinerziehende Mutter mit ungewöhnlichen Verwandten, köchle es mit gesellschaftlichen Außenseitern, skurrilen Gestalten, komplizierten Beziehungen und Ringen – fertig ist die Lebensgeschichte des Protagonisten. Das hat bei Garp und bei Owen Meany funktioniert, wieso sollte es bei Adam Brewster nicht auch funktionieren. In diesem Buch gibt es zum Ringen auch noch Skifahren und Queerness. Da die Parallelen zu Irvings eigenem Leben nicht zufällig sind, kann man ihn getrost als Ally und Advokaten für die Akzeptanz unterschiedlichster sexueller Orientierungen bezeichnen. Obwohl das Buch keine Autobiografie ist, steckt in Adam sicher sehr viel John. So spielt unter anderem der Vietnamkrieg eine Rolle, Irvings kritische Haltung dazu ist bekannt, ebenso seine Meinung zur katholischen Kirche, Abtreibungen und AIDS.
„Typisch Irving“ ist auch, dass er umfassend über seinen Protagonisten schreibt. Er beginnt 1941 mit dessen Geburt und beschreibt im Detail 60 Jahre seines Lebens. Dabei sind die Charaktere in all ihrer Skurrilität gründlich, wenn auch zum Teil nicht sehr schmeichelhaft ausgearbeitet. Jeder bekommt Charakterzüge auf den Leib geschrieben, von der Demenz und Inkontinenz des Großvaters bis zur Kleinwüchsigkeit von Elliot, dem Schneeläufer. Die Familie ist ungewöhnlich, zwischen Eliot Brewster und Adams Mutter Rachel besteht eher eine Scheinehe, sie liebt eigentlich Frauen und er ist erst als Crossdresser unterwegs und später dann als Frau.
Im Endeffekt war mein Problem nicht die Länge oder die vielen Wiederholungen, sondern die eingebauten Drehbücher, die habe ich zugegebenermaßen komplett überblättert. Die vielen Wiederholungen fand ich anstrengend, sodass das Buch mich sprachlich nur halbwegs überzeugen konnte. Dass Adams Stiefvater so oft „der kleine Schneeläufer“ genannt wird oder Molly, die Freundin der Mutter „die Pistenpflegerin“, nach dem zigsten Mal wollte ich einfach nur rufen: „Ja, das weiß ich inzwischen!“ Hätte der Autor auf dieses „Widerkäuen“ verzichtet, wäre das Buch gut und gerne 200 Seiten kürzer ausgefallen, die vielen Beschreibungen von Skirennen und Skiläufern waren für mich ein bisschen zu viel des Guten und ich weiß inzwischen mehr über Skier, als ich jemals wissen wollte. Der Rest des Buchs war ein „echter Irving“ und hat mich begeistert. Gegen Ende wird die Erzählweise zunehmend schneller, fast rastlos, als wollte der Autor das ganze noch schnell zu Ende bringen, bevor – ja, bevor was? Vor dem Tod? Der spielt natürlich auch eine Rolle.
Es ist lange her, dass ich meinen letzten Irving-Roman gelesen habe. Die Lektüre von „Der letzte Sessellift“ hat mir aber Lust darauf gemacht, die früheren Werke noch einmal hervorzuholen. Vor allem, weil die Anspielungen auf diese klar erkennbar sind. Was bleibt im Gedächtnis? Ein Plädoyer für Liebe, Vertrauen und starke Frauen. Ein Hinweis darauf, wie unterschiedliche Menschen durch Toleranz und Verständnis zueinanderfinden können und es immer irgendwelche Gemeinsamkeiten gibt, man muss sie nur sehen. Außerdem sind Konventionen und Traditionen dazu da gebrochen und ignoriert zu werden.
Für Irving-Fans und solche, die es werden wollen, ist das Buch ein Muss. Ich vergebe vier Sterne.

