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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Yernaya
Wohnort: 
Linz

Bewertungen

Insgesamt 9 Bewertungen
Bewertung vom 25.01.2025
Not your Darling
Blake, Katherine

Not your Darling


sehr gut

Abrechnung mit Hollywood

Hollywood 1950 – die Stadt der großen Träume. Margaret aus Morecombe ergaunert sich unter falschem Namen eine illegale Einreise in die USA. Das Seebad im Nordwesten Englands ist ihr nicht mehr groß genug. Sie hegt das Ziel, Maskenbildnerin in Hollywood zu werden. Wen oder was die junge Frau dabei hinter sich lässt, erfahren wir lange nicht. Für ihren großen Traum geht sie - unbekümmert und voller Abenteuerlust - allerlei Risiken ein. Der amerikanische Kleinkriminelle Jimmie kann gar nicht so schnell gucken, wie sie ihn zum Werkzeug ihrer Träume macht. Dabei wollte er doch nur Seidenstrümpfe schmuggeln. Wunderbar! Angekommen in Hollywood lernt Margret, die sich mittlerweile Loretta nennt, die Prostituierte Primrose kennen, die zu einer Freundin wird. Mit dem Nachwuchsschauspieler Raphael hat sie weniger Glück. Er ist ein rücksichtsloser Blender und sie geht ihm auf den Leim.

Ein Oscar Wilde zugeschriebenes Zitat zu Beginn des Buches lässt aufmerksame Lesende vermuten, dass es in diesem Buch nicht bei frechen Dialogen und einer Geschichte über den American Dream bleiben wird. Die Schattenseiten der Traumfabrik lernt Loretta schneller kennen, als ihr lieb ist. Intrigen und Klatsch, menschliche Abgründe und toxische Männlichkeit weißer heterosexueller Männer prägen ebenso die Filmszene, wie vordergründig Glanz und Glamour es tun. Als Maskenbildnerin wirkt Loretta erfolgreich am schönen Schein mit, doch durch die Erzählung demaskiert die Ich-Erzählerin schonungslos die Welt der Studios und ihre Protagonist*innen.

Katherine Blake lenkt mit NOT YOUR DARLING (Originaltitel: The Unforgettable Loretta, Darling) den Blick auf Missstände im Filmgeschäft, die damals als normal angesehen wurden. Hollywood war das Sinnbild der Verruchtheit, sexuelle Freizügigkeit wurde erwartet (solange sie heterosexuell ausgerichtet war und keine vermeintlichen Rassenschranken übertreten wurden), und wenn sexualisierte Gewalt stattfand, dann konnte der Täter eigentlich nichts dafür, denn dann griff die Schuldumkehrung:

Er hat gesagt, das ist alles völlig normal und liegt nur am – wie hieß das doch? Testosteron. Ein Mann hätte eben Bedürfnisse, die er nicht kontrollieren kann, und darauf sollte ich mehr Rücksicht nehmen. (S. 298)
NOT YOUR DARLING ist aber auch ein Roman über eine junge Frau, die in dieser Welt unbeirrt ihren Weg geht, nicht nur ein loses Mundwerk hat, sondern auch großartige Talente und Kenntnisse, die ihr helfen sich zu behaupten und sich gegen Männer zur Wehr zu setzen. Es ist ein Buch über Frauenfreundschaften, frech und witzig und wenn die Sprache manchmal holprig wirkt, dann muss das nicht zwingend am englischen Originaltext liegen.

Und doch bleibt die Geschichte zu oft an der Oberfläche. Die Charaktere sind meist klischeehaft gezeichnet, die Stadt an sich, ihre außergewöhnliche Architektur, bleibt seltsam unbeschrieben. Auch der zeitliche Ablauf bleibt weitestgehend unerwähnt. Der Schreibstil ist unterhaltsam und lädt zum schnellen Lesen ein, aber es ist keine große Literatur. Der Blickwinkel richtet sich konsequent von Lorettas Gegenwart aus in die Zukunft, es bleibt kaum Raum für einen Blick zurück. Das Ende kommt mir zu abrupt und könnte ein Hinweis auf einen Folgeband sein.

