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Kwinsu
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Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 86 Bewertungen
Bewertung vom 08.04.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


gut

Westdeutschland, 1983: Daniels Eltern sind pleite. Der 14-Jährige hätte sich auf einen schönen Konfirmationsanzug und auf den Schüleraustausch in Frankreich gefreut, aber ob damit etwas wird, ist ungewiss. War das bisherige Leben der sechsköpfigen Familie bislang gutbürgerlich angenehm, kämpfen sie nun darum, nicht auch noch ihr Haus zu verlieren. Doch immer wieder verschließen die Eltern die Augen vor der Realität und Daniel ist gefangen zwischen seinen Träumen und der bitteren familiären Realität.

Christian Schünemann zeichnet in "Bis die Sonne scheint" ein liebevolles Portrait der 80er Jahre mit vielen Anleihen an die Popkultur und lässt seinen Protagonisten Daniel trotz der familiären Krise humorvoll und jugendlich auftreten. Abwechselnd verfolgen wir seine Geschichte: seine Freundschaft zu Zoe und seiner Bewunderung für den Austauschschüler Jean Pierre, aber auch wie er aus beobachtender Rolle den Abstieg seiner Familie wahrnimmt. In einem zweiten Erzählstrang werden die Hintergründe ihrer Familiengeschichte näher betrachtet: wie es den Großeltern im Nationalsozialismus ergangen ist und wie sich die Zeit danach gestaltete; wie Daniels Eltern Marlene und Siegfried aufwuchsen und wie sie sich schließlich kennenlernten, gemeinsam Eltern wurden und Wohlstand aufbauten.

Spannend ist, wie unterschiedlich die Sprache der beiden Erzählstränge ist. Daniels Episoden sind trotz der schwierigen Lage humorvoll erzählt, zudem sind am Anfang jedes Daniel-Kapitels französische Sätze samt Übersetzung, die das Folgende andeuten; wohingegen die historischen Familienrückblicke in einer äußerst nüchternen Betrachtungsweise geschildert werden. Nichtsdestotrotz nahmen mich die Blicke in die Vergangenheit mehr ein, als der gegenwärtige Erzählstrang um Daniel. Das mag auch daran liegen, dass ich bis zum Schluss kaum eine Verbindung mit dem 14-Jährigen herstellen konnte, war mir seine Zeichnung irgendwie zu oberflächlich und - irgendetwas fehlte mir. Auch die anderen Figuren waren für mich wenig greifbar, aber ihr Schicksal war trotz der Nüchternheit ergreifend.

Es ist nun eine Woche her, dass ich das Buch gelesen habe und ich musste erschrocken feststellen, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte - erst das Nachlesen im Buch und das Durchlesen einiger Rezensionen brachten die Erinnerungen zurück. So etwas passiert mir doch recht selten, ich lasse mir eigentlich immer Zeit, um das Gelesene nachwirken zu lassen. Nun kann ich mich aber auch daran erinnern, dass das Ende für mich viel zu offen war und ich mir einen Schluss gewünscht hätte, der einem die Möglichkeit gibt, dem Protagonisten noch eine hoffnungsvolle Zukunft anzudenken. Immerhin ist die Geschichte, wie uns der Autor im Nachwort wissen lässt, auf seiner persönlichen Biografie basierend. Trotzdem das Buch angenehm zu lesen war, wird es mir wie Daniels Eltern gehen: ich werde die Existenz dieser Geschichte (erneut) aus dem Gedächtnis verdrängen.

Bewertung vom 07.04.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

Während Franz Escher auf den Elektriker wartet, der seine Steckdose mit Wackelkontakt reparieren soll, vertreibt er sich die Zeit mit einem Buch über den Mafioso Elio Russo. Dieser sitzt im Gefängnis und soll ins Zeugenschutzprogramm, da er zahlreiche seiner Mafiakollegen verraten hat. Während er auf sein neues Leben wartet, schmökert er in einem Buch über einen Begräbnisredner namens Franz Escher - uns so beginnt die Geschichte zweier Männer, die sich lesend kennenlernen.