Bewertung vom 01.12.2024
Man kann auch in die Höhe fallen / Alle Toten fliegen hoch Bd.6
Meyerhoff, Joachim

Man kann auch in die Höhe fallen / Alle Toten fliegen hoch Bd.6


ausgezeichnet

„Man kann auch in die Höhe fallen“ ist das sechste Buch aus Joachim Meyerhoffs Erzählprojekt „Alle Toten fliegen hoch“. Bei diesem Buch war ich zwischen lautem Lachen und gelangweiltem Weiterblättern hin- und hergerissen. Dennoch hat mich seine Liebeserklärung an seine Mutter sehr gut unterhalten und ich werde die vorherigen Teile der Reihe auch noch lesen.
Aber von vorn.
„»Mama«, sagte ich zu ihr, »Überraschung! Ich komme morgen zu dir aufs Land. Ich möchte mich besser um dich kümmern, dir im Garten helfen, versuchen zu schreiben und«, ich bemühte mich, es verheißungsvoll klingen zu lassen, »wahrscheinlich bleibe ich sogar länger.«“ Mit diesen Worten kündigt Joachim Meyerhoff den Besuch bei seiner Mutter in Schleswig an der Ostsee an. Er steckt in einer Schaffens- und Lebenskrise. Nach dem Schlaganfall vor ein paar Jahren hat sich in ihm mit Mitte eine tiefsitzende Gereiztheit, ein Gefühl ständiger Erschöpfung, Überforderung und Dünnhäutigkeit hatte sich in ihm breitgemacht. Richtig die Nerven verloren hat er beim neunten Geburtstag seines Sohnes Elliot, was ihm den Zorn einiger Menschen eingebracht hat. Seine Mutter spannt ihn in ihren Alltag ein. Er arbeitet im Garten, sie gehen gemeinsam schwimmen und trinken Whiskey, reden viel miteinander und er schafft es, wieder zu schreiben. Herausgekommen ist ein Buch über sich selbst, aber auch eine Liebeserklärung an seine Mutter. „»Glaubst du, es wird ein Buch?«
»Ich weiß es nicht, Mama.«
»Ich würde, ehrlich gesagt, lieber doch nicht drin vorkommen.«
»Na bravo.«“
Aber ganz offensichtlich hat Mutter Meyerhoff (ich weiß inzwischen, dass sie Susanne heißt) sich das Buch verdient, denn sie scheint eine wirklich bemerkenswerte Frau zu sein. Ich denke, wir würden uns verstehen. „Meine Mutter sprach gerne mit den Dingen, stand in permanentem Austausch mit allem, was sie umgab“ – das finde ich ganz wunderbar. Unterhaltungen mit der Sonne und Vögeln gehen mir ebenso ans Herz wie die Tatsache, dass sie stachelige Brombeerranken mit einem „Wirst du wohl aufhören!