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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kwinsu
Wohnort: 
Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 65 Bewertungen
Bewertung vom 02.12.2024
White Lives Matter
Kuhnke, Jasmina

White Lives Matter


gut

In "White Lives Matter" finden sich die Leser:innen in einer umgekehrten Welt wieder: Menschen mit weißer Hautfarbe sind die Unterdrückten, wohingegen die schwarze Gesellschaft rassistische Unterdrückung ausübt. Hauptprotagonistin ist die junge Studentin Anna, die es als eine der wenigen geschafft hat, an der Uni studieren zu können. Mit außerordentlichen Eifer treibt sie ihr Geschichtestudium voran, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Einer ihrer Professoren bittet sie, eine Hausarbeit über die Unterdrückung der Weißen zu schreiben und akribisch, wenn auch mit anfänglichen Widerwillen, beginnt sie zu recherchieren, stößt immer wieder auf fatale Geschichten einzelner, die aufgrund der kolonialen Unterdrückung ihr Leben lassen mussten. Schnell erkennt sie, dass diese Geschichte der Unterdrückung bislang in der Forschung kaum beleuchtet wurde, was ihren Forscher:innenergeiz vorantreibt. Bis ein schrecklicher Vorfall ihr einen geliebten Menschen entreißt und sie zur Mitbegründerin von "White Lives Matter" macht.
Das Gedankenexperiment, das Jasmina Kuhnke zu wagen versucht, ist großartig - wie fühlt es sich an, zum unterdrückten Teil der Gesellschaft zu gehören, was macht das mit den Leser:innen, wenn plötzlich Weiße diskriminiert, gefoltert, aufs grausamste zur Schau gestellt und getötet und grundsätzlich als minderwertige, ja teils animalische Menschen behandelt werden? Was macht das mit einer/m, den Rassismus umzukehren? In "White Lives Matter" ist die Welt und deren Geschichte umgekehrt, Schwarze sind hier die herrschenden Eliten. Die Autorin ersetzt einfach schwarz gegen weiß, lässt aber jegliche geografische Verordnung außen vor. Lediglich "Norden" und "Süden" dienen als geografische Orientierung. In kurzen Blitzlichtern wird in die Vergangenheit geblickt und beschrieben, wie Weiße auf bestialische Art zu Tode kamen, meist durch die Hand ihrer Unterdrücker, auf alle Fälle aber mit deren Zutun. 
Die Hauptprotagonistin Anna versucht es allen recht zu machen, versucht nicht aufzufallen und glaubt anfangs mit Ehrgeiz und Unauffälligkeit weiterzukommen. Sie muss einiges an Diskriminierung aushalten, schluckt es, auch wenn es sie innerlich zerfrisst. In den ersten zwei Dritteln des Buches wirkt sie recht naiv. Ein besonderes Augenmerk wird auf ihr Verhältnis zu ihrem Bruder gelegt und hier reagiert Anna oft mit kindlichem Trotz auf Konflikte. Ihr Bruder, der die gesellschaftlichen Verhältnisse so nicht hinnehmen will, reagiert auf jede Diskriminierung mit Widerstand, etwas, was Anna falsch findet. Auch wenn sie sich im Verlauf des Buches emanzipiert, ist das meiner Meinungen einer der Schwachstellen in der Geschichte. 
Der Mann als Widerständiger und die Frau als jene, die alle Unterdrückung schluckt, ist ein Rollenbild, das lang tradiert wurde - und noch immer wird. Deshalb finde ich es auch sehr schade, dass Anna diese Rolle lange Zeit inne hat. Besonders im ersten Drittel erfahren wir viel von Annas (oft trotzigem) Innenleben, was aber im Laufe der Geschichte etwas abnimmt, das mich aber aufgrund der folgenden Ereignisse etwas verwundert. Grundsätzlich finde ich die Aufteilung des Romans etwas unausgewogen, erfahren wir im ersten Teil doch sehr viel über ihre Lebenssituation, wie es im Studium läuft, wie das Zusammenleben in der WG funktioniert (Anna ist hier die einzige Weiße), ein bisschen etwas über ihre Freundschaften und ihre Familie. Das einschneidende Erlebnis, bei dem ein ihr geliebter Mensch stirbt und der darauffolgende Widerstand gegen die Unterdrückungsverhältnisse und das System werden relativ rasch abgehandelt. Ein weiterer Kritikpunkt meinerseits ist zudem, dass beschrieben wird, wie Anna zur Geschichte der Unterdrückung recherchiert - als Studentin der Geschichtswissenschaft - und hier passieren die Einschübe aus der Vergangenheit, bei denen jeweils eine Geschichte des Zutodekommens einer weißen Person beschrieben wird. Danach folgt die Beschreibung, wie Anna das gerade Recherchierte aufnimmt. Das ist für mich etwas unglaubwürdig, denn es wird nicht erklärt, welche Quellen Anna hier verwendet hat - vermutlich auch deshalb, weil es dazu keine gegeben haben könnte, denn die Geschichte der Unterdrückten wurden so gut wie nie aus ihrer eigenen Perspektive festgehalten, sondern wenn dann aus der Sicht der Unterdrücker.
Mein Fazit: "White Lives Matter" ist ein Roman, der die Welt der Unterdrückung aus einer fiktiven Umkehr der Machtverhältnisse erzählt. Die Idee ist großartig, kann sie doch den Unterdrückenden einen Spiegel vor Augen halten. Leider hat mich jedoch die Umsetzung nicht wirklich überzeugt, ist die Hauptprotagonistin doch sehr im patriarchalen Rollbild gezeichnet. Außerdem wirkte für mich die Geschichte und deren Erzählweise an Geschehnissen etwas unausgewogen.