Zusammenfassend ein gutes Buch zu einem wichtigen Thema. Ich spreche eine Leseempfehlung aus und vergebe 4 Sterne ⭐⭐⭐⭐ .

Abspann:
Ich erinnere mich an dich, Loretta. (…) Du bist das Lip Girl! Lässt dir nichts gefallen, machst die schönsten Lippen. Das weiß jeder! (S. 202)

Bewertung vom 19.01.2025
Die blaue Stunde
Hawkins, Paula

Die blaue Stunde


ausgezeichnet

Düstere Geheimnisse

"Die blaue Stunde" von Paula Hawkins ist ein psychologischer Spannungsroman. Ein Spannungsroman unterscheidet sich von einem Krimi dadurch, dass nicht die Tätersuche im Mittelpunkt steht, sondern die innere Entwicklung der Protagonist*innen. Wer also eine handlungsorientierte Geschichte erwartet, wird mit diesem Buch nicht gut zurechtkommen. Wer sich jedoch mit der Psyche der beschriebenen Personen beschäftigen mag, mit ihren Empfindungen, Verletzungen und Abgründen, der wird an diesem Roman seine Freude haben.

Paula Hawkins erzählt eine Geschichte, in der es vordergründig um die Werke einer längst verstorbenen berühmten und geheimnisumwitterten Künstlerin geht. Vanessa Chapman hat ihr Œuvre einer Stiftung vermacht und ihre enge Freundin Grace Haswell zur Testamentsvollstreckerin bestimmt. Da es zu juristischen Auseinandersetzungen zwischen der Stiftung und der vereinsamten alten Dame kommt, macht sich Kurator James Becker auf den Weg zu ihr nach Eris Island. Zudem wird offenbar, dass eine Installation der Künstlerin offenbar einen menschlichen Knochen enthält. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dabei um ein Relikt des verschollenen Ehemanns der Künstlerin handelt.

James Becker hat eine besondere Obsession für Vanessa Chapman. Diese treibt ihn immer wieder auf die abgelegene schottische Gezeiteninsel Eris Island, auf der sein Idol lange Zeit lebte. Die raue, mystische Natur des Schauplatzes verleiht dem Roman eine besondere Atmosphäre. Eris Island ist eine Metapher für den Verlauf der Geschichte. Hawkins baut den Spannungsbogen gekonnt langsam auf. Sie beschreibt die düstere und trotzdem wunderschöne Natur mit all ihren Gefahren. Sie erschafft komplizierte Verbindungen zwischen Menschen, die ihre eigenen Geheimnisse oder Verletzungen in sich tragen. Keine der Figuren bietet sich dabei als Sympathieträger*in an. Da ist die exzentrische, teilweise manische Künstlerin; Es gibt snobistische Protagonist*innen, gewalttätige Männer, Personen, die von Minderwertigkeitsgefühlen bestimmt werden. All dies fügt Hawkins zu einer fesselnden Erzählung zusammen. Ganz langsam baut sich die Spannung auf, die Situation wird stetig bedrohlicher. Menschliche Abgründe werden durch solche der Natur widergespiegelt.

Mich konnte "Die blaue Stunde" von der ersten bis zur letzten Seite fesseln. Die Covergestaltung der deutschen Ausgabe rundet das Lesevergnügen ab. Der Blick aus einem dunklen Raum auf das tosende Meer fängt die Stimmung des Romans hervorragend ein. 5 Sterne ⭐⭐⭐⭐⭐ für einen Roman, der ganz wunderbar zu langen dunklen Herbst- und Winterabenden passt.