“ zurechtweist oder sich bei einem Malvenschössling entschuldigt, dass sie auf ihn getreten ist. Das kommt mir sehr bekannt vor.
Ihr Sohn schreibt liebevoll über seine Mutter und ihr bewegtes Leben. Sie isst, taucht, backt, hackt Holz, erntet und mäht und das alles mit neuem Knie, neuer Hüfte und einer neuen Herzklappe. Sie ist ein Freigeist, „Rezepte empfindet sie genauso wie Geschwindigkeitsbegrenzungen als Bevormundung“. Dafür kann sie gleichzeitig Käsekuchen mit Rosinen, Rhabarberkuchen mit Baiser und Apfelkuchen mit Butterbröseln backen, was mich sehr beeindruckte. Wurde Joachim Meyerhoff von einem Oktopus großgezogen? Nein, aber von einer äußerst patenten Mutter.
Es gibt aber neben warmem-Apfelkuchen-und-Rohrnudel-Idylle auch düstere Zwischentöne. „Unsere Ehe war schrecklich, er hat mich betrogen, fast bin ich daran zerbrochen, doch ich habe mich nie getrennt.“, erzählt die Mutter. „Die Jahre gingen so dahin, und ich hab eigentlich immer nur gekämpft.“ Der Tod des mittleren Sohnes hat sie schwer getroffen, trotz Trennung hat sie ihren Mann bis zu dessen Tod gepflegt, ihren Lebensgefährten Michael Jahre später ebenso. Ihre Kinder waren und sind ihr Ein und Alles. „Es waren so gute Jahre, euch aufwachsen zu sehen und euch dabei begleiten zu dürfen“, sagt sie rückblickend.
Die Geschichten über seine Mutter haben mich oft zum Lachen gebracht. Die Theatergeschichten, die Meyerhoff zwischendurch erzählt, haben mich wesentlich weniger abgeholt, zwar sind sie durchaus ansprechend erzählt, aber irgendwie fehlt mir bei ihnen der Witz. Eines ist am Ende des Buchs klar: seine Schaffenskrise scheint Joachim Meyerhoff überwunden zu haben. Dank Mutter, dank harter Arbeit, dank Liebe und Geborgenheit. Er ist gefallen und wieder aufgestanden. Und Mutter? Die hat sich neu verliebt. Von mir gibt es für dieses Buch fünf Sterne.

