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Volker Jentsch

Bewertungen

Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 01.11.2024
Alle Seelen
Marías, Javier

Alle Seelen


weniger gut

Zu viele Wiederholungen

Javier Marías Alle Seelen ist mein erstes Buch des erfolgreichen Schriftstellers. Ich bin also ganz unvoreingenommen an das Buch gegangen, und das ist keine schlechte Voraussetzung für eine ehrliche Stellungnahme. Doch welche Enttäuschung! Ich war stets drauf und dran, es zur Seite zu legen, habe dann doch bis zum Ende durchgehalten. Ich mag es nicht, mit eher Belanglosem seitenlang festgehalten zu werden. Allerdings lässt sich wohl sagen, dass für Marías gerade die Belanglosigkeiten bedeutungsvoll sind. Er ist Literaturwissenschaftler. Ein Naturwissenschaftler, Physiker zum Beispiel, hätte die Erzählung ganz anders geschrieben, die Wiederholungen und Kleinigkeiten gemieden, denn in den Naturwissenschaften geht es um Neues, Großes; mit Wiederholungen kann man keinen Blumentopf gewinnen.
Nun ist unbestreitbar, dass das Leben vorwiegend aus Wiederholungen besteht. Aber wenn Wiederholungen um der Wiederholungen, der Effekte wegen wie mir scheint, das vorliegende Buch in großer Zahl bevölkern, entsteht Langeweile, das Schlimmste, das einem Buch passieren kann. Es sind der Abfalleimer, Claires Schuhe und Strümpfe, die Zigarettenasche, die auf die Strümpfe fällt, ihr Rock, der verrutscht, und den begehrenden Blick auf ihre starken Beine ermöglicht, die Zigaretten, heiß oder kalt, geraucht oder weggeworfen. Immer wieder die Zigaretten. Beispiele unter vielen anderen, die wortreich den Fluss des Lesens unterbrechen.
Dass Marías in Oxford war, entnehme ich seiner Vita in Wikipedia. Es ist also seine Geschichte, die er erzählt, auch wenn, wie er gleich zu Anfang feststellt, der jetzige Marias nicht mehr derselbe ist, der in den siebziger (?) Jahren das Oxford-Theater erleben durfte. Er beschreibt die literarischen Hoheiten, ihre exzentrischen Lüsternheiten vor allem; ich habe in Oxford ganz andere Autoritäten erlebt, die verhielten sich schon ziemlich amerikanisiert, aber das waren eben auch keine Literaturwissenschaftler.
Die beste Szene im Buch ist die Beschreibung von Muriels Liebesdienst, auch wenn Marías sie als die \textit{falsche Dicke} bezeichnet. Sie ist die befriedigende Einfachheit, im Gegensatz zu der erregenden Kompliziertheit von Claire Bayes. Um diese dreht sich alles, sie ist der Mittelpunkt. Ihr Bild vor Augen, versucht Marías Kopf, das Geheimnis dieser Frau zu entschlüsseln, seine sexualisierte Fantasie, ausgiebig und formenreich die Liebeskunst mit ihr zu praktizieren. Er ist eifersüchtig auf alle, die ihr nahestehen, der kränkelnde Sohn nicht ausgenommen. Immerhin muss er sich keine Vorwürfe machen, mit Claire Bayes angebändelt zu haben. Erstens wollte sie es, und zweitens scheint auch ihr Mann dem außerehelichen Abenteuer durchaus nicht abgeneigt zu sein. Denn zum Schluss seines Oxford-Aufenthalts sieht Marias eben diesen Bayes in liebevoller Umarmung mit einer Frau, noch dazu mit jener, die der zu Anfang des Buchs ausführlich geschilderten Zug-Bekanntschaft zu gleichen scheint. Ob das stimmt, bleibt wie so vieles anderes im Buch im Ungewissen. Seine Wahrnehmung könnte eine arglose Beziehung zu einer pikanten Liebschaft hoch skaliert haben; angesichts von Marías Anfälligkeit für derlei Konstruktionen scheint mir diese Deutung durchaus plausibel.