Bewertung vom 19.01.2025
Lesereise Dublin
Quint, Nicole

Lesereise Dublin


ausgezeichnet

Liebeserklärung an Baile Átha Cliath

Dublin hat viele verschiedene Seiten und nicht alle zeigen eine Postkartenansicht. Nicole Quint nimmt uns auf ihrer Lesereise mit zu bekannten und weniger bekannten Ecken der irischen Hauptstadt. Man merkt der Reisejournalistin an, dass sie eine intime Kennerin dieser Stadt ist, in der sie eine Weile wohnte und die sie seit über zwanzig Jahren immer wieder bereist. Sie teilt ihre persönlichen Gedanken mit uns, und das in einer zauberhaften Sprache. Egal ob es um Kuriositäten wie eine eingewachsene Parkbank oder den Taxi-Jesus geht, um die dunklen Seiten der Stadt, die Obdachlosigkeit, den einseitigen Umgang mit dem kulturellen Erbe durch das Tourist Office, oder um Wahrzeichen wie Molly Malone. Da es sich um eine Lesereise handelt, muss man sich ganz auf das geschriebene Wort einlassen, denn in dieser Reihe aus dem Picus-Verlag gibt es keine Bebilderung. Dem Lesevergnügen tut das jedoch keinen Abbruch. Vielmehr wird dadurch die Neugier geweckt, das alles mit eigenen Augen sehen zu wollen. Bei meiner nächsten Dublin-Reise wird dieses Büchlein sicherlich mit im Gepäck sein. Schon beim Lesen wollte ich am liebsten die Schuhe anziehen und entlang der Liffey laufen oder zur Bloomsday-Tour aufbrechen, Seafood Chowder genießen und Folk Music hören.

Die Lesereise besteht aus fünfzehn kleinen Kapiteln und einem begeisternden Vorwort. Die Übergänge von einem Kapitel zum nächsten sind dabei fließend, so dass ein Lesesog entsteht. Dennoch habe ich dieses Büchlein Stück für Stück genossen. Immer nur ein oder zwei Kapitel - kleine Lesepralinen, die mir den Alltag versüßt haben. Die LESEREISE DUBLIN ist wie eine verführerische Konfektschale, und ich war wehmütig, als ich das letzte Kapitel ausgelesen hatte. Für mich war es die erste Lesereise und ich muss sagen: das Format hat mich überzeugt. Und nach dem Namen Nicole Quint werde ich Ausschau halte, wenn ich demnächst nach Reiseliteratur suche.

Bewertung vom 26.12.2024
Finsteres Herz / Die Toten von Marnow Bd.2
Schmidt, Holger Karsten

Finsteres Herz / Die Toten von Marnow Bd.2


ausgezeichnet

Düstere Ermittlungen - Großartiger und actionreicher Kriminalroman mit bewegenden Themen

Silvester 2006 – eine Zeugenschutzmission endet in einem blutigen Massaker. Auch das Rostocker Ermittlerduo Lona Mendt und Frank Elling wird dabei schwer verletzt. Maja Kaminski vom BKA und Hagen Dudek vom LKA sollen gemeinsam aufklären, wie es dazu kommen konnte. Gibt es einen Maulwurf im Polizeiapparat? Es ist eine brisante Situation. Jeder misstraut jedem – und so ermitteln Kaminski und Dudek nicht nur mit, sondern auch gegeneinander. Und als Leserin habe ich bis zum Schluss gerätselt, wer auf der richtigen Seite steht. Vor allem aber geht es auch darum ein zwölfjähriges Mädchen zu finden, dessen Leben bedroht ist.

Es geht düster zu in diesem actionreichen Kriminalroman. Tatsächlich hatte ich anfangs etwas Sorge, dass es zu reißerisch, zu blutig werden könnte. Das hat sich zum Glück nicht bestätigt. Die brutalen Ereignisse werden zwar realistisch beschrieben, aber nicht unnötig übertrieben. Es fließt Blut, wo Blut fließen muss, aber kein Tropfen darüber hinaus.

Sehr gelungen finde ich den Aufbau des Romans. Ausgehend von der genannten Silvesternacht begleiten wir in Rückblenden Mendt und Elling und parallel dazu Kaminski und Dudek. Diese Parallelität der Ermittlungen finde ich sehr gelungen. Beide Teams stellen die gleichen oder ähnliche Fragen, so dass sich dadurch ein Gesamtbild ergibt. Nach und nach offenbart sich der Abgrund, den Mendt und Elling aufgedeckt haben. Alles in allem ein hervorragend recherchierter und spannend umgesetzter Krimi, der gesellschaftlich relevante Themen aufgreift. Darin erinnert er mich an die skandinavische Krimiliteratur.

