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Benutzername: 
Kwinsu
Wohnort: 
Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 49 Bewertungen
Bewertung vom 16.07.2024
Die Sache mit Rachel (eBook, ePUB)
O'Donoghue, Caroline

Die Sache mit Rachel (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Cork in den 2010er Jahren. Rachel ist gerade dabei mit ihrem Literaturstudium am College fertig zu werden. Sie durchlebt die prägendste Zeit ihres Lebens, das getragen wird von Freundschaft, Liebe und dem Erwachsenwerden. Sie lebt zusammen mit ihrem neu gefundenen, schwulen besten Freund James zusammen, beide arbeiten in einer Buchhandlung, haben kaum Geld, verstehen es aber trotzdem sich zu amüsieren. Ihre Freundschaft ist resistent gegenüber den vielen Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt und ist so eng, dass sie manch anderen Beziehungen im Weg zu stehen scheint. Gemeinsam planen die beiden nach London auszuwandern, doch schlussendlich kommt alles anders...

Caroline O'Donoghue erzählt die Geschichte ihrer Protagonistin rückblickend. Eingeleitet wird mit der schwangeren Rachel, die in einem Pub auf jemanden trifft, der sie an ihren Literaturprofessor erinnert. Damit beginnt die Rückschau auf Rachels 20er-Jahre. Die "junge" Rachel war für mich anfänglich etwas schwer zu ertragen. Sie wirkte auf mich naiv, unentschlossen und fahrig und ich konnte nicht wirklich nachvollziehen, weshalb die Freundschaft zwischen ihr und James so etwas besonders sein sollte. Das klärte sich für mich erst im Laufe der Geschichte, in der die beiden mir ziemlich ans Herz gewachsen sind. Gekonnt beschreibt die Autorin für mich, wie sich die Charaktere entwickeln, wie sie gefestigter werden in dem was sie erleben und wie sie wachsen. Besonders gut hat mir aber gefallen, wie der Zeitgeist thematisiert wird: (Indie-)Musik, Filme, Bücher und Serien spielen für die Hauptcharaktere eine wesentliche Rolle, dienen sie doch irgendwie als Mittel aus der Tristesse der Provinzstadt zu entfliehen, wenn auch nur im Geiste. Vor allem gibt es ein Zitat, dass mir als Musik- und Konzertfan langfristig hängen bleiben wir, trifft es doch den Kern, wie sich das Leben in seinen unterschiedlichen Fassetten im Laufe der Jahre verändert: "Er war noch Mitte dreißig und kinderlos, und so kamen er und Deenie viel herum. Wir trafen sie bei einem Konzert von Goldfrapp. Sie besuchten es so, wie ich jetzt mit meinem eigenen Mann zu Konzerten gehe - etwas Spaß, zuerst Abendessen, um elf zu Hause, eine gemeinsame Beschäftigung. Es gibt nur eine kurze Zeitspanne im Leben, in der man Konzerte mit wirklich spiritueller Hingabe besuchen kann." (S. 79 jm E-Book)

Neben dem Zeitgeist werden die unterschiedlichen (irischen) gesellschaftspolitischen Aspekte dieser Zeit thematisiert. Sei es die Schwierigkeit einer Abtreibung für irische Frauen, die Rezession, die fast alle Gesellschaftsschichten plagte oder die Struggles, die queere Menschen und ihre Angehörigen durchmach(t)en. Auch die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen und die religiöse Prägung finden, wenn auch nur dezent, ihren Eingang in die Geschichte. Trotz vielfältiger Thematiken handelt es sich bei "Die Sache mit Rachel" doch vorwiegend um einen Roman, der die Herausforderungen unterschiedlicher Beziehungen während der Zeit als junge Erwachsene beschreibt.

Mein Fazit: "Die Sache mit Rachel" ist ein kurzweiliger Roman über das Erwachsenwerden und die vielfältigen Beziehungen dabei, der den popkulturellen und gesellschaftspolitischen Zeitgeist (Irlands) in den 2010er-Jahren widerspiegelt. Besonders für Menschen der Generation Y weckt er viele Erinnerungen und mit seinem eingängigen Schreibstil ist er die perfekte Lektüre für Zwischendurch.