Bewertung vom 01.12.2024
Letzte Lügen / Georgia Bd.12
Slaughter, Karin

Letzte Lügen / Georgia Bd.12


ausgezeichnet

Lange mussten die Fans auf Karin Slaughters neuesten Thriller „Letzte Lügen“ warten. Der 12. Teil der Serie um Special Agent Will Trent vom Georgia Bureau of Investigation und Rechtsmedizinerin Dr. Sara Linton hat aber in sich. Endlich haben die beiden geheiratet und die Flitterwochen stehen an. Dass diese nicht nur harmonisch verlaufen, war keine Überraschung. Dass der Aufenthalt in der Ridgeview Lodge so aus dem Ruder laufen würde, hatte ich aber nicht erwartet. Trotz der über 500 Seiten voller Brutalität, menschlicher Abgründe und Lügen war das Buch für mich ein Highlight.
Aber von vorn.
Zwei Tage nach ihrer Hochzeit starten Will Trent und Sara Linton in die Flitterwochen. Will hat als Ziel die abgelegene Ridgeview Lodge ausgesucht. Kinder des Kinderheims, in dem er aufgewachsen ist, durften dort einen Teil ihrer Sommerferien verbringen, er selbst konnte aber nie mitfahren. Jetzt möchte er diese Erfahrung nachholen. Um ihre Flitterwochen ungestört genießen zu können, haben er und Sara beschlossen, ihre wahren Berufe zu verschweigen. Bei einem nächtlichen Ausflug zum See hören sie einen Schrei und finden kurz danach am Ufer Mercy McAlpine. Die Tochter der Besitzer der Lodge ist lebensgefährlich verletzt und verstirbt trotz Wills Wiederbelebungsmaßnahmen. Der Hauptverdächtige ist mit Mercys ex-Mann Dave schnell gefunden, er und Will kennen sich aus dem Kinderheim und er weiß, dass „der Schakal“, wie sie ihn damals nannten, zu einigem fähig ist. Die acht übrigen Gäste der Lodge scheinen ebenfalls alle etwas zu verbergen zu haben, genauso wie die McAlpine-Familie. Patriarch Cecil und seine Frau Bitty planten, das Anwesen zu verkaufen. Mercy, die seit dem schweren Unfall ihres Vaters als Geschäftsführerin agierte und die Lodge modernisiert hatte, war dagegen und hatte deshalb Streit mit ihren Eltern. Auch mit ihrem Sohn Jon hatte sie Streit, er warf ihr an den Kopf „»Ich wünschte, du wärst verdammt noch mal tot.«“ Jetzt ist sie tot, Jon ist verschwunden, sein Vater Dave ist auch nicht auffindbar und der Rest der Anwesenden auf der Lodge ist keine große Hilfe, von denen scheint jeder ein Geheimnis zu haben. Auch der örtliche Sherriff ist als Freund der Familie nur mäßig engagiert. Da bekommt Will von seiner Partnerin Faith Mitchell mehr Unterstützung. Und dann gibt es einen weiteren Toten.
In ihrem gewohnten Stil tischt Karin Slaughter Brutalitäten auf. Es wird geprügelt, gestochen, geflucht, gekränkt und vor allem gelogen. Das Buch hat ein paar Längen, ist aber flüssig zu lesen. Für Neulinge wird alles Notwendige erklärt, man kann das Buch also getrost auch ohne Vorkenntnisse lesen. Die Geschichte beginnt 12 Stunden vor dem Mord und rast dann im Parforceritt durch die Ermittlungen. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven und dazwischen sind ein paar Briefe eingeflochten, die Mercy in verschiedenen Situationen an ihren Sohn Jon geschrieben hat. Die Charaktere sind, wie von der Autorin gewohnt, detailliert ausgearbeitet. Will und Sara bekommen ein paar neue Facetten. Die McAlpine Familie ist so dysfunktional, dass man Gänsehaut bekommt. Das Setting, die abgelegenen Lodge am See, die dazu durch schlechtes Wetter von der Außenwelt abgeschnitten ist, ist gut und anschaulich beschrieben.
Bei all der Brutalität hat das Buch für mich auch eine gewisse Komik. Bitty hat beispielsweise interessante Prioritäten. Tochter wurde gerade ermordet, ihr Adoptivsohn ist der Hauptverdächtige, jeder in der Lodge (nicht zuletzt sie selbst) ist durch und durch verlogen und ihr Enkel ist verschwunden – die kleine Notlüge von Will und Sara bezüglich ihrer Berufe ist für sie aber wahre Drama. Eine Art „running gag“ ist für mich, dass Will sich in jedem Band irgendwann verletzt. Die Frage ist dabei nicht ob, sondern wann. Für mich war „Letzte Lügen“ ein Highlight und ich empfehle es gerne weiter. Wer bezüglich Missbrauch und Gewalt nicht triggerfest ist, sollte allerdings vorsichtig sein. Von mir gibt es fünf Sterne.