Auch gefällt mir der detailreiche Schreibstil von Holger Karsten Schmidt ausgenommen gut. Hier merkt man den Drehbuchautor, denn tatsächlich werden gerade die Actionszenen so bildhaft beschrieben, dass man glaubt, sie vor sich zu sehen. Ebenso authentisch ist die Schilderung der handelnden Personen und ihrer jeweiligen Geschichte.

„Finsteres Herz“ ist der zweite Fall aus einer Reihe um das Ermittlerduo Lona Mendt und Frank Elling. Mir waren bis zu diesem Buch weder der Autor noch das Team bekannt – vielleicht auch, weil ich nur selten Fernsehen schaue. Das hat meinem Leseverständnis aber keinen Abbruch getan. Auch ohne Kenntnis des ersten Falles war alles verständlich und nachvollziehbar. Und nun darf ich mich darauf freuen, bald den ersten Band zu lesen!

Für „Finsteres Herz“ vergebe ich überzeugt 5 Sterne.
⭐⭐⭐⭐⭐

Bewertung vom 16.12.2024
Roter Sommer
Harbour, Berna Gonzalez

Roter Sommer


sehr gut

Machismo, Catolicismo, Abuso - Sexueller Missbrauch unter spanischen Talaren

Wer erinnert sich nicht an den Fußballsommer 2010? Überall in Europa ertönten Vuvuzelas und auch ganz Spanien ist vom Fußballfieber ergriffen. Zudem steht noch ein Pabstbesuch bevor. Nichts fürchtet die katholische Kirche da mehr als schlechte Publicity. Ausgerechnet in dieser Gemengelage ereignen sich zwei Morde, der eine in Madrid, der andere in Kantabrien. Gibt es eine Verbindung zwischen diesen beiden Fällen? Schnell wird klar, dass beide Opfer gewissen Gemeinsamkeiten aufweisen, die ich hier nicht verraten möchte. Und dass es um sexuellen Missbrauch von Jungen in der katholischen Kirche geht.

Mit 12jähriger Verspätung wurde dieses Erstlingswerk der bekannten spanischen Journalistin Berna González Harbour nun auch in Deutschland veröffentlicht. Und das Thema ist brisant und aktuell wie damals. Der Schreibstil ist rasant und geprägt von häufigen Perspektivwechseln. Dass ich ihn doch ab und zu ein bisschen holprig fand, mag an der Übersetzung liegen; obwohl es sich bei Kerstin Brandt eigentlich um eine versierte Übersetzerin handelt. Die Perspektive des Täters war mir an manchen Stellen etwas zu verworren, sein handeln hat sich mir nicht völlig erschlossen.

Die ermittelnde Comissaria María Ruiz begibt sich auf die Jagd nach den Täter. Dabei werden ab und zu Klischees wie die der Ermittler als einsame Menschen, die nur mit ihrem Beruf verheiratet sind und an ihren Beziehungen scheitern, etwas zu stark ausgereizt. Hier kommt noch hinzu, dass Ruiz sich im vom Machismo geprägten Polizeiapparat besonders behaupten muss. Auch eine zweite Hauptperson, der Investigativjournalist Luna ist mir an manchen Stellen zu überzeichnet.

Dennoch konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen, denn "Roter Sommer" ist ein echter Pageturner. Spannend fand ich vor allem die Darstellung der Macht und des Einflusses der Katholischen Kirche auf die spanische Gesellschaft. Und das unglaubliche Selbstverständnis, mit der die klerikalen Würdenträger sich über die weltliche Macht und die Gesetze des Staates stellen. Sexueller Missbrauch an Kindern wird dabei nicht etwa als Verbrechen angesehen, sondern als Sodomie, als Sünde gegen das Gesetz Gottes. Das weckt Wut und Empörung in mir. Und das schafft die Autorin ganz ohne die Taten detailliert zu beschreiben. So wahrt sie die Würde der Opfer, auch wenn diese nur fiktiv sind. Ebenso erzählt sie vom Leid der Angehörigen, ohne dies auszuweiden. das hat mir sehr gefallen.