Bewertung vom 01.07.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


ausgezeichnet

Frie und Robert werden in den späten 1980er Jahren an der Oberstufe beste Freunde. Doch während sie ihre Freundschaft genießt, ist Robert heimlich in Frie verliebt. Im Laufe der Jahre verlieren sie sich immer wieder aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. Immer wieder kommt es bei verschiedenen Wiedersehen zu intimen Momenten, aber der Zeitpunkt ist nie der richtige, um sich ganz aufeinander einzulassen. Doch ohne einander geht es irgendwie auch nicht...

Julia Karnick nimmt uns in "Man sieht sich" in einen ganz besonderen Mikrokosmos mit - den einer innigen und komplizierten Freundschaft. Frie ist abenteuerlustig, unbedarft und geht offen, aber auch ein wenig naiv in die Welt. Robert ist ernst, weiß was er will und was nicht und hat konkrete Ziele vor Augen. Beide scheinen grundverschieden, haben aber gegenseitiges Vertrauen zueinander. Auch wenn sie sich Jahre nicht sehen, keimt zwischen ihnen sofort wieder das vertraute Gefühl der Geborgenheit auf.

Frie ist ab und an schwer von Begriff, kompliziert und sehr selbstfokussiert, ich empfand sie teilweise als sehr nervig, wollte sie packen und schütteln. Oft hat sie Angst vor dem Leben und steht sich selbst dabei im Weg. Robert ist der ruhende, unprätentiöser Pol, der sich aber nicht alles gefallen lässt und gut weiß auf sich selbst zu schauen. Wie ein Magnet ziehen sie sich an und können doch nicht miteinander.

Was ich sehr wunderbar an dem Buch fand, ist, dass es um Liebe geht, ohne dabei kitschig und romantisch zu sein. Die Beobachtungen, die die Autorin über ihre Protagonist:innen anstellt, sind unaufgeregt und etwas distanziert, was die Charaktere sehr authentisch wirken lässt. Speziell Roberts Charakter ist für mich besonders geglückt. Er ist vielseitig aber doch sehr klar. Er leidet unter seiner (psychisch) erkrankten Mutter, ohne ihr dafür einen Vorwurf zu machen, was von einer tiefen Reife zeugt. Besonders schön fand ich das immer wieder stattfindende Aufeinandertreffen von Robert und Herrn Selk, einer Freundschaft, bei der Robert die Regeln dieser akzeptiert wie sie sind und sich nichts von ihr erwartet, sondern einfach seine Zeit zur Verfügung stellt.

Speziell ist in "Man sieht sich" auch das immer wiederkehrende Thema der Popmusik, was nicht nur daran liegt, dass Robert Musiker ist. Stets begleitet einen ein Soundtrack, Musik hat einen festen Platz im Leben der Protagonist:innen. Schließlich gibt es auch einen gemeinsamen Song, der vielleicht das einzig kitschige Element an der Geschichte ist. Besonders schön finde ich, dass am Ende des Buchs eine Tracklist mit allen relevanten Songs der Story aufgeführt sind - für meinen Geschmack eine hervorragende Compilation!

Die Geschichte der beiden wird chronologisch erzählt, wobei immer wieder größere Zeitspannen übersprungen werden. Gekonnt webt die Autorin das zwischenzeitlich Geschehene in die weitererzählte Story ein, sodass ich nie den Eindruck hatte, etwas verpasst zu haben. Trotzdem der Roman fast 500 Seiten umfasst, liest er sich aufgrund des angenehmen und kurzweiligen Erzählstils wie ein dünnes Büchlein. Die Autorin schafft es Bilder zu zeichnen, die einem lang in Erinnerung bleiben.

Mein Fazit: "Man sieht sich" ist ein großartiger Roman über Freundschaft und Liebe, der beinahe ohne Kitsch auskommt. Die Charaktere sind vielfältig und authentisch gezeichnet und der ansprechende Erzählstil lässt einen nur so durch die Seiten rasen. Eine perfekte Sommerlektüre, die lange in Erinnerung bleibt.

Bewertung vom 11.06.2024
Und dann verschwand die Zeit
Greengrass, Jessie

Und dann verschwand die Zeit


ausgezeichnet

Die Welt, von der Klimakatastrophe stark gebeutelt, scheint keine Ruhe zu finden. Francesca, eine Klimaexpertin, sieht das Ende nahen und schafft für ihre Familie in einiger Abgeschiedenheit einen Rückzugsort, der ein existenzsicherndes Leben längst möglich garantieren soll. Sie selbst überlebt nicht, aber vier Protagonist:innen treffen dort auf "High House" zusammen: Grandy und dessen Enkeltochter Sally, sowie Caro und dessen Bruder Pauly. Gemeinsam versuchen sie gegen die Bedrohung der alles vernichtenden Flut zu überleben.