Bewertung vom 25.09.2022
HERKUNFT
Stanisic, Sasa

HERKUNFT


weniger gut

Das Märchen und die Herkunft

Wenn Herr Scheck, der prominente Büchermann vom Fernsehen, der Herr mit den närrisch großen Ohren, ein Buch wie das zu besprechende wärmstens empfiehlt, sollte ich meine Hände davon lassen, denn mein und sein Geschmack vertragen sich nicht. Ich hab's dennoch gelesen - und hab's bereut. Der Hintergrund des Autors ist interessant – den Zerfall von Titos Reich erlebt, Ankunft als Kriegsflüchtling in Deutschland, ebenda fleißig Studierender, erfolgreich Schreibender, Besucher der alten Heimat, Kümmerer um die dahinsiechende Großmutter – passt alles prima in die Erzählungen, die en vogue sind. Und dann dieser Quatsch, im Alter von dreißig Jahren, angeblich im Lebenslauf für die Ausländerbehörde: „Meine Großmutter hatte ein Nudelholz, mit dem sie mir Prügel androhte...ich habe bis heute ein reserviertes Verhältnis zu Nudelhölzern und indirekt auch zu Teigwaren“.
Schöne Formulierungen wie „aufgeregt wie Frühlingsanfang“ oder Sätze wie “Ich lege das Ohr an die verblassten Farben und lausche“; „das Wasser hat nach der Last der Berge geschmeckt, die ich nie tragen musste, und nach der beschwerlichen Leichtigkeit der Behauptung, das einem etwas gehört“ lassen bei mir die Hoffnung wachsen, dass ich Geduld haben muss, Qualität wird sich mit zunehmender Seitenzahl durchsetzen, schließlich hat es den deutschen Buchpreis gewonnen (was allerdings nicht unbedingt etwas heißen muss: erinnere mich, wenn auch widerwillig an Kirchhoffs verunglückte „Widerfahrnis“). Beiläufiges, Langweilendes, ich finde auch Triviales, Überflüssiges in diesem Buch. Und es sind die kurzen Sätze, die unaufhörlichen Wiederholungen der Sätze, die nerven: Mutter wartet...wartet... wartet. Das Warten steckt an, auch ich warte und warte, es muss doch etwas kommen. Kommt aber nichts, jedenfalls nichts, was der Erwähnung wert ist. Und was halte ich davon: „Sie ließen sich in Jugoslawien am Blinddarm operieren, … und manche haben ihren Blinddarm noch“. Eigentlich ist das Buch vor allem die Geschichte der Großmutter. Mithin vielleicht das Beste im Buch. Am Ende der „Herkunft“ gibt es dann den „Drachenhort“. Immerhin nochmals sechzig Seiten. Drachen-Märchen. Erneut Anekdoten aus dem Leben der dementen Großmutter. Zum Teil lustig, gelegentlich auch – der Wortwahl der herkömmlichen Literaturkritik folgend – „verstörend“ und „berührend“. Die vom Verfasser eingestreuten Hilfen, um auf diesem oder jenem Weg durch den von Drachen und Gespenstern bevölkerten Anhang zu navigieren, sind bloße Spielerei; aber im Gegensatz zum wahren Spiel gibt es kein Ziel, das angesteuert werden will. Mehrmals wird ein Ende angekündigt, aber zu früh gefreut, danach kommen weitere Seiten und weitere Enden.
Eine Herkunft, die es vermutlich nicht nötig gehabt hätte, sich von den zahlreichen Produkten ähnlichen Inhalts durch zu viele Sprünge in Zeit und Raum und sich wiederholende Phantasierereien abzusetzen. Ich mag es nicht empfehlen.