Bewertung vom 01.12.2024
Was wir nicht kommen sahen
Seck, Katharina

Was wir nicht kommen sahen


sehr gut

Ada ist 18, als sie sich das Leben nimmt. Ihr Suizid ist für ihre Eltern Jenny und Dominik anfangs unerklärlich, doch sie machen sich auf Spurensuche und blättern nach und nach auf, welchem Terror sich ihre Tochter unterziehen musste. Ada wurde Opfer einer ganz perfiden Art von Cybermobbing, das auch auf ihr physisches Leben übersprang. Und keiner konnte ahnen, wie belastet die junge Frau wurde...

Katharina Seck ist mit "Was wir nicht kommen sahen" ein mitreißender Roman gelungen, welcher der Gesellschaft einen Spiegel vorhält - und das mit Nachdruck. Sie thematisiert so viele unterschiedliche gesellschaftliche Aspekte, wie das nach wie vor vorherrschende Patriarchat, Mobbing in seinen unterschiedlichsten Formen (physisch & digital & hybrid), Incels, fehlende Aufklärung im Schulsystem und allgemein in der Gesellschaft was den digitalen sozialen Raum betrifft, um nur einige wenige zu nennen.

Die Erzählperspektive macht das Buch neben der relevanten Themen noch spannender - wir wechseln uns beim Lesen ab zwischen Ada und ihrer Mutter Jenny, wobei auch immer wieder in der Zeit gewechselt wird - wir erleben, wie Jenny und Dominik mit Adas tot und der Trauer kämpfen, aber auch den schweren Kampf, den Ada gegen die digitalen Trolle führte. Nach und nach recherchieren ihre Eltern, welche Ereignisse ihre Tochter durchleben musste, ohne dass sie auch nur einen Funken davon mitbekommen hatten (kaum gab es einen treffenderen Buchtitel!). Den Schreibstil der Autorin finde ich sehr eindringlich, er ist direkt und philosophisch und gesellschaftskritisch durch und durch - und erinnert mich sehr an den Stil von Mareike Fallwickl.

Besonders hervorheben möchte ich, dass zwischendurch auch immer wieder "die Anonymität" zum Erzählen kommt: in diesen kurzen Kapiteln werden Menschen, über deren Identität wir nichts genaueres erfahren, beschrieben - wie sie denken und fühlen, beispielsweise ein Incel, der über seinen Frauenhass und seine Incel-Gruppe berichtet, aber auch eine junge Frau aus schwierigen Verhältnissen, die (Mobbing-) Täterin und Opfer zugleich ist. Das finde ich deshalb so gut, da hier ohne Wertung auch die "Gegenseite" gezeigt wird, die nämlich auch Menschen und meist selbst in irgendeiner Weise Benachteiligte der Gesellschaft sind. Aber auf sie wird nicht mit dem Finger gezeigt, sondern durch die objektive Beschreibung dieser Charaktere den Lesenden veranschaulicht, dass es eben auch eine andere Seite mit eigenem Schicksal gibt - toll!

Besonders die Trauer und Verzweiflung von Adas Mutter Jenny werden so absolut nachvollziehbar beschrieben, dass ich beinahe das Gefühl hatte selbst in ihrer Haut zu stecken. Auch die Beziehung zu ihrem Mann Dominik, die in der Trauer nicht nur Höhen erlebt, wird authentisch dargestellt. Einen kleinen Punkteabzug gebe ich aber trotzdem, da für mich die Figur Ada nicht ganz greifbar ist. Sie wird als so starke und kämpferische junge Frau dargestellt, dass für mich der radikale Schritt Suizid nicht wirklich nachvollzogen werden kann. Ich möchte keinesfalls herunterspielen, dass das was sie durchmachten musste, an Heftigkeit kaum zu überbieten ist, hinzu kam ein persönlicher Vertrauensbruch als letztes Tüpfelchen - und trotzdem fühlte sie sich wie eine Person an, die gegen das System kämpft und nicht aufgibt.