Jessie Greengrass hat mit "Und dann verschwand die Zeit" eine berührende Dystopie geschaffen, die vorwiegend in das Alltagsleben der Überlebenden eintaucht. Das belastete Verhältnis von Caro zu ihrer Stiefmutter Francesca wird ebenso thematisiert, wie die Monotonie des Überlebenskampfes. Die kurzen Kapitel werden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt - mal verfolgen die Leser:innen Caros Sicht, mal jene von Sally und zwischendurch tritt Pauly in den Mittelpunkt der Erzählung. Dies hat zur Folge, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Protagonist:innen verdeutlicht werden und ein Eintauchen in die jeweilige Gedankenwelt ermöglicht wird. Die Atmosphäre ist melancholisch, aber wirkt nur selten bedrohlich. Vielmehr versuchen die Charaktere sich von dem drohenden Weltuntergang dadurch abzulenken, dass sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Die Verhältnisse zueinander wirken distanziert und doch sind sie auf eigene Weise füreinander da. Die zwischenmenschlichen Herausforderungen scheinen oft das Bedrohendste ihrer Situation zu sein. Spannend ist auch, dass hier unterschiedliche Lebensalter mit entsprechend unterschiedlicher Lebenserfahrung aufeinandertreffen. Besonders berührend ist die Rolle von Pauly, der noch ein Kind ist und sich die Welt zurecht rückt, indem er mutmaßlich die Fürsorge für ein Reiherpärchen übernimmt. Langsam verschwinden alle Menschen aus der Umgebung - genauso wie alle Tiere und die Vorräte, die Francesca eigentlich zur Genügen angelegt hat. Die Bedrohung der untergehenden Natur rückt bedächtig näher, um die Protagonist:innen schlagartig zu überfallen. Greengrass Sprache ist beinahe poetisch, kühl und unzugänglich, aber dennoch zieht sie eine:n in den Bann und schafft eine Atmosphäre, die die Lesenden vollends einnimmt.

Mein Fazit: "Und dann verschwand die Zeit" ist eine äußerst gelungene Dystopie mit einer ganz besonderen Atmosphäre. Gekonnt verwebt die Autorin den drohenden Weltuntergang mit einer einfühlsamen, aber distanziert wirkenden Geschichte über einen langsam dahinschleichenden Existenzkampf einiger Protagonist:innen. Das Buch ist eines, mit dem man sich intensiv auseinandersetzen kann und das einen hoffen lässt, dass wir die Kurve in eine bessere Zukunft doch noch nehmen können. Ein absolutes Lesehighlight!

Bewertung vom 10.06.2024
Kaleidoskopische Welten (eBook, ePUB)
Schrittweise, Dario

Kaleidoskopische Welten (eBook, ePUB)


gut

Dario Schrittweise veröffentlicht in seinen "Kaleidoskopische Welten" unterschiedliche Kurzgeschichten, Miniaturen und szenische Texte, die unabhängig und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Oft geht es um Begegnung von Menschen, um die Arbeitswelt und darum, aus dem immer gleichen Trott auszubrechen. Jede Geschichte, jeder Text versucht eine Moral oder Erkenntnis mit auf den Weg zu geben. Mir persönlich war das oft zu plakativ und erschien mir zu gewollt, irgendwie hatte ich auch das Gefühl, dass die Geschichten für mich nicht ganz "aufgingen". Auch der Fokus auf die (Büro-)Arbeitswelt konnte mich nicht mitnehmen. Der Schreibstil hat mich ebenfalls nicht eingenommen. Allerdings gibt es eine Ausnahme: die Kapitel in "Fantastisches und Märchenhaftes" - diese fand ich wirklich gut, sehr kurzweilig und ich glaube, dass es sich bei diesen Texten lohnen würde, größere Geschichten daraus zu generieren - ich würde jedenfalls gern mehr davon lesen!

Das alles ist aber natürlich nur mein persönlicher Geschmack und wie andere Rezensionen zeigen, kommen die Texte bei anderen sehr gut an.