Bewertung vom 17.08.2022
Welt ohne Ende
Jancovici, Jean-Marc

Welt ohne Ende


gut

Die komische Welt der Energielieferanten

Das Buch will lustig sein. Es vermittelt eine Menge Fakten zu Energie und Klima in Form von Sprechblasen und drolligen Zeichnungen. In einem Umfang, der seinesgleichen sucht. Die Zahlen dazu müssen geglaubt werden, sofern nicht Vergleichsmaterial zu Rate gezogen wird. Sie machen aber einen soliden Eindruck. Zahlreiche Befunde prägen sich ein, darunter die Tatsache, dass die inzwischen geächteten fossilen (im Zuge des Ukraine-Krieges aber nolens, volens wieder aufgewerteten) Brennstoffe die Grundlage für den enormen Wohlstand der (westlichen) Gesellschaften bilden. Dass die körperliche Verausgabung eines Menschen nichts ist im Vergleich zu ein bisschen Benzin, das den klug erdachten Verbrennungsmotor antreibt. Von Haus aus Franzose, wundert es nicht, dass Jancovici die Kernenergie lobt und sie aus diversen, durchaus bedenkenswerten Gründen für das Mittel der Wahl hält, wenn es um die Rettung des Klimas geht. Regenerierbare Energien wie Sonne und Wind hält er, unter anderem, für unzuverlässig und übermäßig viel Raum beanspruchend. Damit sind sie aber regional verfügbar, was für Kernkraftwerke, an wenigen Orten erbaut, gewiss nicht zutrifft.
Soweit, so gut. Absolut unakzeptabel finde ich hingegen die Form der Präsentation. Aus folgenden Gründen. Eine Gliederung der anspruchsvollen Materie ist nur schwer erkennbar. Folglich fehlt auch ein Inhaltsverzeichnis. Die Darstellung in Form komischer Zeichnungen ist eher verwirrend als erhellend. Die Dialoge verfangen nicht. O.k., die Autoren wollten ein etwas anderes Buch kreieren. Ich halte das Thema dafür nicht geeignet. Vor allem, wenn dann alles durcheinander geht. Allerdings muss ich eine gewisse Voreingenommenheit bekennen. Noch nie haben mich Comics begeistert. Also: ich bleibe beim „The ministry for the future“ von Kim Robinson oder „2052“ von Jorgen Randers, unter anderen.

Bewertung vom 02.02.2022
Nachruf auf mich selbst.
Welzer, Harald

Nachruf auf mich selbst.


weniger gut

Harald Welzers Endlichkeit.

Harald Welzer, Bestsellerautor und aktiver Sozialwissenschaftler, unter anderem, beklagt in seinem Buch die Unfähigkeit der Menschen, nicht aufhören zu können (oder zu wollen). Welzer möchte, daß die Endlichkeit des Lebens, der Tätigkeiten, der lebendigen und toten Materie, anerkannt und das Handeln und Streben danach ausgerichtet werden. Der Tod muß wieder als solcher stattfinden dürfen. Er plädiert für die Reduktion der Lebensweise, straft dessen unaufhörliche Expansion. Kritisiert die Wirtschaftsweisen, das Verlangen nach Vorhersage, die imperiale Lebensweise.
Das alles ist gesicherter und bekannter Bestandteil im Ruf nach einem anderen Leben. Insofern könnte ich mich mit Welzer in partieller Übereinstimmung finden und seinem Bestseller-Buch ein weiteres Lob hinzufügen. Tu ich aber nicht. Und diese sind meine Gründe:
1. Die ausführliche Darstellung seines Herzinfarktes, der sogar Aufnahme in Welzers Wiki-Biographie gefunden hat, halte ich für völlig deplatziert. Warum müssen wir davon erfahren? Weil es schon ungezählte andere Autoren gibt, die ihre Krankheiten in Buchform beschrieben haben? Als Beispiel, sich vom Gedanken der Unsterblichkeit zu lösen, insoweit nachvollziehbar. Aber doch nicht in der Breite von mehreren Seiten Umfang.
2. Die tristen, unscharfen, in Grau gehaltenen Abbildungen sind angesichts der heutigen Möglichkeiten der Bildwiedergabe, sowie des stattlichen Preises für dieses Buch absolut inakzeptabel. Ganz schlimm sein EKG, in dem die bedauerlich schwach ausgeprägten Zacken nur unter heller Beleuchtung zu erkennen sind. Erste Anzeichen für zukünftigen Reduktionismus?
3. Die Bewunderung für Herrn R. Messmer. Dieser gibt den Verzicht auf die Sauerstoffflasche beim Erklimmen des höchsten Berges als Reduktion an, dabei dürfte es sich ja wohl vor allem darum gehandelt haben, als Erster „ohne“ gegangen zu sein – Ausdruck von Messmers unablässigem Ehrgeiz und nie erlahmender Eitelkeit, die beide Welzer doch eigentlich (S.211) abstreifen möchte (aber dem Professorenstand, zu dem glaube ich, auch er gehört, doch unwiderruflich und unauslöschlich zu eigen sind. Wofür auch der Buch-Cover steht. Welzer in Großaufnahme; ginge es nicht ein bißchen kleiner?)
4. Der übermäßige Gebrauch des Zitates. Nicht alle, die Welzers Buch lesen, haben die Sozialwissenschaften erlernt, so daß die Zitate kaum die Würdigung erfahren dürften, die Welzer womöglich in Sinn hatte. Oder war es die Sorge, des Plagiats überführt zu werden, wenn Fremdes nicht gebührend als solches bezeichnet wird?
5. Sein Nachruf auf sein (noch) zu lebendes (vielleicht eher: verbleibendes?) Leben. In diesem Kapitel, das sein Buch beschließt, erzählt er uns, was er alles sein möchte: vor allem ein guter Mensch. Irgendwie rührend.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.02.2022
Stalingrad
Grossman, Wassili