Bewertung vom 22.11.2024
Aschezeichen / Liv Jensen Bd.2
Engberg, Katrine

Aschezeichen / Liv Jensen Bd.2


sehr gut

„Aschezeichen“ heißt das neue Buch der dänischen Autorin Katrine Engberg. Es ist der zweite Band der Serie um die Ermittlerin Liv Jensen und nach dem eher schwachen ersten Teil „Glutspur“ hat er mich positiv überrascht. Wieso das Buch „Aschezeichen“ heißt, kann ich nicht nachvollziehen, eventuell nur die Verbindung zum Titel des Vorgängers, denn Asche und Glut gehören zusammen. Der zweite Teil des Titels „Die Wunden der Schuld“ passt besser und auch der dänische Titel „De hvide nætter“ (weiße Nächte) hat wenigstens ansatzweise etwas mit der Handlung zu tun.
Aber von vorn.
Vorsø ist eine 58 Hektar große, für die Öffentlichkeit gesperrte Insel im Horsens Fjord an der Ostseite Jütlands. Trotzdem fährt der iranisch-dänische Familienvater Tami Ansari mit seinen Kindern Cyrus (17) und Shirin (14) übers Wochenende zum Angeln dorthin. Am Sonntagmorgen findet Shirin ihren Vater mit durchgeschnittener Kehle in seinem Zelt. Ihr Bruder ist verschwunden. Hat der Täter ihn mitgenommen? Aus Angst, sie könnte auch in Gefahr sein, beschließt Shirin, sich zu verstecken. Privatermittlerin Liv Jensen bekommt von ihrem ehemaligen Mentor Petter Bohm den Auftrag, sich in dem Fall etwas umzuhören. Ihre erste Spur führt in dänische Auffanglager Sandholm (ehemals Sandholmlejren, jetzt Sandholm Center), dem vom Roten Kreuz unterhaltenen Lager, in dem Tami Ansari vor rund 30 Jahren gelebt hat. Und sie stößt schnell auf einen Bekannten: ihr Nachbar, der Automechaniker Nima Ansari ist ein Cousin des Toten. Sind dem alkoholkranken Tami seine mutmaßlichen Verbindungen ins kriminelle Milieu zum Verhängnis geworden? Oder ist der 17jährige Cyrus der Grund für den Mord? Und was hat der eigenbrötlerische Naturpfleger Lars Rørdam, der der Familie das Zelten auf der Insel erlaubt hat, mit allem zu tun?
Nach einem eher schwachen Serienauftakt mit „Glutspur“ hat mich „Aschezeichen“ positiv überrascht. Zwar hat das Buch immer noch einige Längen, ein paar Dutzend Seiten könnte man sicher ohne Probleme streichen, aber insgesamt fand ich es spannend, flüssig zu lesen und unterhaltsam. Mit der Übersetzung stehe ich an ein paar Stellen auf Kriegsfuß, manches finde ich handwerklich etwas unsauber. Der Krimi ist solide, die psychologische Komponente sorgt für konstante unterschwellige Spannung. Die Geschichte ist geschickt konstruiert, einige falsche Fährten schickten mich beim Mitraten in die Irre. Schön und gelungen fand ich auch wieder die Ortsbeschreibungen, sowohl die von Vorsø als auch die von Kopenhagen.
Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt, wobei jeweils einer der Protagonisten im Mittelpunkt steht. Diese sind aus dem ersten Teil bekannt, sie sind ein bisschen farblos beschrieben und weiterhin ausbaufähig. Der Strang Liv dreht sich um die Ermittlungen. Diese sind bodenständige Polizeiarbeit, auch wenn Liv nicht mehr als Polizistin arbeitet, beherrscht sie ihr Handwerk. Nima, Automechaniker, der hobbymäßig halluzinogene Pilze anbaut, ist das Bindeglied zur iranischen Gemeinschaft. Hanna Leon, die Psychologin, die bei Liv und Nima in der Nachbarschaft wohnt, ist ebenfalls wieder mit von der Partie. Ihre Rolle ist aber eher schwach und sie trägt weder zur Geschichte noch zur Lösung des Falls nennenswert bei.
Als Leser dänischer Zeitungen ist mir das Auffanglager Sandholm ein Begriff, es als zentrales Element eines Krimis wiederzufinden, barg für mich einen speziellen Reiz. Das Lager und das Leben dort ist in Rückblicken ins Jahr 1990 in Einschüben beschrieben. Die Situation der jungen unbegleiteten Flüchtlinge (Tami war bei seiner Ankunft in Dänemark erst 15), ihre Gedanken, Träume und Hoffnungen fand ich gut dargestellt. Die Beeinflussbarkeit der jungen Menschen durch Ältere und der Einfluss von Geheimdiensten sind durchaus realistisch.
Ich fand das Buch besser als den ersten Teil, aber es ist immer noch Luft nach oben. Von mir daher vier Sterne und ich bin gespannt auf den nächsten Band der Serie.