Bewertung vom 10.06.2024
Der König und der Uhrmacher
Indriðason, Arnaldur

Der König und der Uhrmacher


ausgezeichnet

Der isländische Uhrmacher Jón Sívertsen setzt sich in den Kopf, die Uhr des bekannten Uhrenkünstlers Habrecht zu reparieren, welche im Kopenhagener Königspalast sein zerstörtes Dasein fristet. Womit er nicht rechnet, ist, dass er dabei plötzlich von König Christian VII. heimgesucht wird. Dieser wünscht, Jóns Familiengeschichte zu erfahren, denn dessen Vater hat in Island ein tragisches Ende gefunden, woran des Königs Vater seine Mitschuld trug. Zwischen den ungleichen Männern entsteht eine besondere Form der Freundschaft und Jón erzählt in ausführlicher Weise die tragischen Ereignisse aus den isländischen Westfjorden, was den Palast in große Aufruhr versetzt...

Nachdem ich ein großer Fan von Arnaldur Indridasons Krimis - vor allem der Erlendur-Reihe - bin, war ich schon sehr gespannt auf diesen historischen Roman aus seiner Feder. Und auch die Lektüre von "Der König und der Uhrmacher" hat wieder große Lesefreude bereitet. Zwar war mir anfänglich die Figur des Königs Christian VII etwas suspekt - er ist mir mit seinem hochmütigen Gehabe ziemlich auf die Nerven gegangen - aber im Laufe der Geschichte(n) wurden auch diese Vorbehalte beseitigt. Indridason schafft es eine ganz eigene Freundschaft dieser beiden ungleichen Männer sprießen zu lassen, bei der sich erstaunlicherweise immer wieder eine gewisse Augenhöhe einstellt. Die kurzen Kapitel wechseln sich ab: einmal wird über Jón, den König und ihre Interaktion berichtet, das andere Mal erzählt Jón die Geschichte seines Vaters in den isländischen Westfjorden. Besonders in den Island-Kapiteln erzeugt Indridason diese ihm ganz eigene, minimalistische Atmosphäre, die mich emotional direkt in die isländische Landschaft versetzt und mich die Figuren wie eine beobachtende Fliege miterleben lässt. Obwohl man von Anfang an weiß, wie die erzählte Geschichte enden wird, fiebert man bis zum Schluss mit und hofft, dass sie doch noch ein anderes Ende nehmen wird. Aber auch die Szenen in Kopenhagen sind sehr eindringlich und das Kopfkino wird lebendig angeregt. Obwohl nicht viel preisgegeben wird von der Kopenhagener Welt, konnte ich mir doch die Habrechtsuhr, Jóns Werkstatt und einige andere Schauplätze sehr gut vorstellen. Die ganze Geschichte hat trotz einiger Tragik auch ihre humorvollen Seiten. Indridasons Stil empfinde ich eher als kühl und distanziert, so als würde er sich an die Landschaften seiner Erzählung anpassen.

Mein Fazit: "Der König und der Uhrmacher" ist ein großartiger historischer Roman mit ganz eigener Atmosphäre, ohne Pathos und Kitsch, dafür mit viel Glaubhaftigkeit. Der kühle, distanzierte und doch eindringliche Stil ist sicher nicht jedermann's/jederfrau's Geschmack, für mich als Liebhaberin nordischer Literatur ist er Seelenbalsam und Erzeuger von lebhaftem Kopfkino. Kleiner Tipp: um die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, ist ratsam, sich vorab NICHT mit der Biographie König Christian VII. auseinanderzusetzen, das ist im Anschluss viel erhellender!

Bewertung vom 24.05.2024
Der Junge und die Kakerlake
Maxwell, Matthew

Der Junge und die Kakerlake


ausgezeichnet

Der Junge sieht eine Kakerlake und ekelt sich sehr - er hat gelernt, dass dieses Getier verabscheuungswürdig ist. Doch plötzlich beginnt er zu reflektieren - vielleicht ist nicht die Kakerlake falsch, sondern das, was er glaubt über sie zu wissen. Und er beginnt zu erkennen, dass es sich lohnt, über festgefahrene Glaubenssätze nachzudenken.