Ich vergebe voller Überzeugung 4 Sterne ⭐⭐⭐⭐und eine eindeutige Leseempfehlung.

Bewertung vom 24.11.2024
So gehn wir denn hinab
Ward, Jesmyn

So gehn wir denn hinab


weniger gut

Magischer Realismus aus den Südstaaten - ein Buch, das sich in der Geisterwelt verliert

Braucht es einen altitalienischen Philosophen, um die Hölle der Plantagen in den amerikanischen Südstaaten zu beschreiben? “So gehen wir denn hinab” von Jesmin Ward sucht bereits im Titel eine Analogie zur göttlichen Komödie von Dante Alighieri. Unzweifelhaft ist es die Hölle auf Erden, in die Annis hineingeboren wird. Sie ist das Ergebnis einer Vergewaltigung. Ihre Mutter - eine Sklavin in South Carolina, ihr Erzeuger - ein Plantagenbesitzer und Sklavenhalter. Jesmin Ward beschreibt schonungslos die Grausamkeit und Brutalität der damaligen Sklavenhaltergesellschaft. Die junge Annis muss früh erkennen, was es heißt, vollkommen rechtlos zu sein. Aufrecht hält sie die Liebe ihrer Mutter, die ihr vom Leben ihrer Großmutter Aza erzählt, einst unfreie Kriegerin im Königreich Dahomey, ebenso wie ihre Neigung, mit der Natur zu kommunizieren. Annis Leid spitzt sich immer weiter zu. Sie wird gewaltsam getrennt von Menschen, die sie liebt und geht im wahrsten Sinne des Wortes immer weiter durch die Hölle. Slave Chain und Sklavenmarkt, verschleppt von South Carolina nach New Orleans, verkauft auf eine Zuckerrohr-Plantage mit einer erbarmungslosen “Lady”. Alles ist infernalisch, überall herrscht Schmerz und Leid, Hunger und Gewalt. Oft ist es kaum auszuhalten, was Ward beschreibt, und doch ist all dies millionenfach passiert. Gerade deshalb sind Bücher, die dieses Leid beschreiben, so wichtig für die heutige Zeit. Die Ereignisse dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Das ist der Grund, aus dem ich dieses Buch lesen wollte.

Daneben existiert für Annis eine animistische Geisterwelt. Bereits ihre geliebten Bienen scheinen übernatürliche Wesen zu sein:

"Zu spüren, wie die Bienen, die ich inzwischen als meine Bienen betrachte, nachts herunterkommen, auf meinen Handgelenken und Füßen landen und sich dann wieder erheben, in ihren Stock zurückkehren. Ich frage mich, welchen bitteren Nektar sie wohl bei mir sammeln. Frage mich, wohin sie meinen Kummer tragen. Frage mich, ob mein Schluchzen für sie ein beruhigendes Rufen ist, und warum sie die einzigen Zeugen meiner Trauer sind." (S. 32)

Bald kommt ein Sturmgeist hinzu, der die Gestalt ihrer Großmutter angenommen hat, und in der zweiten Hälfte des Buches wimmelt es geradezu von Naturgeistern - zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Diese Geister sind heimtückisch, sie nähren sich von der Aufmerksamkeit der Sterblichen, die an sie glauben. Vielleicht wird das Leid für Annis dadurch etwas erträglicher, doch am Ende sind diese Geistwesen genauso tyrannisch und grausam wie die realen weißen Herrschenden.

Es bleibt den Lesenden überlassen, ob es sich dabei um die Manifestation eines schweren psychischen Traumas handelt, oder um einen tradierten afrikanischen Volksglauben. Und leider verliert sich Ward in dieser Geisterwelt. Die reale Welt gerät darüber zunehmend in den Hintergrund. Auch die Sprache verändert sich, wird immer abgehobener, schwülstiger und nervtötend repetitiv. So wird das Buch quälend langweilig, fast schon unlesbar. Anstelle eines historischen Romans halte ich ein Buch in den Händen, was ich dem magischen Realismus zurechnen würde.