Stalingrad


ausgezeichnet

Grossmans Helden: Die Bürger der Sowjetunion

Wassili Grossmans Roman Stalingrad ist ein epochales Werk. Es schildert das Leiden, Leben, Lieben, das Kämpfen, Erdulden, den Mut und die Entschlossenheit der Bevölkerung der Sowjetunion im Kampf gegen Hitlers Armeen. Wir erfahren, wie diese im Krieg, in dem das Extreme zum Normalen verkommt, sich verhalten, wie sie trotz all der Zerstörungen und Niederlagen, die sie haben erfahren müssen, ihre Angst vorm Tod besiegen, mit äußerster Hingabe ihr Land verteidigen, und niemals daran zweifeln, dass am Ende der Sieg ihnen gehört. Diese Zuversicht war es, die mich überrascht, zugleich besonders beeindruckt hat.
Können wir Grossmans Darstellung glauben? Grossmans Vita, inzwischen hinlänglich bekannt, spricht dafür. Ebenso der umfängliche, mit Fakten gespickte Anhang. Und wer bemängelt, daß er Stalins nur gelegentlich, und dann eher mit Milde, fast könnte man sagen, mit einem gewissen Verständnis erwähnt, dann doch deshalb, um die damalige Wirklichkeit richtig abzubilden. Denn der gemeinsame Feind war Hitler, nicht Stalin. Im Gegenteil. Stalins unerbittliche Brutalität hat vermutlich einen nicht vernachlässigbaren Beitrag zum Sieg über Deutschland beigetragen.
Grosmans Roman besteht, ganz in russischer Tradition, aus mehr als tausend Seiten. Nicht alles muß gelesen werden, habe ich mir gedacht und einige Kapitel übersprungen. Übrigens gelang es mir nicht, die vielen Namen, die das Buch bevölkern, jeweils zuzuordnen, so daß ich immer wieder in der Namensliste auf den Seiten 26-32 nachschlagen mußte. Meist bin ich dann stehen geblieben, wenn Grossman über das Wasser der Wolga schreibt. Über die Luft darüber und das Farbspektrum, das durch die auf- und untergehende Sonne hervorgerufen wird. Eine der eindrucksvollsten Beschreibungen von Natur, die mir in Buchform bisher begegnet sind.
Ja, und die Menschen im Roman. Ich mochte sie fast alle. Nein, nicht die paar Deutschen, die auf einigen Seiten zu Wort kommen.
Tröstlich, dass Stalingrad so sich nicht wiederholen wird. Aber nichtsdestotrotz halte ich dafür, daß nicht in Vergessenheit gerät - hier im Land des einstigen Aggressors - daß es vor allem die Sowjetunion war, die ungeheuerlich viele Menschen, Städte, Dörfer, Natur hat opfern müssen, um die deutsche Kriegsmaschinerie ein für allemal zu zerstören. Nirgendwo wird das vermutlich eindringlicher und realistischer beschrieben, als in Grossmans Buch Stalingrad (und dessen Nachfolger, Leben und Schicksal, den ich noch nicht gelesen habe).

