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Benutzername: 
Yernaya
Wohnort: 
Linz

Bewertungen

Insgesamt 16 Bewertungen
12
Bewertung vom 08.04.2025
Stromlinien
Frank, Rebekka

Stromlinien


ausgezeichnet

Faszinierender Mehrgenerationenroman aus der Elbmarsch

Die Elbe ist en vogue. Waren mir zunächst vor allem die Krimis von Romy Fölck bekannt, die in der Elbmarsch angesiedelt sind, lies mich Katja Kewerisch in ihrem Roman „Agens geht“ einen anderen Blick auf die Elbe gewinnen. Jüngst begeisterte mich die Flusslinien von Katharina Hagena und nun also sind es die Stromlinien von Rebekka Frank. Was ist da los an der Elbe? Wieso animiert sie nun endlich dazu, in der Literatur wahrgenommen zu werden? Vielleicht liegt es daran, dass dieser unspektakuläre Fluss bedroht ist. Frank beschreibt, wie übrigens auch Hagena, die dramatischen Auswirkungen der Elbvertiefung auf Flora und Fauna. Das ist übrigens nicht die einzige Parallele zwischen diesen beiden großartigen Romanen, die sich sogar im Titel ähneln. Die Elbe ist dort in der Elbmarsch kein romantischer Flusslauf; sie ist eine gefährliche Autobahn für vollkommen überdimensionierte Containerschiffe. Und doch, sie ist ein berührend verletzlicher Fluss, Lebensraum bedrohter Arten und offenbar zunehmend Inspiration für Autorinnen.

Ich komme nicht umhin, Hagenas Flusslinien und Franks Stromlinien immer wieder zu vergleichen. Beide Romane sind generationsübergreifend. Es geht um Familienbindungen, um Frauenleben, um Feminismus. Sehr gut gefällt mir, dass in beiden Romanen auch junge Frauen eine Rolle spielen. Beide Bücher sind gesellschaftskritisch, politisch, feministisch, ohne dabei die große Moralkeule zu schwingen. Gerade Frank zeigt auf, dass auch Irrungen und Wirrungen zum Leben gehören. Eine ihrer Protagonistinnen war 38 Jahre lang in Haft. Alea, die Mutter der Zwillinge Enna und Jule. Wir erfahren lange nicht, wie es dazu gekommen ist. Flusslinien ist eben kein Kriminalroman, auch wenn das Motiv der Schuld, moralisch und juristisch, eine große Rolle spielt. Frank gelingt der große Wurf, eine komplexe Geschichte über mehrere Generationen zu spinnen, beginnend 1923 und endend im hier und jetzt. Sie weckt Emotionen, rührt ihre Leserschaft zutiefst an, und lässt doch genug Freiraum für eine eigene Bewertung.

Ich möchte direkt sagen, dass ich durch Stromlinien großartig unterhalten wurde. Die Protagonistinnen wurden stimmig beschrieben, die Handlungsstränge genial verbunden und aufgelöst. Der Schreibstil hat mir gut gefallen, auch wenn Frank dabei aus meiner Sicht hinter Hagena minimal zurückbleibt. Dafür ist das Cover für mich jetzt schon ein Highlight des Jahres. Optisch und haptisch passt dieses Cover so wunderbar zum Buch, dass es mich richtig glücklich macht.

Voller Überzeugung vergebe ich auch hier fünf Sterne und spreche eine unbedingte Leseempfehlung aus!

Bewertung vom 07.04.2025
Der irische Fremde
Moor, Matthias

Der irische Fremde


sehr gut

Was ist wirklich passiert?