Die anfangs nach Hoffnung und Selbstermächtigung klingenden Kampfszenen in der Tradition der Dahomey-Amazonen verkümmern zu einem Narrativ. Auch die Maroons im Marschland der Südstaaten werden nur am Rande erwähnt. Annis kämpft nicht gegen ihre realen Unterdrücker, sie kämpft gegen die Geisterwelt. So mag ich das Ende des Buches auch nicht als Akt der Befreiung betrachten, sondern als weitere Flucht vor der Realität.

Fazit: befreiend war für mich am Ende nur noch das Wissen, dass dieses Buch doch noch zum Ende gekommen ist, und ich keine weitere Seite davon lesen muss.

Bewertung vom 16.11.2024
Mordscoach
Pabst, Lilli

Mordscoach


weniger gut

Kein Therapieerfolg

Sophie Stach ist Psychotherapeutin und Coach. Sie hat eine Privatpraxis in Köln, ist verheiratet mit Jakob und ist eigentlich sehr zufrieden mit ihrem Leben. Bis Amelie ihre Praxis betritt und sich herausstellt, dass Sophies Ehemann Jakob sie mit Amelie betrügt. Plötzlich ist Amelie tot, was so nebenbei passiert, dass man eher von einem Unglück sprechen kann. Doch damit öffnet sich bei Sophie eine Schleuse, und sie mutiert zur mordenden Therapeutin. Was anfangs noch einen humorvollen cosy crime verspricht, wandelt sich schnell zu einer immer absurderen Geschichte, die auch vor exzessiver Gewalt nicht zurückschreckt. Die Hauptprotagonistin Sophie trägt ein Trauma aus ihrer Kindheit mit sich herum und bräuchte offenbar dringend selbst therapeutische Unterstützung. Ihre Haltung gegenüber ihren Patientinnen ist geprägt von Verachtung, von professioneller Distanz keine Spur. Umso irritierender ist es, dass die dennoch ständig psychologisches Fachwissen einstreut. Sie analysiert über den Tod hinaus. Und siehe da, laut Klappentext ist Lilli Pabst das Pseudonym einer Autorin, die im wahren Leben selbst als Psychotherapeutin praktiziert. Man wünscht ihren Patient*innen, dass sie das besser kann als Krimis schreiben.
Mich konnte „Mordscoach“ überhaupt nicht überzeugen. Die Hauptprotagonistin empfinde ich als unsympathisch. Die Story konnte mich nicht überzeugen und auch stilistisch gefällt mir nicht, was Frau Pabst auf 283 Seiten zusammengeschrieben hat. Während der Humor, der anfangs noch aufblitzte, sehr schnell verschwunden ist, nehmen Schimpfwörter zu und die Sprache wird vulgärer. Polizeiliche Ermittlungen werden eher unprofessionell geführt. Auch das Lektorat hätte noch nachbessern müssen, z.B. wenn Namen vertauscht werden. Zudem ist dieser Band in sich nicht abgeschlossen. Die Geschichte hört vielmehr plötzlich auf. Wenn man also wissen will, ob Sophie am Ende zur Rechenschaft gezogen wird, muss man sich mindestens auf noch einen Band einstellen. Dabei ist der weitere Plot vorhersehbar, es kündigen sich bereits die nächsten Opfer an.
Die weiteren Bände werden allerdings ohne mich als Leserin auskommen müssen. Ich kann leider keine Leseempfehlung aussprechen. Schade, denn die Grundidee und das Cover fand ich interessant.

Bewertung vom 14.11.2024
Der Herzschlag der Toten
Dorweiler, Ralf H.

Der Herzschlag der Toten


ausgezeichnet

"Der Tod war schöner, wenn Baudelaire über ihn schrieb." (S.70)

Ausgerechnet Baudelaire! Eine junge Dame der guten Gesellschaft, Tochter eines angesehenen Richters, versteckt unter ihren Röcken die düsteren Gedichte des französischen enfant terrible. Sie selbst versilbert nicht nur das edle Geschmeide, dass ihr Patenonkel ihr einst geschenkt hat, sondern unterrichtet auch noch inkognito Frauen der unteren Schichten, und stolpert darüber mitten hinein in einen Kriminalfall.