Wolf Haas beweist mit "Wackelkontakt" aufs neue seine schriftstellerische Genialität. Als ich von der Story hörte, dachte ich mir: wie soll das funktionieren? Geht dieser Kreisel auf? Ja, er tut es, sowas von! Die Übergänge von dem einen Charakter auf den anderen funktionieren fließend, ohne dass man den Anschluss verliert. Bis zum Schluss weiß man nicht, ob die beiden Männer sich jemals treffen werden und wie alles zusammenhängt, die Spannung bleibt durchgehend hoch.

Haas' Sprache ist wie gewohnt pointiert und schwarzhumorig, seine Figuren haben allesamt einen liebevollen Hau, man muss sie einfach mögen, so schrullig sie auch sind. Zu keinem Zeitpunkt ist mir langweilig geworden, ich wollte einfach weiterlesen und weiterlesen, nicht mehr ausbrechen aus dieser Dauerschleife - stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Dem ersten Anschein nach sind Haas' Wackelkontakt-Figuren gar nicht tiefgründig, aber das täuscht - mit seiner besonderen Beobachtungsgabe skizziert er schräge Charaktere, die so Nahe an der Realität liegen, dass man sich sicher ist, sie würden existieren. Und vielmehr sollte man auch gar nicht sagen. Sondern "Wackelkontakt" einfach lesen. Es ist ein absurder Genuss!

Bewertung vom 07.04.2025
Lyneham
Westerboer, Nils

Lyneham


ausgezeichnet

Nachdem die Erde dem Untergang geweiht ist, verläßt eine Gruppe Menschen ihren Heimatplaneten um eine neue Bleibe zu finden. Der auserwählte Mond Perm bietet keine optimalen Voraussetzungen, aber die Menschen wollen sich ihn zum Untertan machen. Henry Meadows verunglückt mit seinen Geschwistern und seinem Vater bei der Ankunft, aber mit Müh und Not gelingt es ihnen, die sicheren Biome zu erreichen. Doch wo ist nur ihre Mutter, die schon längst hier sein sollte? Es beginnt ein beschwerlicher Spießrutenlauf, um die Wahrheit über deren Verbleib herauszufinden - und auch die Frage, ob Perm tatsächlich zur neuen Heimat werden kann.

Nils Westerboer gelingt es in "Lyneham" auf großartige, reflektierte Art und Weise die menschliche Existenz und die steten ethischen Fragen um die Legimitation des Fortbestehens der Spezies mit allen erforderlichen Mitteln anhand einer spannenden und vielschichtigen SciFi-Geschichte zu diskutieren. Ist es gerechtfertigt, anderes Leben zu töten, damit wir weiterbestehen können? Dürfen wir die Lebensbedingungen so anpassen, dass wir unsere Bedürfnisse erfüllen können, koste es was es wolle?

Dem Autor gelingt es mit einer fast magischen Sprache eine spezielle Atmosphäre zu schaffen - er erweckt die fiktive Welt Perms zum Leben, beschreibt sie so liebevoll und detailliert, dass die Lesenden seine Welt im Kopf vor Augen sehen. Er schafft den Schritt aus dem eigenen Denken und kreiert Welten, die man sich als Erdenbürger:in nur schwer vorstellen kann. Die ganze Geschichte, die vielfältig beschriebenen Beziehungen sind komplex und werden stets neu- und weiterverhandelt. Im Fokus stehen Vertrauen und Wahrheit, Schein und Sein. Die Technologie ist der Menschen Untertan, aber kann ein Neuanfang auch die Abschaffung menschlicher Hierarchien bedeuten? Westerboer glaubt nicht daran, auch wenn seine Figuren lange daran festhalten. Er kennt das Wesen des Menschen, philosophiert auf eindringliche Art darüber, um zum Schluss zu kommen, dass wir wohl nie aus Fehlern lernen werden. Aber es gibt auch Hoffnung und diese heißt Empathie. Sie reicht für die eigene Spezies, aber wird sie auch für Fremde reichen?