Mary, eine junge Frau mit einem schweren Trauma aus ihrer Kindheit, verbirgt ihre seelischen Narben hinter einer coolen Fassade. Sie ist unfähig Bindungen einzugehen, betäubt sich mit Alkohol, Kaffee, Nikotin und Sex. Doch was ist damals tatsächlich passiert? Die plötzliche Begegnung mit einem mysteriösen Fremden bringt sie völlig durcheinander. Plötzlich erinnert sie sich an Ereignisse, die lange zurückliegen. Als Leserin muss man sich darauf einlassen, dass dieser Krimi ausschließlich aus Marys Perspektive geschrieben ist. Doch das passt richtig gut zu dieser lebhaften Geschichte. Matthias Moor verwendet dazu eine bildhafte und mitreißende Sprache, lässt uns teilhaben an Marys Erinnerungen und neuen Erlebnissen, egal ob es um die wunderschöne Landschaft oder um eine schnelle Bettgeschichte geht. Die Erzählung ist intensiv, Marys innerpsychische Prozesse werden anschaulich beschrieben. Oft geht sie über Grenzen, um sich selbst wahrnehmen zu können. Dabei findet Mary Schritt für Schritt zu sich selbst zurück. Genau darin liegt für mich die Stärke dieses Krimis.

Es ist schwer über den Rest zu schreiben, ohne zu spoilern. Mary kommt dem Geheimnis ihrer Kindheit näher, doch irgendwann wird die Geschichte etwas verworren. Was ist wirklich passiert? Moor bietet hier mehr als eine Lösung. Das nervt am Ende sogar die Protagonistin. Dennoch ein sehr gutes Buch mit einer spanenden Geschichte.

Ich vergebe 4 Sterne. ⭐⭐⭐⭐

Bewertung vom 07.04.2025
Schwebende Lasten
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


ausgezeichnet

Kennen Sie Hanna Krause?

Was für ein Roman! Annett Gröscher lässt uns teilhaben am Leben der Hanna Krause. Wer das ist? Wie bitte, Sie kennen Hanna Krause nicht? Hanna ist eine einfache Frau, vielleicht wohnt sie ja in Ihrer Nachbarschaft. Sie ist keine Heldin, sie handelt rein pragmatisch. Was bleibt ihr auch übrig in diesem Leben, das ihr nichts schenkt. So viele Schicksalsschläge, so viele historische Ereignisse, die sich auf ihr Leben auswirken. Geboren im Kaiserreich durchlebt sie ein ganzes Leben in Deutschland, Kriege, eine Revolution, zwei Diktaturen. Sie liebt die Blumen, die in diesem Buch eine nicht unwichtige Rolle spielen, und muss doch ihren Beruf als Blumenbinderin mit dem der Kranführerin tauschen. Sie erträgt so vieles, und doch geht das Leben immer irgendwie weiter. Damit steht Hanna Krause symbolisch für all die unerzählten Frauenleben in diesem Land. "Schwebende Lasten" ist ein Buch mitten aus dem Leben derer, über die gemeinhin keine Bücher geschrieben werden. und gerade dadurch ist unglaublich lesenswert.

Bewertung vom 22.03.2025
Echokammer / Ein Fall für Benjamin & Tong Bd.1
Johnsrud, Ingar