Bewertung vom 19.11.2024
Grönemeyer
Lentz, Michael

Grönemeyer


ausgezeichnet

Wer bei dem Buch „Grönemeyer“ von Michael Lentz eine Biografie erwartet, wird enttäuscht sein. Der Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt setzt vielmehr die Texte des Musikers in Relation zu dessen Biografie und ordnet sie ein. Dabei ist der Lebenslauf Grönemeyers nebensächlich, aber nicht unwichtig. Ich gebe zu, ich bin mit etwas anderen Erwartungen an das Buch herangegangen, trotzdem wurde ich nicht enttäuscht.
Das Buch ist eine beeindruckende Einordnung von Grönemeyers Werk in sein musikalisches Werden, wobei mir der sprachliche Duktus von Michael Lentz manchmal zu theoretisch, distanziert und professionell war. Eines ist klar: das Buch ist keine Unterhaltungslektüre. Dem Buch liegt eine beeindruckend umfassende Recherche zugrunde, der Autor zeigt eine profunde Kenntnis dessen, worüber er schreibt. Er zeichnet Herbert Grönemeyers Lebens- und Karriereweg nach. Von einer von Musik und Literatur geprägten bürgerlichen Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet, über ein abgebrochenes Jura- und Musikwissenschaftsstudium, eine aufstrebende Schauspielkarriere (umfassende Bekanntheit erlangte er durch seine Rolle in „Das Boot“) bis zu dem, womit er im Endeffekt Musikgeschichte geschrieben hat. Eng mit allem verknüpft war immer Grönemeyers politische Einstellung, „er entwickelte ein Sensorium für politisch brisante Atmosphären, das er in seinen Liedern produktiv machen sollte.“
Insgesamt ist das Buch eher eine 385-seitige Werkbiografie als eine Musiker-Biografie. Um daran Freude zu haben, muss man schon ein großes Interesse an Musiktheorie, Kompositionslehre und Literatur mitbringen, besser noch eine gewisse Grundkenntnis der Materie. Beides glaubte ich zu haben, dennoch empfand ich persönlich das Buch zugegebenermaßen als etwas zu anspruchsvoll für mich. Die Fülle an Analysen hat mich mehr oder weniger erschlagen und auch die Sprache des Autors lag mir nicht wirklich. Alle, die aber Lust darauf haben, hinter die Songs von Herbert Grönemeyer zu schauen, zu erfahren, wie er komponiert, wie seine Texte entstehen und warum er so singt, wie er singt, sind mit dem Buch sehr gut bedient. Michael Lentz beschreibt und analysiert Texte und Harmonien und verliert dabei die Person Grönemeyer nie aus den Augen. Interessant fand ich persönlich, wie seine Songs entstehen. Er „vertont keine Texte, sondern vertextet Musik“, heißt: die Musik kommt als erstes und hat den höheren Stellenwert. Der Text ist dazu eher eine Ergänzung, ein „ein Gewürz, ein weiteres Instrument, das sich unterordnet, oder eine Interpretationshilfe der musikalischen Atmosphäre.“
Man kann Herbert Grönemeyer und seine Musik mögen oder nicht. „Grönemeyer“ von Michael Lentz analysiert den Künstler und sein Werk unabhängig voneinander und doch als Einheit, minutiös, fast pedantisch detailreich und neutral, auf rein professioneller Ebene. Durch das Buch habe ich eine neue Sichtweise auf Musik und Person Herbert Grönemeyer gewonnen und deshalb habe ich die Lektüre trotz allem genossen und als lohnend empfunden. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 12.11.2024
Kalter Sturm (eBook, ePUB)
Nordby, Anne