Bewertung vom 11.06.2021
Der Teufel von Mailand
Suter, Martin

Der Teufel von Mailand


weniger gut

Der Teufel im Herrn Suter

Dieses Buch gehört in Dennis Schecks Grabbelkiste: (fast) alles ist vorhersehbar, die Bösen bekommen ihre Quittung, die Guten wonach ihnen verlangt (Sonia ihren Bob, Bob seine Sonja und die ehrgeizige Barbara verliert); die Analogien zum Mythos „Teufel vom Mailand“ an den Haaren herbeigezogen. Peinlich ist das acknowlegdement: die vielen Dankessprüche für all die Hochwürden, die beim Text geholfen haben, sollen dem Text wohl Gewicht und Ansehen verleihen. Anmerken muß ich aber, daß mir die Beschreibung der unentwegten Wolkenbildung gefallen hat.
Die Vielstimmigkeit der Lobeshymnen auf Suters „Teufel“ zeigt, daß ich mit meiner Kritik ziemlich daneben zu liegen scheine. Dafür gibt es eine Erklärung: Ich habe das Buch im stillen Kämmerlein gelesen. Habe dabei festgestellt, daß ich den falschen Ort gewählt habe und außerdem nicht der richtige Typ bin. Ich stelle mir da eher die eingeölte Person am Swimmingpool vor, die vom Buch abgeschirmt, gelangweilt, hin und wieder, die Umgebung abscannt, ob da nicht doch etwas Passendes vorbeikommt.

Bewertung vom 11.06.2021
Der Club
Würger, Takis

Der Club


gut

Takis' verunglücktes Finale

Wenn der bücherwerfende Herr Scheck von der ARD das vorliegende Buch „ein ganz großes“ genannt haben soll, bin ich versucht anzunehmen, dass es sich um ein ganz kleines handelt. Das wiederum wäre ungerecht. Aber beeindruckt hat „Der Club“ mich nicht.
In diesem Buch geht es hart her. Es wird viel getrunken, gekotzt, geschlagen, geblutet. Gerächt. Und ̶ vergewaltigt. Ähnlich ist der Sound. Taff und meist knapp. Am Ende fast jeden Absatzes nach aufregendem Vorspiel kommt (natürlich nicht zufällig) eine Belanglosigkeit. Nach meinem Geschmack sind die Sätze zu sehr auf Effekt angelegt. Eben Spiegel-Stil.
Der Kontrast: die mit Brüchen besetzte, vorsichtige Liebe zwischen Hans und Charlotte; das feine Essen, die geschneiderten Anzüge, die erlesenen Getränke.
Interessant fand ich die Strukturierung des Buchs. Alle Akteure/Akteurinnen dürfen ihre Sicht der Dinge in eigens für sie reservierten Artikeln darstellen. Aber ist das neu oder auch schon in anderen Büchern ausprobiert worden?
Der Schluss scheint mir das eigentliche Manko des Buches zu sein. Da ist dem Autor und Boxer buchstäblich die Puste ausgegangen. Mir gefällt nicht, dass der Held der Geschichte, ähnlich einem mittelmäßigen CIA-Agenten, hintenherum den Fall zu lösen versucht. Ich plädiere für einen anderen Schluss (Takis, hören Sie mich?) Hans sollte Josh fordern und ihn im Kampf Mann gegen Mann niederstrecken. Diesen so büßen lassen, was er seiner Charlotte angetan hat. Für Charlottens Vater hätte er den Billy angeheuert, der es ihm ordentlich besorgen würde. Allerdings gibt es für dieses Finale eine Einschränkung: die Gewichtsklasse. Josh scheint mir eine höher als Hans zu sein. Aber durch gute Technik hätte das Hans vergessen lassen.
Was für mich aber wirklich schwer wiegt: trotz aller Bemühung des Autors will bei mir keine Sympathie, weder für Charlotte noch für die verbitterte Alex (die ich zunächst des Namens wegen für einen Mann hielt) aufkommen. Und leider, ich kann es nicht ändern, am wenigsten für den Hans.
Takis Würgers anderes Buch, die „Stella“, fand ich übrigens viel besser.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.06.2021
Königskinder
Capus, Alex