Direkt und teilweise brachial wirken die nüchternen Betrachtungen der Charaktere, regen aber kontinuierlich zum Nachdenken und Reflektieren an: "Eine Gesellschaft, deren Mitglieder glauben, etwas zu haben, unterliegt einer fundamentalen Illusion, die ihr unweigerliches Scheitern nach sich ziehen muss." (S. 159) Das sitzt und berauscht ob seiner scharfen Beobachtungsgabe.

Neben all dem Philosophischen und Existenziellen reißt auch die Geschichte einen mit, getragen von der besonderen Atmosphäre Perms mit all seinen unsichtbaren Lebewesen. Die Geschichte erzählt sich aus Henrys Perspektive und jener seiner Mutter, die in unterschiedlichen Zeiten leben und doch stark verbunden sind. Die Existenz aller ist ein großes Rätsel, das am Ende in weiten Teilen aufgelöst wird.

Mein Fazit: Lyneham ist ein absolut lesenswerter SciFi-Roman, der die großen Fragen um die verändernden Eingriffe der Menschen stellt und neben einer großartigen Geschichte auch noch zum Philosophieren und Reflektieren einlädt. Ein großes Highlight, das nicht nur für SciFi-Leser:innen geeignet ist, sondern für alle, die unser Tun hinterfragen möchten.

Bewertung vom 27.03.2025
Fischgrätentage
Laznia, Elke

Fischgrätentage


ausgezeichnet

Elke Laznias Prosagedicht-Buch "Fischgrätentage" ist ein sprachgewaltiger, eindringlicher Text über familiäre Beziehungen, das Abschied-Nehmen, Erinnerungen, Vergänglichkeit und Verlust. Oft werden Sprichworte verwendet, um eindrückliche Bilder zu erzeugen. Der Text kommt ohne Satzzeichen aus, was einem dazu anhält, Passagen immer und immer wieder zu lesen, um sich die Worte verständlich zu machen und für sich selbst zu deuten.

Die Stimmung, die der Text vermittelt, ist voller Sehnsucht nach dem Vergangenen, Melancholie durchzieht die treffsicheren Worte wie ein Schleier. Man spürt förmlich die Innigkeit, zu den Personen, aber auch zu der Erinnerung. Trauer und Wohlgefühl verschmelzen, kleine Gesten brennen sich ins Gedächtnis. "Fischgrätentage" ist anspruchsvolle Lyrik, die erst kürzlich mit dem Helena-Adler-Preis für rebellische Literatur ausgezeichnet wurde. Zum Lesen sollte man sich Zeit und Ruhe gönnen.

Bewertung vom 27.03.2025
Tigerträume
Tapprich, Julian

Tigerträume


ausgezeichnet

Der kleine, gelbe Vogel Leo ist anders - ihn langweilt der schlichte Vogelgesang seiner Artgenossen, denn das Träumen ist seine Leidenschaft: er möchte mit einer wilden Katze befreundet sein. Die Nachbarskatze jedoch hat nur das ihn-fressen im Sinn und so denk Leo groß: dann macht er sich halt einen Tiger zum Freund.

Julian Tapprich erzählt in "Tigerträume" von den großen, undenkbaren Träumen, die wahr werden können, wenn man sich nur traut. Neben der entzückenden und ermutigenden Aussage ist das Buch wunderbar illustriert. Die Farben sind knallig und so perfekt geeignet für Kinder ab 4 Jahren. Für Erwachsene mögen die Bilder etwas schräg und unförmig wirken, in Kinderaugen stimmen sie jedoch bestimmt und regen die Fantasie an. Und gemeinsam mit der abenteuerlichen Geschichte kann "Tigerträume" Kinder ermutigen, sich von Grenzen nicht aufhalten zu lassen. Sondern das zu versuchen, was sie träumen.