Mein Fazit: "Was wir nicht kommen sahen" ist ein Buch, was alle Eltern von Teenagern lesen sollten, um etwas mehr von ihrer Lebensrealität zu verstehen. Es wäre außerdem ein hervorragendes Buch für den Unterricht, um das Thema Cybermobbing zu reflektieren. Im Stil von Mareike Fallwickl hält Katharina Seck der Gesellschaft eine Spiegel vor, der einen ordentlich zum Nachdenken bringt und auch etwas fragend hinterlässt.

Bewertung vom 03.11.2024
Die große Sehnsucht
Sydow, René

Die große Sehnsucht


sehr gut

Am Bodensee, Mitte der 1990er: Fete, Michi und Rabe starten die letzte Klasse Gymnasium und durchleben allerhand Zukunftsfantasien. Vor allem für Rabe ist klar, was er werden will: Regisseur. Doch je mehr sie sich mit konkreten Plänen beschäftigen, desto mehr Realität erleben sie. Und sie spüren, dass die Zeit, die sie jetzt haben, jene ist, die gelebt werden muss.

René Sydow ist mit "Die große Sehnsucht" ein unterhaltsamer Coming-of-Age-Roman gelungen, der die Protagonist:innen voller Leben zeichnet. Die Jungs sind allesamt einfühlsam, engagiert und glauben zu wissen, wohin sie wollen. Natürlich steht das andere Geschlecht im Mittelpunkt und die Beziehungen, die die Hauptprotagonisten entwickeln, fühlen sich trotz Unsicherheiten und gespieltem Selbstbewusstsein sehr authentisch an. Besonders gefallen hat mir, dass der Autor nicht mit oft gelesenen Jungs-/Mädchenklischees spielt, die Charaktere sind einander gegenüber respektvoll, auch wenn es natürlich auch hier das eine schöne Mädchen gibt, das alle begehren. Doch Fantasie und Realität unterscheiden sich und so gelingt es den jungen Männern, tiefergehende Beziehungen aufzubauen.

Der Schreibstil des Autors ist einnehmend und ich konnte mir die Szenen des Buches sehr bildlich vorstellen. Die Erzählperspektive wechselt zwischen den drei Hauptfiguren, selten werden auch Elternperspektiven erläutert. Die meiste Aufmerksam erhält Rabe mit seiner Fokussierung auf seine Zukunft als Regisseur. Hier ist besonders schön zu sehen, dass der Junge zwar schon seit er denken kann, sein Ziel vor Augen hat, aber als dieses näher kommt, zweifelt er mitunter, ob es tatsächlich das ist was er will. Dazu trägt auch seine sich entwickelnde Beziehung zu Viola bei, die er mehr und mehr ins Herz schließt. Auch Fete wird eingehender beleuchtet, er ist der Partytiger und gilt als Frauenheld. Dass es damit in der Realität aber nicht weit her ist, überrascht nicht nur seine Herzensdame Dani, sondern auch die Lesenden. Nur Michi wird etwas stiefmütterlich beschrieben, was schade ist, denn seine Geschichte wird zwar angedeutet, aber nur wenig erläutert.

Trotzdem mir das Buch sehr gefallen hat, finde ich es schade, dass es zwischen den drei Hauptcharakteren ein Ungleichgewicht an Erzähltem gibt. Hier hätte es mir persönlich besser gefallen, wenn entweder nur ein Charakter die volle Aufmerksamkeit bekommt oder aber alle drei Protagonisten gleichermaßen erzählt werden. Irritiert hat mich die nur ganz selten auftauchende Erzählperspektive eines Elternteils und auch das Auftauchen eines verloren geglaubten Vaters wird nicht näher beleuchtet, obwohl anzunehmen ist, dass dies durchaus etwas mit dem Jungen anstellt. Die Beschreibungen der 90er-Jahren standen für mich gar nicht so zentral im Fokus, waren aber schön, auch wenn manche geäußerten Zukunftsprognosen der Figuren für mich etwas zu konstruiert und deshalb etwas unglaubwürdig erschienen.

Mein Fazit: "Die große Sehnsucht" ist ein unterhaltsamer Coming-of-Age Roman, der in den 1990er spielt. Besonders schön ist die Einfühlsamkeit, die Zielstrebigkeit und die Tiefe der Charaktere, auch wenn sie leider nicht allesamt die gleiche erzählende Aufmerksamkeit bekommen. Der Schreibstil des Autors ist kurzweilig und auch wenn das Buch für mich kleinere Schwächen hat, habe ich es gern gelesen.

Bewertung vom 29.10.2024
Die Zeit im Sommerlicht
Laestadius, Ann-Helén

Die Zeit im Sommerlicht


gut

Anne-Risten, Else-Maj, Jon-Ante, Marge und Nilsa ereilt Anfang der 1950er Jahre das gleiche Schicksal: als geborene Samen - damals noch (abwertend) "Lappen" genannt - müssen sie die "Nomadenschule" besuchen. Dort sind sie wie in einem Kinderheim untergebracht und dürfen ausschließlich Schwedisch sprechen, ihrer eigenen Muttersprache werden sie enteignet. Dem nicht genug, steht der Schule die "Hausmutter" vor, einer bösartigen Erzieherin, die es scheinbar genießt, die kleinen Kinder zu quälen und auch vor körperlichen Übergriffen nicht Halt macht. 30 Jahre später sind alle Protagonist:innen auf ihre eigene Art von ihren schrecklichen Kindheitserlebnissen traumatisiert und die Wiederbegegnung mit der Hausmutter wird zum schicksalshaften Ereignis...