"Der Junge und die Kakerlake. Ein Buch für alle, die frei sind und es noch nicht wissen" ist ein sehr spezielles Buch und sicher nicht für jeden und jede geeignet. Es ist für Menschen, die bereit sind, über ihren eigenen Horizont nachzudenken und ihren Blickwinkel zu ändern. Der Junge, der in Wahrheit ein Erwachsener ist, ist geprägt von seinen Erfahrungen und glaubt fest daran, dass alles so ist, wie es ist. Bis er diese besondere Begegnung mit der Kakerlake hat, die ihm vor Augen hält, wie sehr Vorprägungen unser Tun beeinflussen. In kurzen Kapiteln, welche durch eindrucksvolle Illustrationen von Allie Daigle begleitet werden, durchlaufen die Leser:innen alle Ängste und Sorgen, die sich im Laufe des Lebens in dem Jungen (und im Endeffekt in vielen Menschen) angesammelt haben. Zum Ende jedes Kapitels reflektiert der Junge, weshalb er über eine Sache so denkt wie er denkt, erinnert sich an das Bild der Kakerlake und kommt zu dem Schluss, dass es sich lohnt, die Situation neu zu bewerten. Etwas gebetsmühlenartig wiederholt sich die Rekapitulation immer und immer wieder, was für manche Leser:innen etwas mühsam sein könnte, für mich war es aber schön, weil es mir einprägsam vor Augen hält, dass man sich immer an das Positive erinnern sollte, damit man schließlich aus dem vorgeprägten, oft negativen Gedankenkonstrukten entkommen kann. Besonders gut hat mir am Schluss gefallen, wie der Autor Matthew Maxwell in einem Nachwort erklärt, was ihm ein Ansporn für das Verfassen dieses Büchlein gab - es sei so viel verraten, dass er es seinen Kindern und Kindeskindern widmet.

Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, welche Zielgruppe der Autor im Kopf hatte - ich finde es ist wichtig, eine gewisse Offenheit und eine Reflektionsgabe mitzubringen, um das Buch verstehen zu können. Wahrscheinlich hatte der Autor auch depressive Menschen im Kopf und es ist ganz klar, dass das Büchlein nur ein kleiner Anstoß sein kann, um aus negativen Gedankenspiralen zu entfliehen. Doch es ist ein guter und sympathischer Versuch, den Teufelskreis der schlechten Gedanken ein wenig zu unterbrechen.

Bewertung vom 21.05.2024
Wo Milch und Honig fließen
Zhang, C Pam

Wo Milch und Honig fließen


ausgezeichnet

Die namenlose Erzählerin befindet sich in einer Zeit, in der ein furchtbarer Smog die Erde überströmt und den Großteil von Flora und Fauna ausgelöscht hat. Die Menschheit überlebt, doch muss sie sich fast ausschließlich von Mungobohnenprotein ernähren. Einzige Ausnahme ist ein Berg in Italien: hier haben sich Superreiche angesiedelt, die neben frischer Luft auch viele Tierarten zur Verfügung haben, welche dort durch ein Labor wieder zum Leben erweckt worden sind. Die Reichen in ihrer Dekadenz essen was ihnen unter die Finger kommt, seien es die letzten noch lebenden Schimpansen oder längst ausgestorbene Mammutüberreste. Die Erzählerin arbeitet dort als Köchin und letztlich auch Schauspielerin, muss sie doch die Frau jenes Mannes mimen, der allen Reichen Investitionen in eine Insel der Seligen abluchsen will. Und sie fängt eine ungestüme Affäre mit dessen Tochter Aida an. Sie arbeitet nur einen Sommer dort, doch dieser sollte den Rest ihres Lebens verändern...

"Wo Milch und Honig fließen" ist eine Dystopie, die dystopischer kaum sein könnte. Doch irgendwie ist sie anders. Die Menschen scheinen kaum Interesse daran zu haben, den Zustand der Erde wieder zu verbessern. Nein, die Reichen wollen unter sich bleiben und alle anderen scheinen sich mit der Situation abgefunden zu haben. Doch die Welt als Gesamtes hat in dieser Geschichte ohnehin nicht viel Bedeutung, viel mehr beschreibt die Erzählerin ihren Alltag am Berg - das Zubereiten von den verschiedensten Tieren, das Verschwenden von Nahrungsmittel, die dekadentesten Abendmahle, das grausamste Gesicht der Menschen, denen es nur um ihr eigenes Wohl geht. Am Berg gibt es ein ganz eigenes System und die Erzählerin passt sich - zwar nicht bereitwillig aber doch - an dieses an, fügt sich, lässt alles geschehen. Zentral ist ihre Beziehung zu Aida, die zerstörerisch, aber leidenschaftlich ist. Schmerzhaft ist die mutmaßliche Empathielosigkeit und Gleichgültigkeit, sowohl von der Erzählerin, als auch von allen anderen beschriebenen Charakteren. Ich konnte das Buch nicht auf einmal lesen, sondern brauchte Monate dafür - so mitgenommen war ich oft von der Dekadenz und der Wurschtigkeit. Aber loslassen konnte ich das Buch trotzdem nicht. Es ist in einer genialen Sprache verfasst und die Charaktere und Atmosphäre sind so speziell, dass sie sich nachhaltig ins Gedächtnis brennen. Die Geschichte plätschert dahin, ist langatmig und der Alltag scheint sich in einem fort zu wiederholen. Doch der letzte Teil ist dann rasant, mit vielen Wendungen und einem grandiosen Finish. Plötzlich versteht man alles und weiß, dass es doch um so viel mehr ging, als nur um den einen Sommer am Berg.