Bewertung vom 27.03.2025
Kalt wie die Nacht (eBook, ePUB)
Stäber, Bernhard

Kalt wie die Nacht (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Der "Wolf"-genannte Rolf Larsen braucht nach dem Tod seiner Frau Veränderung. So gibt er sein Polizisten-Dasein auf und zieht in das kleine Städtchen Bø, um sich als Privatdetektiv zu verdingen. Schnell kommt der erste Auftrag, doch aus einer einfachen Beschattung unter Mutmaßung einer Affäre wird schnell ein Mordfall. Gemeinsam mit der seltsamen Journalistin Sanna versucht er das, was der Polizei nicht so leicht gelingen mag: den Fall aufzuklären.

Bernhard Stäber setzt in "Kalt wie die Nacht" einen gelungen Start in die neue norwegische Krimireihe rund um den Privatermittler Wolf und der Journalistin Sanna. Der Spannungsbogen wird ordentlich gespannt, man wird ermutigt, wild zu spekulieren und hat lange Zeit Fragezeichen, die nur langsam weniger werden. Letztendlich wird kurz vor Schluss der Fall plausibel gelöst, ohne das Fragen offen bleiben.

Wolf ist ein sympathischer Kerl und man fühlt mit ihm - seinen Schmerz, über den Verlust seiner Frau, spürt man förmlich. Bei der Journalistin Sanna dachte ich mir erst: oh nein, sie hat eine dissoziativer Persönlichkeitsstörung - das kann ja nur schief gehen. Aber der Autor überraschte mich, beschreibt er die Erkrankung doch ohne Klischees sondern feinfühlig und glaubhaft.

Ich mag es sehr gern, wie die einzelnen Figuren ihre Beziehungen zueinander aufbauen, besonders Wolf und Sanna, aber auch andere Charaktere. Hier funktioniert nicht alles reibungslos und genau das macht die Geschichte glaubwürdig. Die Landschaft spielt - wie bei skandinavischen Krimis meistens - eine wichtige Rolle und wird gekonnt in die Geschichte eingewoben.

Mein Fazit: "Kalt wie die Nacht" ist ein gelungener Auftakt einer neuen, norwegischen Krimireihe, der sich durch einen spannenden, zu Spekulationen anregenden Fall auszeichnet und seine Charaktere mit viel Feingefühl und Authentizität versieht. Eine große Leseempfehlung an alle, die langsame, nordische Krimis mögen!

Bewertung vom 27.03.2025
Stromlinien
Frank, Rebekka

Stromlinien


ausgezeichnet

Die jugendlichen Zwillinge Enna und Jale können es kaum erwarten: morgen wird ihre Mutter Alea nach jahrzehntelanger Haft aus dem Gefängnis entlassen. Doch als es soweit ist, sind sowohl Jale als auch Alea verschwunden und keiner weiß wohin. Zudem stirbt ein Mann bei einem Bootsunglück auf der Elbe und nicht nur die Polizei fragt sich, ob das alles etwas miteinander zu tun hat. Enna beginnt auf der Suche nach den vermissten Angehörigen ihre Familiengeschichte zu durchleuchten und immer mehr Geheimnisse geraten an die Oberfläche.