Ann-Helen Laestadius setzt mit "Die Zeit im Sommerlicht" die Aufarbeitung der Unterdrückung der Samen im 20. Jahrhundert in Schweden fort. Bereits in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Das Leuchten der Rentiere" thematisierte sie die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Skandinaviens.

Ihr Schreibstil mutet kindlich-naiv an, was in den Episoden der 1950er Jahre, als tatsächlich über die Erlebnisse der Kinder erzählt wird, wunderbar passend und einfühlend ist. In den Zeitsprüngen, welche die Leser:innen zwischendurch immer wieder in die 1980er versetzt, scheinen die Erwachsenen doch noch sehr viel kindliches an sich zu haben, was bestimmt auch an eben jenem Schreibstil liegt. Ob dies als Stilmittel beabsichtigt oder eben die grundsätzliche Schreibart ist, kann nicht nachvollzogen werden, ich empfand es aber über weite Teile des geschilderten Erwachsenenlebens als etwas mühsam und teilweise auch nervig.



Grundsätzlich hat der Roman seine Längen, besonders in der ersten Hälfte des Buches. Obwohl das Erzählte berührend ist, musste ich das Buch immer wieder weglegen. Erst in der zweiten Hälfte begann der Roman wirklich mitreißend zu sein, die Geschichten fanden zusammen und verwoben sich ineinander. Exakt so ist es mir bei "Das Leuchten der Rentiere" auch ergangen. Was die Lesefreude bei mir zudem etwas hemmte, war die Tatsache, dass für die Geschichte eigentlich unwichtige Details in aller Breite ausgeschmückt werden. Natürlich ist es wichtig, samische Rituale und Gepflogenheiten zu erläutern, ob dies jedes Mal der Fall sein und sich immer wieder wiederholen muss, bleibt zu bezweifeln. Aber auch bezüglich anderer Thematiken, vorwiegend wenn es um Beziehungen geht, weiß sich die Autorin ausführlich in Details zu verlieren.



Was mir wirklich sehr gut gefallen hat, ist der Umgang und die Thematisierung von Sprache - nicht nur, dass oft samische Ausdrücke verwendet werden, auch die Beschreibung wie diese eingesetzt wird, wie sie teils von eigenen Angehörigen aufgrund von schlechten Erfahrungen negiert wird, was sie aber trotzdem für die Sami bedeutet, das alles ist wunderschön beschreiben.



Mein Fazit: "Die Zeit im Sommerlicht" ist ein lehrreicher Roman, der die Geschichte der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Skandinaviens fiktional nachzeichnet. Die kurzen Kapitel und die Zeitsprünge, die zwischen der Kindheit der Protagonist:innen und dem Erwachsensein derer wechseln, macht das Lesen abwechslungsreich. Leider macht die teilweise vorhandene Detailverliebtheit und der durchwegs kindliche Sprachstil es zu keinem kurzweiligen Lesevergnügen. Es ist trotzdem lesenswert, schon alleine, weil über Menschen berichtet wird, die in der europäischen Wahrnehmung bislang zu wenig Platz gefunden haben.

Bewertung vom 24.10.2024
9 Grad
Kolb, Elli

9 Grad


ausgezeichnet

Plötzlich ist alles anders: Josies beste Freundin Rena wird schwer krank und beginnt ihr komplettes Leben in Frage zu stellen. Gleichzeitig lernt Josie Lee kennen, bei dem sie sich unglaublich wohl fühlt, doch er kämpft akut mit einer schweren Depression, was ihren Beziehungsanfang kompliziert macht. Josie selbst hat wenig Selbstbewusstsein, besonders was ihren Körper betrifft. Doch das Schwimmen im kalten Fluss beschert ihr ein ganz neues Lebensgefühl.
Elli Kolb ist mit "9 Grad" ein berührendes, authentisches und zeitgeistiges Buch gelungen, das wunderbar aufzeigt, mit welchen Problemen junge Menschen heutzutage kämpfen müssen. Hier werden Themen behandelt, die woanders oft ausgespart werden - extrem schmerzhafte Regelschmerzen, die nahe ans Delirium führen; psychische Erkrankungen, die für den Betroffenen schwer zu fassen und kaum erklärbar sind; stark überhöhte Erwartungshaltungen, die die eigenen Bedürfnisse kaum berücksichtigen und schließlich auch gestörte Körperwahrnehmungen, die durch gesellschaftlichen Druck verursacht werden und das Selbstwertgefühl nicht wachsen lässt. Es sind viele Themen, die angesprochen werden, jedes mit unterschiedlicher Tiefe, was wiederum ein Zeichen der Zeit ist – bei alledem, was alle zu sein, zu wissen, zu tun, zu leisten haben, bleibt nicht immer Raum für Tiefgründigkeit.