Mein Fazit: "Wo Milch und Honig fließen" ist wahrlich kein einfacher Roman. Es ist eine Dystopie, welche die dunkelsten Seiten der Menschheit aufzeigt. Die Autorin brilliert mit einer ganz speziellen, etwas trägen Sprache und versteht es schräge Charaktere einprägend zu beschreiben. Das Lesen tut oft weh, aber das grandiose Finale belohnt einen fürs Durchhalten. Ein wirklich spezieller Lesegenuss!

Bewertung vom 21.05.2024
Fucking Famous
Hashagen, Anne

Fucking Famous


sehr gut

Lotte fehlt der Kick in ihrem Leben - ihr Bürojob langweilt sie und enttäuscht muss sie feststellen, dass ihr Sachbuch über Tinder floppt. Ihre Freundin Tessa hat die zündende Idee - sie will Lotte zu einer angesagten Influencerin machen. Und tatsächlich gelingt der Plan, wenn auch anders, als Lotte sich das gedacht hat...

Ich bin mir ehrlich gesagt nach wie vor nicht sicher, was ich von diesem Roman halten soll... Den Titel und das Cover finde ich eher furchtbar, nichtsdestotrotz habe ich in das Buch reingelesen und fand den Schreibstil, den Aufbau und das Thema der Geschichte irgendwie reizvoll. Ich habe es gern gelesen, war fasziniert von dieser absurden Influencer-Welt, und bin mir doch nicht sicher, was dessen Kernaussage sein soll (wenn eine solche überhaupt intendiert ist). Nach Beendigung und einigen Tagen des Nachdenkens darüber hab ich immer noch etliche Fragezeichen im Kopf...

Die Protagonistin lässt sich von ihrer Freundin instrumentalisieren und digital bearbeiten - eigentlich ist ihr klar, dass das Online-Ich mit dem realen Ich nur sehr wenig zu tun hat. Sie lässt sich in diese Welt der Oberflächlichkeiten hineinwerfen, spielt mit, hat (wie der Titel schon sagt) doch auch sehr Spaß dabei, reflektiert diese (Schein-)Welt aber auch treffend, teils sarkastisch, und belächelt das ganze. Zudem trinkt Lotte ziemlich viel Alkohol, schießt damit oft über das Ziel hinaus, sodass ich mir nicht sicher bin, ob sie das macht, um tatsächlich den Spaß zu haben, den sie will oder doch um diese jämmerliche Welt von Sein und Schein erträglicher zu machen... Die Freundschaften, die sie hat oder hatte, scheinen ebenso auf Oberflächlichkeiten zu beruhen, anders kann ich mir nicht erklären, weshalb sie diese auch so sang und klanglos vergehen lässt. Andererseits hat Lotte viel Mitgefühl, was ihr nicht so nahestehende Menschen betrifft. Ihre Analysen der Social Media- und Influencer:innen-Welt sind treffend und ihr scheint sehr bewusst zu sein, dass es dort eigentlich nur um Manipulation und Geschäft geht. Schließlich: "Nur Aufmerksamkeit hat noch einen Wert." (S. 292) Trotzdem spielt Lotte mit, lässt sich sogar von ihrer Freundin überwachen, ohne dies groß zu hinterfragen. Kommt schlussendlich in eine äußerst brenzlige Situation, die sie kaum tiefer sinken lassen kann. Doch das Ende ist irgendwie genial und das Ziel der beiden Freundinnen scheint erreicht zu sein...