Kurz: ich finde Stromlinien großartig! Am Anfang hatte ich meine Schwierigkeiten - die verschiedenen Charaktere sind mühsam, teilweise haben sie nicht sonderlich viele sympathische Eigenschaften, aber genau das ist es, was mich im Laufe der Zeit an diesem Roman begeistert hat: die Figuren sind eben nicht nur schwarz oder weiß, sondern sind mit ihren positiven sowie negativen Marotten authentisch und glaubwürdig. Die Geschichte springt in verschiedenen Zeitebenen und man fragt sich lange, was die unterschiedlichen Protagonist:innen eint - nach und nach fügen sich die Handlungsstränge zusammen. Die Erzählweise ist ebenfalls unterschiedlich: während Enna in der Ich-Form berichtet, wechselt der Erzähler in anderen Kapiteln in die 3. Person. Das erzeugt Spannung, bietet Abwechslung und ausreichend Raum für Spekulationen.

Einen besonderen Stellenwert nimmt in "Stromlinien" auch die Landschaft um die Elbmarschen ein. Detailliert und mit Leidenschaft erzeugt Rebekka Frank lebendige Bilder der Natur, seien es die Flusslandschaften oder die unterschiedlichen Tiere - mit den intensiven Beschreibungen fühlt man sich direkt in die Landschaft versetzt. Die Sprache generell ist bedächtig und langsam, was zur Folge hat, dass ich mich oft in der Vergangenheit fand, obwohl das Geschehen in der Gegenwart spielt. Wenn dann Enna beschrieben wird mit ihren grünen Haaren, Piercings und Tätowierungen und zeitgenössische Wörter eingesetzt werden, irritiert das oft, macht aber auch den besonderen Reiz dieses Romans aus.

Die Geschichte selbst ist mysteriös, voller Geheimnisse und Ungesagtem und blättert sich nur peu a peu auf, doch zum Ende werden alle Stränge plausibel zusammengeführt und aufgelöst. Einiges bleibt offen, anderes macht traurig. Aber das wohlige Gefühl mit der Gewissheit, dass alles irgendwie weitergeht, tut gut. Es tut gut diesen wundervollen Roman gelesen zu haben!

Bewertung vom 26.03.2025
Hier draußen
Behm, Martina

Hier draußen


ausgezeichnet

"Sich verabschieden von den Träumen vom Idyll, ankommen in einem echten Dorf, in dem die Dinge eben anders liefen als in den Köpfen von sechs Stadtmenschen, die hier etwas suchten, das es so eben doch nicht gab." (S. 196)

Ingo und Lara, ein Großstadtpaar, sind recht neu im beschaulichen Fehrdorf. Anschluss an die Landbevölkerung finden sie erst, als Ingo am Nachhauseweg eine weiße Hirschkuh überfährt und sie gemeinsam mit dem Jäger und Schweinebauer Uwe von ihrem Leid erlöst. Dieser Vorfall verspricht nichts Gutes, ist doch allseits bekannt, dass es nur noch ein Jahr dauert, bis einem der eigene Tod gegenübertritt, wenn man ein solch besonderes Tier tötet. Doch wie wahr ist diese Mähr?

Martina Behm hat mit "Hier draussen" einen großartig beobachtenden Roman geschrieben, der mit einer schwarzhumorigen Sprache aufwartet, Beziehungen sachte aufzudröseln weiß und dabei die Spannung immer aufrecht erhält. Wir erfahren hier viel darüber, weshalb es Städter aufs Land zieht und weshalb die Integration nur selten klappt. Wir werden aufgeklärt, wie Dörfler untereinander agieren und warum sie immer alles so machen wollen, wie es schon immer war. Aber vor allem lernen wir das Innenleben vieler Beziehungen kennen, die sich ändern, wenn Kinder ins Leben treten oder essentiell werden, wenn keine (mehr) da sind.