Vor allem ist „9 Grad“ aber ein Roman über Freundschaft und Beziehungen, in all ihren Schwierigkeiten und Komplexitäten. Die Ich-Erzählerin, Josie, struggelt mit vielem, hinterfragt viel, vor allem sich selbst und orientiert sich stets an dem verlässlichsten Menschen in ihrem Leben – Rena. Als diese krank wird, beginnt auch sie ihr Leben zu überdenken. Das Baden im 9 Grad kalten Wasser ist ihr Weg, zu sich selbst zu finden, sich selbst und ihren Körper wieder zu spüren, um danach wieder klar zu sein. Sie geht dabei auch über Grenzen und ihre Freundschaften spiegeln ihr unmissverständlich ihre Torheit wieder. Überhaupt – wie hier Freundschaft beschrieben wird, mit Höhen und Tiefen, mit Ausverhandlungen, Streitigkeiten, aber auch innigem Vertrauen, Zuneigung, Spaß, eingehende Auseinandersetzung und Reflexion des Gegenübers, ist genauso herzerwärmend wie treffsicher. Die Figuren im Roman entwickeln sich im Laufe der Geschichte immer weiter und verstehen schlussendlich, dass Loslassen auch ein wichtiger Schritt zur Weiterentwicklung ist.

Mein Fazit: „9 Grad“ ist ein Roman über Freundschaft und Beziehungen – zu anderen und zu sich selbst. Mit äußerst angenehmem Schreibstil porträtiert die Autorin hervorragend beobachtend und authentisch den Zeitgeist und die vielen Facetten der zwischenmenschlichen Interaktion. „9 Grad“ ist eines meiner Lesehighlights aus diesem Jahr und ich kann dieses schöne Buch nur wärmstens empfehlen!

Bewertung vom 20.10.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


gut

Vier Protagonist:innen, die im Laufe der rund 500 Seiten auf vielen Zeit- und Irrwegen zueinanderfinden. Im Zentrum steht der Ozean, aber er ist nur ein kleiner roter Faden durch die Geschichte.
Rafi - ein hochintelligenter, bibliophiler junger Schwarzer, der aus seinem sozialen Milieu ausbricht. Todd, der sein Freund wird, obwohl seine Herkunft nicht unterschiedlicher sein könnte. Sie beide verbindet eine seltsame Art der Freundschaft, die vor allem durch gemeinsames Spielen getragen wird. Diese endet, als der Ernst des Lebens beginnt, doch die intensive gemeinsame Zeit soll sie noch lange beschäftigen. Die Künstlerin Ina wohnt und schafft auf der kleinen französisch-polynesischen Insel Makatea und sieht, wie die Übermacht des Menschen die Natur zerstört. Die Kanadierin Evie lebt für das Tauchen in den Ozeanen, um ihre faszinierenden Geschöpfe kennen- und verstehen zu lernen. Alle sind Teil der großen Veränderungen unserer Zeit. Und ihre Schicksale hängen stärker zusammen, als es möglich schien.

Ich bin mir nach wie vor nicht sicher, wie ich Richard Powers "Das große Spiel" fassen kann. Das Ende ist atemberaubend und lässt mich etwas ratlos, aber euphorisiert zurück. Der Weg dorthin hatte für mich aber teilweise extreme Längen, die auch mit Langeweile und Unmut verbunden waren, sodass ich zwischendurch immer wieder zu einem anderen Buch greifen musste.

Der Schreibstill Powers ist sensationell - wunderschön, philosophisch und stellenweise tiefberührend. In der Erzählung wird zwischen den Protagonist:innen abgewechselt. Todd spricht direkt zu den Lesenden, die anderen Figuren werden aus dritter Person erzählt. Ich habe bei "Das große Spiel" bemerkt, dass ich mit zwei Erzählinhalten nicht sonderlich viel anfangen kann: religiöse Welten - auch wenn es wie in diesem Fall Naturreligionen sind - sowie kapitalistische Narzissten. Beide Erzählstränge (Todd & die Inhalte auf Makatea) fand ich immer wieder sehr mühsam zu lesen, besonders weil sie ziemlich ausschweifend beschrieben werden.

Voll in den Bann gezogen hat mich hingegen die Erzählung um Evie - ihre Beschreibungen der Tauchgänge, was sie dort sieht und fühlt, waren für mich zu tiefst berührend und ich konnte mich zu hundert Prozent in die Figur hineinfühlen. Auch ihre schwierige Beziehung zu anderen Menschen, allem voran ihrem Mann und ihren Kindern, sind absolut nachvollziehbar. Der Aufbau der Freundschaft zwischen Rafi und Todd fand ich ebenfalls gut gelungen, auch weil sie wechselseitig zwischen Todd als Erzähler und der distanzierteren Beschreibung von Rafi geschildert wurde. Der plötzliche Bruch, den die Beziehung der beiden erlitt, kann ich ehrlich gesagt nicht wirklich nachvollziehen. Zudem gibt es einen weiteren Protagonisten - den Bürgermeister von Makatea, der eine wesentliche, wenn auch keine verbindende Rolle in der Geschichte spielt. Seinen Unmut gegen sein eigenes Amt und den damit einhergehenden, zu treffenden Entscheidungen fand ich erfrischend und mitunter sogar lustig.