Der Roman ist eine Mischung aus Gesellschaftsbeobachtung und philosophischen Gedankengängen, gepaart mit einem sich Aneignen und Leben von Oberflächlichkeit und scheinbarer Beliebtheit. So kommen schlaue und schwarzhumorige Aussagen wie "Nein, die Looser [sic!], die Zurückgelassenen, die Ewig-Zweiten, die, die im Schatten stehen, die sind ironisch, nämlich um ihre Position der Schwäche ein wenig erträglicher zu gestalten. Ich verdränge den Gedanken gleich wieder, denn Ironie ist mein Steckenpferd." (S. 86) genauso vor wie irritierende Vorurteile wie "[...] und wir stoßen nochmal an mit den Skinny Bitches. [...] Alkohol, der gut für die schlanke Linie ist, einfach großartig. Ich muss an Adipöse denken, die sich ihren Schokoladenkonsum schönreden, weil Kakaobohnen so gut fürs Herz sind. Jeder lebt in seinem eigenen Märchen." (S. 101)

Genau dieser Wiederspruch zwischen genialen Analysen der (Online-)Gesellschaft und dem mutmaßlichen Anbiedern an Oberflächlichkeit und Ruhm machen "Fucking Famous" für mich so ungreifbar. Und ich frage mich: ist das alles nur ein schlechter Scherz oder doch ein scherzhaft vorgehaltener Spiegel? Eins ist jedoch sicher - so schnell vergessen werde ich dieses Buch sicher nicht!

Bewertung vom 05.05.2024
Was der See birgt / Ermittlungen am Gardasee Bd.1
Koppelstätter, Lenz

Was der See birgt / Ermittlungen am Gardasee Bd.1


gut

Gianna ist Polizeireporterin bei einer Lokalzeitung am Gardasee. Ihr Leben, das vom Verschwinden ihres Vaters vor einem Jahr und dem Zerwürfnis mit ihrer Mutter geprägt ist, nimmt einen unerwarteten Verlauf, als ein junger Mann tot am See aufgefunden wird: mit Filippo hatte Gianna seinen letzten, lebenden Abend verbracht... Nun setzt sie alles daran, den rätselhaften Mord an ihm aufzuklären...

Lenz Koppelstätter startet mit "Was der See birgt" eine neue Krimireihe um die junge Polizeijournalistin Gianna Pitti. Sein Schreibstil ist unterhaltsam und kurzweilig. Die kurzen Kapitel beschreiben abwechselnd die Erlebnisse von Hauptprotagonistin Gianna, aber auch von deren Chefin Elvira und ihrem Onkel, dem Marchese. Besonders am Anfang führt er die Figuren, als auch die Landschaft rund um den Gardasee ausführlich ein, was einem beides sehr gut näherbringt und gut in die Geschichte starten lässt. Der Fall selbst baut sich nur langsam auf, was aber der Lesefreude keinen Abbruch tut. Vor allem der schrullige Onkel von Gianna hat einen einnehmenden Charakter und interessant ist, dass er mit einer beginnenden Demenz zu kämpfen scheint. Gianna wird als ehrgeizige, interessierte und engagierte Journalistin beschrieben, ihre Vorgesetzte Elvira hat zwar eigene Kapitel, kommt aber in der Beschreibung etwas zu kurz.

So nett der Anfang war und sich der Fall entwickelt, so enttäuschend war für mich der Showdown im letzten Drittel. Hier wird verpackt, was nur hineingestopft werden kann, die Ereignisse und handelnden Personen überschlagen sich, es passiert sehr, sehr viel, einiges, was meines Erachtens einer Erklärung bedürfte, wird nur angedeutet, viel zu schnell werden Erklärungen hin geklatscht. Es ist gar nicht so leicht, den Überblick über alles zu behalten, so vieles passiert. Ja, natürlich wird der Fall aufgeklärt, für meinen Geschmack aber viel zu schnell und viel zu dicht. Hier hätte sich der Autor ruhig 100 Seiten mehr Zeit lassen können, sodass die Story eine ordentliche Abrundung erhalten, die die vielen Facetten der Geschichte in Ruhe aufgelöst hätte.

Mein Fazit: "Was der See birgt" ist ein kurzweilig geschriebener Krimi, der seine Charaktere und die Kulturlandschaft rund um den Gardasee eindrücklich einführt. Das angenehm gemächliche Tempo der ersten zwei Drittel geht aber leider in einem viel zu opulent verpackten Showdown komplett verloren und die Geschichte hätte sich nach meinem Dafürhalten noch 100 Seiten mehr verdient. Lust auf den Gardasee und auch auf eine Fortsetzung macht er trotzdem.