Echokammer / Ein Fall für Benjamin & Tong Bd.1


sehr gut

"Wäre die Politik nicht schmutzig, könnte es schließlich jeder machen."
Norwegen steht kurz vor der Parlamentswahl. Alleine die Ränkespiele und Intrigen rund um die fiktive Kandidatin der Arbeiterpartei, Christiane Nielson, würden schon ausreichend Stoff für einen Politthriller bieten. Ihr scheint jedes Mittel recht zu sein, um an die Macht zu kommen. Ihr zur Seite steht ihr juristischer Berater Jens Meidell, ein ehemaliger Polizeijurist und Verfechter einer harten Hand gegenüber Kriminellen. Als Sohn der ehemaligen Parteivorsitzenden Ingrid Meidell kennt er das politische Geschäft seit Kindesbeinen, war bislang aber nicht selbst politisch aktiv. Innerparteilich hat Nielson nicht nur Befürworter, doch die Presse feiert sie. Unterstützt wird sie auch von einer politischen Beraterfirma. Welches Mittel ist dabei legitim, um die Wahl zu gewinnen?
Doch Ingar Johnsrud belässt es nicht dabei, sondern zeichnet ein Bild von einer Gesellschaft, deren Demokratie von rechtem Gedankengut bedroht ist. Gerade die verschiedenen Facetten des Rechtsextremismus fand ich sehr gut dargestellt, von der Prepperszene, sozial benachteiligten Jugendlichen mit Neonazi-Tendenzen, einer gewaltbereiten rechten Szene, den ideologischen und finanziellen Unterstützern aus gutem Hause, und Menschen, denen alles recht ist, um ein gutes Geschäft zu machen. Ebenso wird der gesellschaftliche Twist wurde gut dargestellt, rechte Positionen werden bis weit über die sogenannte bürgerliche Mitte bis in die Arbeiterpartei hinein salonfähig. Die Populistin Christina scheut nicht davor zurück, wenn es ihr zum Wahlsieg verhelfen könnte.
Man müsste mehr wissen über die norwegische Politik, um einordnen zu können, weshalb Ingar Johnsrud ausgerechnet die Arbeiterpartei in den Mittelpunkt seines Romans gestellt hat. Die Partei, deren Jugendorganisation 2011 vom Rechtsterroristen Anders Breivik auf Utøya angegriffen wurde. In Johnsruds Thriller droht ein weiteres Terrorszenario. Rechtsextremisten bedrohen das Land, ein Terroranschlug steht unmittelbar bevor. Das tödliche Gift Rizin ist im Spiel. Der Countdown läuft.
Inhaltlich ein spannender Politthriller, den ich weiterempfehlen würde, auch wenn die Ermittlungen mir teilweise zu oberflächlich dargestellt wurden. Das Ermittlerduo, bestehend aus Liselott Benjamin, einer ehemaligen Polizeiunterhändlerin, und dem ehemaligen Anti-Terrorexperten Martin Tong, bleibt leider ziemlich blass. Insbesondere von Benjamin konnte ich mir bis zum Ende des Buches kein wirkliches Bild machen.
Der Thriller endet mit einem spannenden Cliffhanger, der Lust auf die Fortsetzung macht. „Echokammer“ ist der erste Band einer Trilogie, der im norwegischen Original den Titel „Patrioter“ (Patrioten). Der deutsche Titel erklärt sich nicht von selbst. Gemeint ist damit der Effekt, dass Menschen im Internet nur noch mit Gleichgesinnten kommunizieren und sich dadurch immer weiter in eine Ideologie verstricken. „Echokammer“ ist erschreckend real und dabei vor allem eins: hochspannend.

Bewertung vom 20.03.2025
Geheimnisvolles La Rochelle / La Rochelle Bd.3
Vinet, Jean-Claude

Geheimnisvolles La Rochelle / La Rochelle Bd.3


weniger gut

Für mich war es der erste Roman aus dieser Reihe, und vielleicht liegt es auch daran, dass ich mit dem Buch bis zum Ende nicht wirklich warm geworden bin.

Was habe ich erwartet? Einen spannenden Kriminalfall, Familiengeheimnisse und Einblicke in die Cognac-Welt, das alles vor einer traumhaften Urlaubskulisse. Leider wurden meine Erwartungen nur zum Teil erfüllt.

Als "Quereinsteigerin" hat mich anfangs die Vielzahl der auftretenden Personen schlichtweg erschlagen. Tatsächlich habe ich nach 100 Seiten nochmal von vorne angefangen, weil ich nicht mehr mitkam, und mir dann ein Personenregister angelegt. Ich habe Nebenfiguren weggelassen und trotzdem standen am Ende mehr als dreißig Namen auf meinem Zettel. Das ist zu viel für 138 Seiten, zumal zumeist nur die Namen erwähnt werden, ohne dass die Personen wirklich vorgestellt werden,. Erst auf S. 118 erfährt man etwa den Vornamen des Kommissars. Dass es sich bei Adrien und Moreau um ein und die selbe Person handelt, wurde mir auch erst spät in der Handlung klar.

Es ist ja bei Büchern dieser Art üblich, dass der deutsche Autor sich hinter einem französischen Pseudonym verbirgt. Französisch vom Stil her wird das Buch dadurch allerdings nicht. Besonders anregend fand ich die Geschichte bis zum Ende nicht. Sie bewegt sich auf dem Level einer deutschen Fernsehproduktion. Die Handlung plätschert vor sich hin. Stereotype aller Art werden bedient, der miese Chef, der teekochende Maghrebiner, der maffiöse Italiener, die zickige Upperclass-Tussie,. die Gauloise-rauchende Lesbe etc. etc. Männer werden tendenziell eher mit ihrem Nachnamen genannt, Frauen mit ihrem Vornamen. Ich habe keine der Figuren als charakterlich tiefgehend beschrieben wahrgenommen. Stattdessen werden Klischees bedient.