Die zeitlichen Sprünge sind teilweise so unverhofft, dass es einige Zeilen oder auch Seiten dauerte, bis ich sie halbwegs zuordnen konnte und stellen oft einen Bruch in der Geschichte dar, der für mich ab und an zu konstruiert und unnötig wirkte. Wenig nachvollziehen konnte ich die Gewichtung des Erzählten - weshalb wir z.B. zwar viel über die Entwicklung der Freundschaft von Todd und Rafi und Todds weiteren Werdegang erfahren, allerdings kaum etwas über das Post-Freundschaftsbruch-Leben von Rafi und Ina. Beide bleiben für mich im gesamten leider zu wenig gezeichnete Figuren.

Mein Fazit: "Das große Spiel" besticht mit einer großartigen Sprache und einer interessanten Storyline, die leider immer wieder durch langatmiges Erzählen unterbrochen wird. Die Charaktere werden unterschiedlich ausgearbeitet, die Gewichtung des Erzähltes konnte nicht immer nachvollzogen werden. Trotz einiger Schwachpunkte werden mir die Szenen mit der Taucherin Evie und dem nachhallenden Ende noch lange in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 01.10.2024
Aus dem Haus
Böttger, Miriam

Aus dem Haus


gut

"Aus dem Haus" portraitiert das Leben der Eltern einer namenlosen Erzählerin. Beide sind stets unzufrieden mit dem was ist und mit dem was war, doch je ferner die Erinnerung zurück liegt, desto besser war sie dann doch. Im Mittelpunkt des Unmuts steht das HAUS, das sie errichten ließen, das ihnen von Anfang an nicht genügte, das nur Unglück mit sich brachte.

Der Schreibstil von Miriam Böttger ist grundsätzlich eingänglich und gut zu lesen. Trotzdem ist es mir immer wieder passiert, dass ich ganze Seiten wiederholt lesen musste. Einerseits aufgrund einer gewissen Belanglosigkeit des Erzählten, andererseits weil die vielen Schachtelsätze nicht unanstrengend sind. Die Geschichte könnte lustig sein und sich auch so lesen, wäre es nicht so unendlich traurig, dass eine Existenz scheinbar alleinig auf dem Unzufriedensein beruht. Die Mutter - die zentrale Figur in diesem Buch - ergibt sich ihrem Unglück mit leidenschaftlichem Enthusiasmus und gesteht mit ihrer snobischen und durchaus herrischen Art ihrem Ehemann kein Eigenleben ein. Wenn nicht explizit mehrfach auf die von der Hauptfigur so bitterlich gehassten Stadt Kassel hingewiesen worden wäre, könnte man meinen, es wird in dem Buch eine österreichische Familie karikiert (bei uns in Österreich nennt man diese sehr typische Verhaltensweise "Sudern").

Doch es gibt auch einen ernsten Hintergrund - die Mutter dürfte an einer psychischen Erkrankung leiden, vermutlich einer Depression, die es ihr oft nicht ermöglicht das Bett zu verlassen oder sich an etwas zu erfreuen. Da sie mit ihrer negativen Art ihr ganzes Umfeld vergiftet, ist es mir allerdings nicht gelungen, Mitleid mit ihr zu empfinden. Der Vater hingegen scheint gefangen von dem weit geworfenen Schatten seiner Frau und entwickelt kaum ein Eigenleben. Ihn musste ich bedauern, was aber dem klischeehaften Bild der hysterischen Frau in die Hände spielt. Über die Erzählerin erfahren wir kaum etwas, nur einzelne Häppchen werden den Lesenden vor die Füße geschmissen, ein richtiges Mahl wird daraus aber bis zum Schluss nicht.

Am Ende bleibt das "Warum". Warum war das HAUS so falsch und warum wollten sie dann doch nicht ausziehen? Warum kann es nur sein, dass jemand so unzufrieden ist? Warum trennten sich "die Hohepriesterin des Unglücklichseins und ihr stets williger Gehilfe", wie sie die Autorin auf S. 218 selbst benennt, bei all dem Elend ihrer Ehe nicht? Und generell: Warum wurde dieses Buch geschrieben? Warum war ich nicht permanent genervt?Warum hat es mir doch ein bisschen gefallen es zu lesen? Ich weiß es nicht. Um mit dem Schlusssatz der Autorin zu enden: "Es ist, was es ist."