Es ist beeindruckend, wie Behm es schafft, Intimes nach außen zu holen; wie sie Bedürfnisse einzelner zart und sanft thematisiert; wie sie durch die unterschiedlichen Charaktere die Gemeinschaft beschreibt; wie sie Konflikte beobachtet, zuspitzt oder durch Schweigen eskalieren lässt; und vor allem: wie sie Patriachat und Kapitalismus bloß stellt, ohne dabei mit dem mahnenden Finger zu zeigen. Behms Sprache ist feinfühlig und schwarzhumorig und gleichzeitig entblößt sie Tragödien schonungslos. Ihre Beobachtungsgabe ist scharf, genauso ihr Gespür Landschaften in den Erzählungen Atem einzuhauchen. Das Erzählte, das stets verschiedenste Beziehungen in den Mittelpunkt stellt, ist frustrierend und hoffnungsvoll zugleich. "Hier draussen" erzählt nicht nur von der Beziehung zweier Menschen, sondern spannt den Bogen über das gesamte Dorf, legt somit den ganzen Mikrokosmos offen. Vorwiegend lesen wir in der Gegenwart, aber - genau wenn es perfekt passt - erfahren wir Hintergründe aus der Vergangenheit.

Mein Fazit: Martina Behms "Hier draussen" ist ein grandios gelungener Roman über die frustrierenden, aber auch hoffnungsvollen Beziehungen eines Dorfes untereinander. Es besticht durch eine treffsichere Beobachtungsgabe und ein liebevoll gewebtes Netz an Beziehungen in einem Dorf, das vor allem durch Veränderungen lebt. Das Buch ist ein absolutes Highlight und gehört jetzt schon zu meinen Lieblingsbüchern des Jahres 2025!

Bewertung vom 23.03.2025
Die Herde
Winter, Thilo

Die Herde


sehr gut

Der Zoologe Peter Danielsson reist nach China, um den Bau eines Riesenstaudamms zu verhindern, der nicht nur die Existenz weniger verbliebener Zwerggänse bedroht. Just zur selben Zeit wird bekannt, dass sich eine große Herde Elefanten aus einem chinesischen Nationalpark Richtung Norden auf den Weg gemacht hat und dabei Dörfer zerstört. Zeitgleich bedrohen in Bangkok Affen Menschen in einer Tempelanlage und in den USA bombardieren Millionen von Vögel einen Stadtteil mit ihrem Kot. Unterdessen weilt Peters Vater Abel in Mexiko und versucht die Geheimnisse der untergegangenen prähistorischen Stadt Teotihuacán auf die Spur zu kommen. Während Peter in China versucht, die Jagd auf die Elefantenherde zu verhindern, stellt sich nach und nach heraus, dass irgendwie alles miteinander zusammenhängt...

Thilo Winter gelingt mit "Die Herde" ein fesselnder Öko-Thriller, der es gekonnt schafft, die Spannung stets aufrecht zu erhalten und die unterschiedlichen Handlungsstränge langsam aber sicher miteinander zu verweben. Der Schreibstil ist angenehm, die kurzen Kapitel, die zwischen den Schauplätzen hin und her springen, sind kurzweilig und stets regt seine Erzählweise zu Spekulationen an. Er zeigt die Grausamkeit des Menschen gegenüber der Natur und im Speziellen gegen die Tierwelt, gibt gleichzeitig aber auch Hoffnung, da er Charaktere erschafft, die sich leidenschaftlich für deren Erhalt und für das Verständnis der Tierwelt einsetzt. Seine Figuren sind mitunter nervig, agieren aber mit Herzblut; Bösewichte teils überspitzt dargestellt, die Kunst dabei ist jedoch, dass sie immer glaubwürdig sind. Einzelne Phänomene ergeben am Ende doch das große Ganze und zeigen, dass in Wahrheit die Menschen die Verrückten sind.

Mein Fazit: "Die Herde" ist ein spannender, abwechslungsreicher Ökothriller mit glaubwürdigen Charakteren und einer schönen Kernbotschaft. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, auch wenn ich am Ende mit der Auflösung nicht hundertprozentig zufrieden war, aber das ist reine Geschmackssache. In Erinnerung bleiben wird mir dieser Roman auf alle Fälle nachhaltig und ich kann ihn allen empfehlen, die Bücher voller Spannung gepaart mit Gesellschaftskritik mögen.