Was für eine Herausforderung - und wahrscheinlich sogar ein Glücksfall für den frisch ernannten Criminalcommissar Hermann Rieker, der im eigenen Polizeiapparat offenbar wenig Freunde, dafür aber Neider und Gegner hat. Zudem trägt er Erfahrungen aus einer Vergangenheit mit sich, welche die Lektüre um spannende Aspekte bereichern. Nun soll er binnen kürzester Zeit den Mord an der Gelegenheitsprostituierten Ansje lösen, die zufälligerweise bei Johanna Ahrens, der Richtertochter, in die Schule ging.

Und schon ist man mittendrin in diesem spannenden Kriminalfall (den man damals wohl noch mit C schrieb). Gerade diese Kleinigkeiten, das C in aus dem Lateinischen stammenden Wörtern, die französische Schreibweise Bureau, aber auch die Verwendung plattdeutscher Ausdrücke machen das Lesen zu einem atmosphärischen Genuss. Die Beschreibungen der dunklen Seite der Hansestadt sind so lebendig, dass man beim Lesen hautnah das Gefühl hat, dabei zu sein. Schmutz und Körperflüssigkeiten, Gerüche und authentische Beschreibungen der Armut und Not, all dies heben die Besonderheit dieses Romans hervor. Ich hatte nicht das Gefühl, dass dies nur dem Zweck dient, eine düstere Atmosphäre heraufzubeschwören, sondern dass es dem Autor darum ging, ein realistisches Bild der damaligen Zustände zu zeichnen. Und gerade deshalb ist dieser Kriminalfall so unglaublich spannend.

Die Polizeiarbeit im 19. Jahrhundert musste sich noch erfinden. Wissenschaftliche Methode hielten Einzug in die Ermittlungen, die „Criminalpolizei“ war eine neue Erfindung. Im Roman begegnet uns zudem ein heute ausgestorbenes Berufsbild: der Totenfotograf. Dies zeugt von einem anderen Umgang mit dem Tod, der damals viel stärker zum Leben gehörte. Es wird ebenso deutlich, dass Klassenunterschiede über den Tod hinaus eine Rolle spielten.

Es gelingt Ralf H. Dorweiler, den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Seite aufrecht zu erhalten. Schon lange nicht mehr hat mich ein Krimi so gefesselt. Ich habe mit Johanna Ahrend und Hermann Rieker mitgefiebert, bin Spuren gefolgt, habe mich in die Irre führen lassen habe jede einzelne Zeile genossen. Hier war einfach alles stimmig, die detailliert beschriebenen Personen, der Geist der Zeit, der wohl dossierte Schauer und auch der immer wieder durchscheinende Wortwitz und Humor des Autors. Chapeau!

Mir bleibt nur ein großer Applaus und eine eindeutige Leseempfehlung.

P.S. Don`t judge a book by its cover – Das Cover finde ich ebenfalls sehr gelungen. Die düstere Atmosphäre des nächtlichen Hamburgs, im Hintergrund St. Jacobi, die engen Gassen des Gängeviertels, erleuchtet von einer einsamen Laterne. Ein Mann und eine Frau, beide gut gekleidet (sie von einem Korsett eingeschnürt), erklimmen eine Treppe.

Um noch einmal Beaudelaire zu erwähnen:

Pour ne pas oublier la chose capitale,
Nous avons vu partout, et sans l'avoir cherché,
Du haut jusques en bas de l'échelle fatale,
Le spectacle ennuyeux de l'immortel péché
(Zitat aus le voyage, 1857)

Nur, dass hier absolut gar nichts langweilig war!