Königskinder


gut

Eingeschneit

Die Geschichte ist schön erzählt, wie auch so manche andere, die Alex Capus aus der Feder fließt. Zufrieden legt die Leserin, natürlich auch der Leser, das Buch zu den anderen, nachdem gegen Ende der Geschichte die zwei Schweizer Bauernkinder, mit Hilfe der wohlmeinenden Prinzessin, zueinander finden. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es anders gekommen wäre. Alexis Ansehen wäre von heute auf morgen vom hohen Gipfel ins tiefe Tal gestürzt.
So gut das eine, so überflüssig das andere: Die häufig eingeschobenen Kabbeleien zwischen Mann und Frau von heute, alias Tina und Max oder Herr und Frau Capus, fand ich doch recht aufgesetzt. Ich weiß nicht, wie es anderen Lesern ergangen ist, aber bei mir verdichtete sich der Eindruck, daß parallel zum Märchen, auch im Auto noch irgendetwas Außergewöhnliches passieren würde. Was nur bloß? Durchaus denkbar, daß aus dem Geplänkel ein Liebesakt, oder so was ähnliches erwachsen könnte. Erleichterung, daß es dazu nicht kam. Dafür war es, glücklicherweise, wohl zu kalt im Auto. Die Geschichte von Tina und Max endet ganz schweizerisch. Bei der Polizei wegen Verkehrsvergehen. Und der Steinbock sieht zu.

Bewertung vom 11.06.2021
Wütendes Wetter
Otto, Friederike

Wütendes Wetter


gut

Wutausbrüche des Wetters

Zuallererst: Der Titel ̶ wütend, weil ihm stetig steigende Konzentration von Kohlenstoff in der Atmosphäre zugemutet wird? Oder ein Wüterich, der mit Menschen und Natur macht was es will? Aber eins nach dem anderen.
Frau Ottos Vermutung ist, dass die extremen Wetterereignisse, wie Starkregen, Orkane und Hitzewellen, als auch deren Gegenteile, wie Dürre, Flaute und Kältewellen von der zunehmenden CO2 ̶ Konzentration in der Luft beeinflusst werden. Die Beeinflussung beinhaltet: kürzere Wiederholzeiten, größere Intensität und womöglich auch größere zeitliche und räumliche Ausbreitung. An sich ließe sich auch das genaue Gegenteil vermuten. Ereignisse der extremen Art werden seltener, schwächer, kürzer. Wahrscheinlicher (und natürlich viel interessanter) ist ersteres.
Bei der Vermutung bleibt es nicht. Frau Otto weist nach, oder behauptet, nachgewiesen zu haben, dass ein großer Teil der von ihr untersuchten Beispiele durch die Klimaänderung beeinflusst werden, und sie ermittelt Zahlen ̶ die Eintrittswahrscheinlichkeit verdoppelt, verdreifacht oder verzehnfacht sich, je nachdem. Sie hat aus ihrer Sicht eine neue Wissenschaft geschaffen, sie nennt das Attributionswissenschaft („event attribution science“).
Hat sie das? Zusammenhänge zu finden ist immanenter Bestandteil jeder Wissenschaft. Im Zeitalter der Epidemiologie untersucht man z.B. die Assoziation von Lungenkrebs und Rauchen. Bekanntlich ist die Sterblichkeit wegen Lungenkrebs weitgehend auf das Rauchen zurückzuführen. Das attributable Risiko der Exponierten beträgt mehr als 90%. Allerdings ist eine Assoziation, auch wenn sie statistisch signifikant ist, nicht notwendig auch kausal.
Unstreitig ist, dass Frau Otto sich einer wirklich wichtigen Fragestellung angenommen hat, und dass, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, ihre Resultate plausibel erscheinen. Ob allerdings aufgrund höherer Kohlenstoff-Anteile in der Luft ein Hurrikan mit einer Wahrscheinlichkeit daherkommt, genau einmal in hundert statt in tausend Jahren aufzutreten, mag diskutiert werden. Dass er wahrscheinlicher wird, dessen ist sich Frau Otto gewiss. Was übrigens viele aus der Szene, allerdings wohl ohne die wissenschaftliche Grundierung, die Frau Otto erarbeitet hat, schon des längerem im Fernsehen verkünden.
Aber wie ist das Ganze im Buch verarbeitet? Es geht ordentlich durcheinander. Berichte über den Harvey-Wirbel wechseln mit Erläuterungen zum Klima; es gibt kurze Beschreibungen der benutzten Verfahren, Ergebnisse, gelegentliche Rückschläge, aber vor allem Erfolge, schnelle Erfolge, bei den Wissenschaftlern und mehr noch bei begierigen Redakteuren. Ich hätte mir aber eine deutlich präzisere, gleichwohl umgangssprachliche Beschreibung der zugrunde liegenden Methoden gewünscht, auf denen die von Frau Otto und Mitarbeiterinnen erzielten Resultate aufbauen. Vielleicht so:
1. Schritt: Ich untersuche die verfügbaren Daten nach Starkregen. Definiere Starkregen nach dieser oder jener Regel. Konstruiere ihre Verteilung und berechne ihre (empirische) „return period“. 2. Schritt: Nehme Modelle, beschreibe sie in Kürze, die einen für ein Klima mit zunehmender Kohlenstoff ̶ Belastung, die anderen ohne. 3. Schritt: Erzeuge („würfele“) aus diesen theoretische Extremereignisse. 4. Schritt: Vergleiche die Eintrtttswahrscheinlichkeiten aus den beiden. 5. Schritt: Gleiche das mit den empirischen ab. Erhalte so die gewünschte Differenz der Eigenschaften der Ereignisse mit und ohne Verschmutzung, jetzt evidenzbasiert. 6. Schritt: Berechne die Unsicherheit der Ergebnisse (das dürfte der schwierigste Part sein).