Kalter Sturm (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Mit „Kalter Sturm“ schickt Anne Nørdby ihren Ermittler Tom Skagen und seine Kollegen in ihren vierten Fall. Dieses Mal verschlägt es ihn eher unfreiwillig nach Island, wo er in vielerlei Hinsicht auf Neues und Unbekanntes stößt. Ein ruhiger, aber durchaus spannender Thriller mit viel Island, vielen Mythen und interessanten Charakteren.
Aber von vorn.
Eigentlich könnte im Leben von Tom Skagen, Ermittler der länderübergreifenden Sondereinheit Skanpol, Ruhe einkehren. Nach traumatischen Erlebnissen ist er endlich mit seiner Freundin, der schwedischen Polizistin Maja, glücklich. Aber die rechte Gruppierung „Åsgards Sønner“ ist immer noch auf der Jagd nach ihm. Wer der mysteriöse „Onkel“ ist, der der Chef der norwegischen Organisation ist, ist immer noch unklar, vermutet wird aber, dass es einen Informanten in den Reihen der Polizei gibt. Auf dem Weg in ein Safehouse in Kopenhagen lauern ihm zwei der „Söhne“ auf, weshalb er sofort zusagt, als er von einem Fall auf Island hört. Dort ist ein Fünfjähriger in einem Lavafeld auf der Halbinsel Dverganes verschwunden. Die sechsköpfige deutsche Familie Brandt lebt dort seit einigen Monaten auf einer Schaffarm, gegen Mithilfe bei der Arbeit gibt es freie Kost und Logis. Auf der Nachbarfarm wohnt eine weitere deutsche Familie, die beiden Familien gehören derselben religiösen Vereinigung an. Unversehens findet sich Tom Skagen zusammen mit seinen isländischen Kollegen Nils Jónsson, Bjarni Egilsson und Halla Austdal in einem Chaos aus Lügen, unkooperativen Mitmenschen, religiösem Fanatismus und isländischen Mythen wieder. Schnell wird der kalte Sturm, dem das Buch den Titel verdankt, zu ihrem kleinsten Problem. Zwar wird der kleine Jonas in einer Lavahöhle lebend gefunden, kurze Zeit später wird allerdings seine Mutter ermordet. In der abgeschiedenen und durch den heftigen Schneesturm abgeschlossenen Gegend kann das eigentlich nur eines heißen: der Mörder ist unter ihnen. Wird er wieder zuschlagen?
Als „Fan der ersten Stunde“ habe ich mich sehr über den neuen Tom-Skagen-Thriller und das Wiedersehen mit Tom, Jette und Maja gefreut und die Spannung hat mich von der ersten Seite an gepackt. Die Geschichte wird anfangs in zwei Handlungssträngen erzählt. Nach Toms Ankunft auf der Insel gibt es nur noch eine Erzählebene, der Erzähler ist neutral und als Leser:in weiß man immer etwa so viel wie die Ermittelnden. Daher machte es auch viel Spaß, während der Lektüre mitzuraten, wer hinter allem steckt und was die Motive sein könnten. Das ist gar nicht so einfach, denn fast alle scheinen etwas zu verbergen zu haben. Alle Charaktere sind gut und detailliert ausgearbeitet. Sicher kann man das Buch auch ohne Vorkenntnisse aus den anderen Teilen lesen und verstehen, ich empfehle aber die Lektüre der anderen Bücher in der richtigen Reihenfolge. Vor allem zum Protagonisten Tom Skagen kann man vieles besser verstehen kann, wenn man seine Vergangenheit kennt und seine Entwicklung mitverfolgt hat. Auch die Rolle von „Åsgards Sønner“ erschließt sich besser mit etwas Hintergrundwissen.
Noch viel interessanter als die Charaktere fand ich aber die Atmosphäre und die Landschaft, die Anne Nørdby hervorragend einfängt. Die klaustrophobische und düstere Stimmung mit der rauen Landschaft wird komplettiert durch den Schneesturm, die Dunkelheit, die er mit sich bringt und natürlich die isländischen Mythen mit den Elfen des versteckten Volks, des huldufólk, die man nicht wütend machen sollte. Das Auftauchen des religiösen Oberhaupts der Glaubensgemeinschaft, der die deutschen Familien angehören, bringt eine ganz neue Art „kalten Sturm“ mit sich, er verbreitet eine äußerst toxische Stimmung. Sprachlich ist das Buch gut gelungen, es ist trotz einiger Brutalität und Spannung eher ruhig erzählt, dabei flüssig und angenehm zu lesen. Mich hat es begeistert und ich empfehle es gerne weiter. Von mir gibt es fünf Sterne und ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Teil.