Bewertung vom 11.11.2024
Gefährliche Betrachtungen
Eckardt, Tilo

Gefährliche Betrachtungen


ausgezeichnet

Sommerfrische mit Thomas Mann

„Gefährliche Betrachtungen“ ist bereits auf den ersten Blick ein liebevoll und ansprechend gestaltetes Buch, gebunden und mit einem Lesebändchen versehen, und den Umschlag ziert ein Bild, das in seiner Komposition wage an ein Gemälde von Caspar David Friedrich erinnern könnte. Unverkennbar gewährt es einen Blick auf die Ostsee, genauer gesagt auf das Kurische Haff. Und bereits der Untertitel verrät, dass es sich in diesem Roman um den deutschen Literaturnobelpreisträger Thomas Mann drehen wird. Ob es sich allerdings tatsächlich um einen Kriminalroman handelt, wird noch zu berichten sein.

Ort der Handlung ist der kleine Bade- und Fischerort Nidden (litauisch Nida), der auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken kann. Zur Zeit der Handlung gehörte er zum unabhängigen Litauen, jedoch erinnerte noch vieles an die vorherige Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. Insbesondere die Künstlerkolonie um das Gasthaus von Hermann Blode animierte auch weiterhin Künstler und Intellektuelle hier ihre „Sommerfrische“ zu verbringen. Einer von ihnen war Thomas Mann, der sich im Ort ein Ferienhaus bauen lies und drei Sommer in Folge auf der Kurischen Nehrung verbrachte.

Dies greift Tilo Eckardt in seinem Roman auf und spielt mit einem Wechsel zwischen historischer Wahrheit und dichterischer Freiheit. Entstanden ist dabei eine Hommage an diesen besonderen Ort Nidden, aber auch an den großen Thomas Mann. Sein fiktiver Held ist ein junger ambitionierter Student und Übersetzer, Žydrūnas Miuleris, ein glühender Verehrer des dotierten Schriftstellers, und entflammt für seine Kommilitonin Dalia, die in den Semesterferien bei Hermann Blode kellnert. Miuleris träumt davon, die Buddenbrooks ins Litauische zu übersetzen, und sucht deshalb die Begegnung mit Mann. Dabei beeinträchtigt ihn ein gewisser Hang, zielgerichtet in irgendeine Tölpelei zu geraten. Man muss ihn einfach gernhaben, denn sein Herz sitzt am rechten Fleck.

Eckardt zeichnet ein wunderbares Sittengemälde der damaligen Zeit. Leicht ironisch beschreibt er die Menschen und ihr Denken, ob es sich dabei um eine Pensionswirtin aus Nida handelt, um bekannte Künstler, um sich erholende Großbürger mit Hang zum Faschismus oder eben um Thomas Mann. Dabei nimmt er sich Zeit, beschreibt detailreich die wunderschöne Landschaft der Kurischen Nehrung, die Eigentümlichkeiten der auftretenden Personen und die Gedankengänge des Helden, der all dies im stolzen Alter von über 100 Jahren rezipiert. Sprachlich orientiert Eckardt sich dabei an der damaligen Zeit. Und so spürt man geradezu den Müßiggang, den die Sommerfrischler sich hingaben.

Ein Buch, dass in den 1930er Jahren spielt, ist naturgemäß immer auch ein politisches Buch. An mancher Stelle ist es erschreckend aktuell, jedoch bleibt dies im Hintergrund. So, wie auch der „Kriminalfall“, um den es schlussendlich geht. Ich muss gestehen, ich habe dieses Buch nicht als Krimi empfunden, was meiner Leselust keinen Abbruch getan hat. Wunderbar parodiert Eckardt Sir Arthur Conan Doyle, wenn Miuleris und Mann sich der Kunst der Deduktion hingegen. Herrlich ist auch die Beschreibung eines expressionistischen Gemäldes aus der Sicht des jungen Studenten. So habe ich während der Lektüre oft laut gelacht. Voller Überzeugung vergebe ich eine 5 Sterne Leseempfehlung.

Erstaunt hat mich, dass offenbar einen kriminalistischer Folgeband um das „Ermittlerduo“ in Planung ist, denn für mich war dieser Roman eigentlich abgeschlossen. Tilo Eckardt schrieb ihn unterstützt von der Nordic Culture Foundation und weiterer Kulturfonds in einer Autorenresidenz in unmittelbarer Nachbarschaft zu Thomas Manns ehemaligen Sommerhaus.