Bewertung vom 01.10.2024
Dudenkonform gendern ohne Genderzeichen

Dudenkonform gendern ohne Genderzeichen


ausgezeichnet

"Dudenkonform gendern ohne Genderzeichen - eine Anleitung" ist ein kurzes Handbuch zum Gendern der beiden Autorinnen Andrea Görsch und Katja Rosenbohm, das nicht nur äußerst praktisch, sondern auch informativ und gedankenanregend ist. In kurzen Kapiteln bieten die Autorinnen verschiedene Möglichkeiten, wie Sonderzeichen beim Gendern vermieden werden können und zeigen leicht verständliche Beispiele auf. Zu jedem Vorschlag liefern sie auch die Vor- und Nachteile der jeweiligen Ausdrucksweise. Im hinteren Teil des Buches finden sich auch zahlreiche Übungen samt Lösungsvorschlägen, bei denen gleich selbst erprobt werden kann, was zuvor gelehrt wurde. Zudem liefert es auch hervorragende Argumente, weshalb Gendern richtig und wichtig ist. Außerdem gibt es genügend Raum für eigene Notizen.

Ich bin von diesem Handbuch sehr angetan, weil es kurz und prägnant tolle Alternativen für gelingendes Gendern bietet, das vielen Widerrednern und Gegnerinnen der geschlechtergerechten Formulierungen den Wind aus den Segeln nimmt. Auch grafisch ist es sehr ansprechend und übersichtlich gestaltet und die große Schreibweise des Textes baut Barrieren ab. Ich habe das Buch schon im Freundeskreis herumgezeigt und bin auf viel positive Resonanz und Begeisterung gestoßen. Ich kann es nur allen empfehlen, die gerne abwechslungsreich und inkludierend Schreiben und offen für neue Denkanstöße und alternative Schreibweisen sind.

Bewertung vom 30.09.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


ausgezeichnet

Gudelia sieht das Leben an ihr vorbeifließen. In einer tragischen Flut schwimmen nicht nur hunderte von Schweinen an der über-80-Jährigen vorbei, sondern auch Menschenleichen. Alle haben das Dorf verlassen, nur Gudelia bleibt in ihrem geliebten Haus. Schließlich verbirgt sich dort ein wohl gehütetes Geheimnis, das nicht ans Licht kommen sollte...

Thomas Knüwer gelingt mit "Das Haus in dem Gudelia stirbt" ein schwarzhumoriger und kurzweiliger Debutroman, der im Entfernten an einem Krimi erinnert, in Wahrheit aber die jahrelange, festsitzende Trauer der Hauptprotagonistin nachzeichnet. Sie hat vor vierzig Jahren ihren Sohn verloren und ist über dessen Tod nie hinweggekommen. In drei Erzählzeiten, nämlich 1984, 1998 und 2024, erfahren wir mehr über das Leben der alten, eigenwilligen Dame, die auf den ersten Blick bösartig erscheint, eigentlich aber ob der ihr passierten Schicksalsschläge eine gebrochene Frau ist. Sie wirkt hart, berechnend und zielstrebig, in ihr weilt aber eine zarte Seele, die sie mit aller Macht verdrängen möchte. Der Autor legt viele Fährten, um den Lesenden genügend Stoff zum Spekulieren um das Geschehene zu bieten und auch wenn einige im Sande verlaufen oder sich als irrelevant herauskristallisieren, ist es doch eine Freude den Gedankengängen der Protagonistin zu folgen. Etliche Vorkommnisse muten krankhaft an und wer keinen Sinn für morbiden Humor hat, sollte um dieses Buch einen großen Bogen machen.

Der Autor besticht regelmäßig mit einer Flut an einfallsreichen, auch tiefgründigen Aussagen und kreativen Metaphern, die oft mit Humor gespickt sind. Seine Sätze sind immer wieder abgehakt, bestehen mitunter aus nur zwei Wörtern und wurden mitunter hart formuliert, das verleiht dem Roman eine ganz eigene Sprachatmosphäre. Beispiele dafür sind: "Ich schreie. Aus voller Kehle. Schreie das Wasser an, das sich nicht für mich interessiert." (S. 286) oder "Ullmann sagt viel und nichts. Das CDU-Feuerzeug, dass er mir letzten Sommer geschenkt hat, wird sein wertvollster Beitrag zu meinem Leben sein." (S. 211) oder "Früher, als Kinder, mussten wir draußen spazieren gehen, damit das Christkind die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen konnte. Heute gehe ich raus, damit mein Mann sich volllaufen lassen kann. Geheimnisse ändern sich." (S. 79) Das Ende ist in gewisser Hinsicht offen, was einigen unbefriedigend erscheinen mag, für mich hätte es aber keinen passenderen Abschluss der Erzählung geben können.

Mein Fazit: "Das Haus in dem Gudelia stirbt" ist ein morbides Psychogramm einer alternden Frau, die nie über den Verlust ihres Sohnes hinweggekommen ist. Es überzeugt durch einen eigenwilligen Schreibstil mit Tiefe, Humor, Übertreibungen und wunderschön formulierten Sätzen und teils abstrusen Handlungen. Ein absolutes Lesemuss für alle, die morbid-humorvolle und etwas abwegig erzählte Geschichten lieben.