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.06.2021
An das Wilde glauben
Martin, Nastassja

An das Wilde glauben


sehr gut

Von den Wilden lernen
Was, wenn nicht ein Buch, als Nachspiel zum Bären-Ereignis, das so extrem, so einzigartig ist! Denn wer hat je davon gelesen, dass die Angegriffene, schwer verletzt, den bärenstarken Angreifer in die Flucht schlägt? Von daher alle Punkte für die Autorin.
Das Ereignis hat, wie alle extremen, zwei Seiten: die schlechte ist die körperliche Verwundung von Frau Martin, die gute ist die einzigartige Gelegenheit, daraus eine Erzählung zu machen, die sie, so scheint mir, zu einer vielgelesenen und vielgepriesenen Schriftstellerin gemacht hat.
Aber da ist ihre Lebenskrise, ihr zwiespältiges Verhältnis zur modernen Welt. Jedenfalls ist es ein Leiden an der Welt, das schon vor dem Ereignis bestand, jenseits der monatewährenden Schmach, die sie empfindet, wenn die Öffentlichkeit mitleidsvoll ihrer kaum verheilten Wunden gewahr wird. Einerseits ist sie die Wissenschaftlerin, französischer clarté verpflichtet, die sich vorgenommen hat, anthropologische Feldstudien unter dem Gesichtspunkten der „Alterität, Insularität, Liminalität“ im unwirtlichen Kamtschatka zu machen. Wissenschafts-konform sieht sie das Bären-Ereignis folglich als ein zufällig-mögliches, wenngleich extrem unwahrscheinlichen Ereignis. Ihr Studienobjekt ist eine zurückgebliebene, ungebildete Jäger und Sammler-Welt, wo allenfalls der Kühlschrank und (wen wundert‘s) das Smartphone an die herkömmliche Welt erinnern...
Andererseits fasziniert sie das Leben dieser Leute, ihr direkter Zugang zur Natur, ihr Glaube an Übersinnliches, Metaphysisches. So wird aus dem Bären als Aggressor der Bär der Erlöser, der ihre wunde Seele heilt; insofern die Begegnung natürlich keine zufällige, sondern vorherbestimmte ist, eine Sichtweise, der man sich, a posteriori eines extremes Ereignisses, zugegebenermaßen nur schwer entziehen kann. Zeichen und Vorzeichen werden bemüht, um das Ereignis zu deuten. Und am Ende wird aus dem Angriff des Bären ein etwas gewalttätiger Kuss, der sie erlöst, ihre Seele transzendieren lässt (als Tierfreund stellt sich mir übrigens die Frage: was ist aus dem Bären geworden? Den sie, folgt man ihrer Darstellung, nicht unerheblich verletzt hat? Er dürfte in keiner Klinik, weder einer russischen, noch einer französischen behandelt worden sein).
Die Erzählung hat mir auf den ersten 100 Seiten gefallen. Danach, als alles mehr oder weniger um ihre Befindlichkeit kreist, hatte ich Mühe, weiterzulesen. Für meinen Geschmack nahmen Mythen, Determinismus, Naturromantik oder wie immer man ihre Hingabe an das „Wilde“ nennen mag, überhand. Vieles habe ich dann auch nicht mehr verstanden, vor allem wenn es um ihre Erklärung der Welt ging; es wurde dunkel, wo Licht die bessere Lösung gewesen wäre. Denn was heißt das, am Ende der Erzählung: Die Ungewißheit: ein Versprechen von Leben??

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.