Bewertung vom 17.03.2025
Halbe Leben
Gregor, Susanne

Halbe Leben


ausgezeichnet

Klara ist tot. Abgestürzt beim Wandern. Ihre Begleiterin, Paulína - die Pflegerin von Klaras Mutter - kann dem nichts entgegensetzen.
Rückblickend erfahren wir von der Verbindung der beiden Frauen und wie unterschiedlich sie sich gegenseitig wahrgenommen haben. Klara kann sich durch die Hilfe von Paulína, die sich einfühlsam um ihre Mutter Irene kümmert, wieder ihrer Karriere widmen und sich selbst weiter verwirklichen. Paulína hingegen hat die größten Entbehrungen zu leisten, sind doch ihre beiden Söhne in der Slowakei zurückgeblieben und sie sieht sie nur mehr in ihrem pflegerischen Zwei-Wochen-Rhythmus. Unterschiedlicher könnten ihre Lebenswelten nicht sein, doch die österreichische Familie fühlt Paulína bereits als Familienmitglied, während die Slowakin still und gutmütig leidet.

Susanne Gregor liefert mit "Halbe Leben" einen großartigen Roman, der schmerzhaft bewusst macht, welche Entbehrungen 24-Stunden-Kräfte über sich ergehen lassen müssen. Und wie wir sie, als Arbeitgeber:innen, ausnutzen, ihre Lebenswelt ignorieren, sie nach unseren Ansprüchen formen wollen. Übergriffig, gedankenlos, egoistisch, nur damit unser gewohntes Lebens so weitergehen kann, wie wir es kennen und lieben. Aber eben auch nachvollziehbar. Wichtig dabei ist, dass die Autorin in keinem Moment mit erhobenen Zeigefinger auf die Situationen schaut, sondern sich als hervorragende Beobachterin und Erzählerin beweist.

Gregor schafft es mit ihrer einnehmenden, direkten und fein-analytischen Sprache, dass ein Hineinfühlen in die jeweiligen Charaktere ein Leichtes ist. Man spürt förmlich die Peinlichkeit in der Szene, als Klara Paulína als vermeintlichen Akt der Nächstenliebe ihre alten Kleidungsstücke andrehen will und Paulína so als Mensch zweiter Klasse dastehen lässt. Fühlt Paulínas Unwillen, die hässlichen Ausmusterungen entgegenzunehmen, es dann aber aus nicht ablehnend wollender Höflichkeit doch zu tun. Mit dieser Widersprüchlichkeit sind wir Leser:innen durch den ganzen Roman hindurch konfrontiert. Die nicht bösgemeinte und vermutlich nicht wahrgenommene Überheblichkeit gegenüber Menschen aus anderen Ländern wirkt abstoßend, ist aber wohl jedem und jeder Leser:in der Wohlstandgesellschaft bestens bekannt. Es gibt aber durchaus auch verbindende Elemente, beispielsweise ist die Beziehung von Paulína und ihrem Pflegeschützling Irene guttuend und wohlwollend. Nicht genug allerdings, um die immer mehr werdenden Forderungen von Klara und ihrem Ehemann in irgendeiner Weise erträglich zu machen.

Mein Fazit: "Halbe Leben" ist ein überaus gelungener und feinfühliger Roman, der die Kluft zwischen systemerhaltenden Pflegekräften aus Osteuropa und den Ansprüchen ihrer arbeitgebenden Familien eindringlich aufzeigt. Susanne Gregor holt die Existenz der pflegenden Menschen vor den Vorhang und gibt ihnen ein Sprachrohr, eine von vielen verleugnende Existenz. Dadurch veranschaulicht sie, wie wenig unsere Gesellschaft ohne diese aufopfernden und nicht wahrgenommenen Menschen auskommen würde. Ein absolutes Lesemuss für alle, die sich Gedanken über unser Miteinander machen wollen.