Bewertung vom 05.05.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Odile ist 16 Jahre alt und lebt in einem begrenzten Tal - es ist abgeschirmt durch strikte Grenzzäune und keinem ist es erlaubt, diese zu überschreiten. Außer die Bewohner:innen stellen einen Antrag - meist im Trauerfall. Denn im Westen existiert das selbe Tal, nur 20 Jahre in der Vergangenheit, wohingegen sich im Osten das Tal 20 Jahre in der Zukunft befindet. Alleinig die jeweiligen "Conseils" entscheiden, ob der oder die Antragssteller:in reisen darf. Odile entscheidet sich, an der Aufnahmeprüfung für die Schule der Conseils teilzunehmen, um ihren beruflichen Weg in dieser hochangesehenen Tätigkeit zu bestreiten. Doch ein folgenschweres Ereignis verändert ihre Pläne - und somit auch Zukunft und Vergangenheit...

Der kanadische Autor und Philosoph Scott Alexander Howard präsentiert mit "Das andere Tal" sein literarisches Erstlingswerk. Er besticht durch eine atmosphärische, bildgewaltige Sprache, die einen umgehend in diese ganz besondere Welt versetzt. Howard beherrscht die Kunst, die Erzählung voranschreiten zu lassen, ohne dass geahnt werden kann, in welche Richtung sie sich entwickelt. Dabei begleiten einen stets philosophische Denkanstöße über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Gut und Böse, Recht und Unrecht. Erst im Laufe der Zeit wird einem bewusst, dass es sich bei der hier geschaffenen Welt wohl um eine Diktatur handelt, die unbarmherzig mit ihren Bewohner:innen umgeht. Alle haben ihren vorbestimmten Weg, haben sich an die Regeln zu halten, haben keine zweite Chance verdient. Erstaunlich ist, dass sich scheinbar keiner mit diesem strikten Regelwerk auseinanderzusetzen und widersetzen zu scheint, (fast) alle nehmen ihre Lebensumstände als gegeben hin.

Ein besonderes Highlight ist die Hauptprotagonistin Odile. Sie erzählt in der Ich-Form, man bekommt viele Einblicke in ihre Gedankengänge, bis zum Schluss ist es jedoch nicht möglich, sie zu charakterisieren, geschweige denn einzuordnen. Sie scheint ein sehr regelkonformer Mensch zu sein, der sich seinem Schicksal ergibt - allerdings täuscht man sich hier, wie in einigen anderen Aspekten auch. Was aber feststeht ist, dass sie zäh ist. Ihr Leben entwickelt sich in Richtung Hölle auf Erden, aber aufgeben tut sie nie.

Der Roman spielt in unterschiedlichen Zeitabschnitten. Erst begleiten wir die jugendliche Odile, die mit üblichen jugendlichen Problemen kämpft - Schüchternheit, Freundschaft, komplizierte Beziehung zu den Eltern. Der zweite Abschnitt reist 20 Jahre weiter und zeigt eine hoffnungslose Odile, die sich ihrem Schicksal, das von grauenhaften Begegnungen mit den hässlichsten Seiten der Menschheit geprägt ist, fügt. Doch wie erwähnt kommt es immer wieder zu unerwarteten Wendungen in der Geschichte, die einem die Hoffnung nach dem Guten nie gänzlich nimmt.

In den Diskussionen über den Roman wird immer wieder angemerkt, dass die geschaffenen Zeitebenen - die verschiedenen Täler - und der geregelte Umgang damit, unlogisch seien, vom Autor zu wenig erklärt werden. Für meine Wahrnehmung waren die Erklärungen ausreichend, ich habe mich mit dem vorgegebenen Konstrukt zufrieden gegeben. Viel spannender waren für mich die damit einhergehenden philosophischen Auseinandersetzungen, die mir auch viel Stoff gegeben haben, um Parallelen mit der realen Welt herzustellen.

"Das andere Tal" war für mich ein absolutes Lesehighlight, dass mich auch in den Lesepausen immer wieder fest in Gedanken bei der Geschichte sein ließ. Es ist ein fesselndes Werk, dass immer wieder mit unerwarteten Wendungen aufwartet und die Gehirnwindungen ordentlich arbeiten lässt. Die Atmosphäre - Märchenhaftigkeit gepaart mit trister, grauenhafter Realität, wird mir dieses Buch nicht so schnell vergessen lassen. Gespannt warte ich auch weitere Werke des Autors!