Bewertung vom 25.09.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Arthur hat ein besonderes Talent - sein Erinnerungsvermögen ist außergewöhnlich, jeder Tag seines Lebens ist ihm geistig präsent. Geboren in Londons Armenvierteln des 19. Jahrhunderts, verschafft ihm seine Gabe im Laufe der Zeit gesellschaftlichen Aufstieg. Alles was er will, ist Ninive zu erforschen, jene Stadt Mesopotamiens, die durch steinerne und tönerne Artefakte der Nachwelt erhalten geblieben ist und dessen gefundene und geborgene Schätze die Aufmerksamkeit der interessierten englischen Bevölkerung auf sich zieht. Arthur kann sich die Keilschrift beibringen und erhält den Auftrag des British Museums hunderte Tontafeln zu enträtseln. Nach einer sensationellen Entdeckung scheint Arthur sein Ziel erreicht zu haben: er wird beauftragt, in sein umträumtes Mesopotamien zu reisen, um dort fehlende Textbausteine zu suchen.

Gut 150 Jahre später entdeckt die neunjährige Jesidin Narin auf einem alten Friedhof am Tigris den Grabstein des Engländers und fragt sich, was es mit diesem "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere" auf sich hat. Wie ist ihr Schicksal miteinander verbunden?

Auch die Hydrologin Zaleekah scheint mit den beiden ein Band zu haben, aber das ist lange nicht ersichtlich. Sie kämpft mit der Trennung von ihrem Mann und mit den Erwartungen ihrer Familie, welche sie scheinbar nicht erfüllen kann. Was alle vereint ist ein einziger Tropfen Wasser.

Elif Shafak schafft in "Am Himmel die Flüsse" einen einfühlsamen und schönsprachigen Roman, der durch die unterschiedlichen Zeiten springt und die drei Handlungsebenen schlussendlich stimmig miteinander vereint. Alle Protagonist:innen werden zeitgenössisch portraitiert, sodass es ein Leichtes ist, sich in deren Situation hineinzuversetzen. Die Sprache Shafaks ist oft tiefgründig und philosophisch, oft regt sie zum Nachdenken an. Einer der vielen Beispiele: "Arthur kommt der Verdacht, dass wir mit dem Wort Kultur das wenige bezeichnen, das wir vor einem Verlust retten konnten, an den sich niemand erinnern will." (S. 423)

Vor allem die Geschichte um Arthur, die am ausführlichsten erzählt wird, hat mich in den Bann gezogen. Spannend ist, dass seine Figur eine reale, historische Person als Vorbild hat, auch weitere Protagonist:innen sind an historische Persönlichkeiten angelehnt, wie uns die Autorin im Nachwort ausführlich wissen lässt. Nichtsdestotrotz hat der Roman seine Längen. Besonders die Geschichte um Narin enthält viele Schilderungen, welche die Jesidische Kultur erklären. Zwar finde ich das grundsätzlich äußerst interessant, hier hat mich die Autorin aber aufgrund des Detailreichtums um den (Aber-)Glauben oft verloren, ich empfand es als irrsinnig langatmig und musste das Buch regelmäßig zur Seite legen. Oft habe ich mich gefragt, weshalb sich die Autorin dazu entschieden hat, drei Charaktere in den Fokus zu nehmen. Besonders Arthur, aber auch Zaleekah hätten einen eigenen Roman verdient, ich hätte gerne noch mehr über sie gewusst. Für dieses Buch hätte ich mir aber manchmal etwas knappere Beschreibungen gewünscht, da etliche Schilderungen für den Fortgang der zusammenhängenden Geschichte nicht unbedingt notwendig gewesen wären und für meinen Geschmack eine gewisse Langatmigkeit geliefert haben.

Die Beobachtungen der unterschiedlichen Kulturen und deren Aufeinandertreffen sind Shafak besonders geglückt und hat mich viel darüber gelehrt. Das Buch ist grundsätzlich sehr lehrreich, neben den Kulturen und der mesopotanischen Geschichte, erfahren die Lesenden auch viel über Wasser und Flüsse und wie der Mensch diese geprägt und/oder versucht hat zu unterdrücken. Im Nachwort erfahren wir, dass die Autorin umfangreich recherchiert hat und setzt das Erzählte somit auf eine fundierte Wissensbasis.

Mein Fazit: Am Himmel die Flüsse ist ein schönsprachiger und gedankenanregender Roman auf drei Erzählebenen, der die drei Schicksale der Protagonist:innen langsam aber stimmig zusammenführt. Ein Stück weit betrachtet er unterschiedliche Kulturen, ist sehr lehrreich und philosophisch, weißt aber durch ab und an auftretenden Detailreichtum auch seine Längen auf. Trotzdem: eine absolute Leseempfehlung!