Bewertung vom 05.11.2024
Letzte Worte / Georgia Bd.4
Slaughter, Karin

Letzte Worte / Georgia Bd.4


ausgezeichnet

Ein mutmaßlicher Selbstmord, verschleppte Ermittlungen, ein echter Selbstmord und ein Mord, dazu eher lustlose Ermittler – das sind die Dinge mit denen sich Agent Will Trent vom Georgia Bureau of Investigation in Karin Slaughters „Letzte Worte“ herumschlagen muss. Für ihn einerseits frustrierend, andererseits trifft er die verwitwete Dr. Sara Linton wieder und lernt ihre Familie kennen. Und die Leserschaft bekommt mit diesem zweiten Teil der „Georgia-Serie“ einen spannenden Thriller mit überraschendem Ausgang serviert. Was will man mehr?
Aber von vorn.
„Ich will es vorbei haben“ – das sind die letzten Worte, die man bei der einer toten jungen Frau am Lake Grant findet, sie stehen auf einem zusammengefalteten Zettel, der unter ihrem Schuh liegt. Kurz darauf stellt Polizistin Lena Adams fest, dass die Tote eine Stichwunde im Nacken hat und auch die schwere Kette um ihre Taille, an der zwei zehn Kilo schwere Waschbetonblöcke befestigt waren, sprechen nicht für Suizid. Allison Spooner war Studentin am örtlichen College und arbeitete im Diner, hatte aber Geldsorgen und Probleme mit dem Studium. Waren das genügend Gründe für einen Suizid?
„Ich war es nicht“ – das sind die letzten Worte, die der Hauptverdächtige Tommy Braham mit seinem eigenen Blut an eine Zellenwand schreibt, kurz danach ist er tot. Davor hatte der Neunzehnjährige im Verhör Detective Lena Adams gegenüber gestanden, Allison getötet zu haben. Allison hatte im Haus von Tommys Familie ein Zimmer gemietet, der stark intelligenzgeminderte Junge scheint in sie verliebt gewesen zu sein. Als die Polizei eine Hausdurchsuchung machen möchte, greift er die Beamten an und verletzt einen schwer. Sind das genügend Beweise für seine Schuld? Sein Geständnis liest sich, als habe es ihm jemand diktiert. Hat ihn das Verhör durch Lena in den Suizid getrieben?
Sara Linton ist mit ihren beiden Windhunden wegen Thanksgiving bei ihren Eltern in Heartsdale, da Lena Adams und ihr Vorgesetzter Frank Wallace ihre Inkompetenz bei dem Fall zur Schau stellen, bittet sie Agent Will Trent um Hilfe. Das sorgt im ganzen Revier für Unmut und Will muss sich nicht nur mit dem Mord/Selbstmord auseinandersetzen, sondern mit unkooperativen Kollegen, während er mit der auch nach vier Jahren noch trauernden Witwe Sara anbändelt. Und solange er versucht, Schwung in die Ermittlungen zu bringen, gibt es ein weiteres Opfer.
Ich hatte „Letzte Worte“ schon vor Jahren zum ersten Mal gelesen, aber auch bei diesem Mal bin ich durch das Buch geflogen, was natürlich auch an der rasanten Handlung liegt. Die Geschichte beginnt am Montag und endet am Mittwoch und wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt (aus Sicht von Sara, Lena und Will, jeweils in der 3. Person). Für mich war es ein spannender Thriller mit überraschenden Wendungen. Der Spannungsbogen ist hoch, die zahlreichen Passagen mit dem Privatleben von Sara und Will waren für mich willkommene Verschnaufpausen. Die Protagonisten waren mit bekannt, daher kann ich sagen, dass Karin Slaughter sie liebevoll und fast detailversessen weiterentwickelt hat. Allerdings ging mir Saras Hass auf Lena Adams ein bisschen auf die Nerven. Sie macht sie für den Tod ihres Ehemannes Jeffrey Tolliver vor vier Jahren verantwortlich, aber ihr Verlangen, die Polizistin zur Strecke zu bringen, ist fast zwanghaft. Man bekommt auch einen Einblick in Wills Leben zwischen Arbeit, Legasthenie, dreiteiligen Anzügen und seiner gewalttätigen Ehefrau Angie. Sprachlich ist das Buch ein „echter Slaughter“, brutal, blutig und voller Gewalt- und Kraftausdrücke.
Das Buch ist nichts für schwache Nerven und empfindliche Mägen, ich empfehle es daher natürlich allen Fans der Serie, wobei ich allen nahelege, vor „Letzte Worte“ die anderen Bücher der Reihe in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Natürlich kann man das Buch auch ohne Vorkenntnisse verstehen, sie machen aber vieles leichter. Es ist ganz sicher nicht Karin Slaughters bestes Buch, von mir gibt es trotzdem fünf Sterne.