Passend dazu verbreitet der Autor eine Familienidylle rund um den Kommissar, die mich nicht überzeugen konnte. Das Geheimnis um seine Mutter könnte spannend sein, wird aber nur am Rande erwähnt, und lässt sich für Quereinsteiger nicht gut nachvollziehen.

Besser gefallen haben mir die Landschaftsbeschreibungen und die enthaltenen Informationen zur Cognac-Herstellung.

Absolut ärgerlich, dass der Klappentext ja schon nahegelegt hat, dass es um die Cognac-Familie und ihre „dunklen Geheimnisse“ geht. Somit war klar, dass die erste Spur sich als Irrweg erweist. Dem Autor ist das nicht zwingend anzulasten, wohl aber dem Verlag. Zudem hätte ein ordentliches Lektorat dem Buch gut getan. So enthält es zahlreiche Rechtschreib- und Grammatikfehler, die vermeidbar gewesen wären.

Die Handlung hat mich nicht wirklich überzeugt, und ab einem gewissen Punkt war die Auflösung absehbar.

Fazit: eine sehr deutsche seichte Unterhaltungsliteratur für zwischendurch mit ein bisschen Frankreich-Feeling (2 1/2 Sterne)

Bewertung vom 16.02.2025
Flusslinien
Hagena, Katharina

Flusslinien


ausgezeichnet

Die Stille, die eintritt, wenn der Besuch gegangen ist - Berührender Generationenroman mit der Elbe als stiller Akteurin

Flusslinien von Katharina Hagena kommt eher unscheinbar daher. Der Schutzumschlag zeigt eine Flusslandschaft, leicht verschwommen, etwas melancholisch. Der Einband ist lindgrün, das Vorsatzblatt passend zum Titel von feinen Linien durchzogen. Einen optischen Akzent setzen das Kapitalband und das Leseband in pink. Wer in Zeiten auffälliger Covergestaltung mit grellen und aufwändigen Farbschnitten zu diesem eher schlichten Buch greift, wird mit einem wunderbaren Leseerlebnis belohnt.

Im Mittelpunkt des Buches stehen drei Akteur*innen, die wir an zwölf Tagen durch ihr Leben an der Elbe begleiten dürfen. Die hochbetagte Margit wohnt in einer Seniorenresidenz an der Elbe. Ihre Sinne lassen nach, doch manches scheint die ausgebildete Stimmbildnerin dadurch noch viel bewusster und sensibler wahrzunehmen. Ihr Erinnerungen, die bis in ihre Kindheit zurückreichen, sind anrührend und erzeugen einen Leseeindruck, der gut mit dem Coverbild harmoniert; während manches verschwommen bleibt, treten andere Ereignisse deutlich hervor. So erfahren wir durch Margits Erinnerungen von der Landschaftsgärtnerin Elsa Hoffa, der Gestalterin des Römischen Gartens in Hamburg. Zauberhaft beschreibt Hagena dieses Kleinod, ebenso wie die Landschaft der Elbe, die Bedrohung und bedroht zugleich sein kann. Der Naturschutz spielt eine unaufdringlich Rolle. Arthur, der am Fluss wohnt und in der Seniorenresidenz als Fahrer arbeitet, ist engagiert beim Nabu, rettet Kröten, ist ein Sondengänger und erfindet Sprachen. Dabei sucht er Halt nachdem er einen Schicksalsschlag erlitten hat. Und dann ist da noch Luzie, Margits Enkelin, die mit ihren gerade 18 Jahren versucht, ein Trauma zu überwinden und den Weg zurück ins Leben zu finden. All dies erzählt Hagena in undramatischer Weise, einfühlsam und manchmal humorvoll. So entsteht ein Raum, in dem wir nach und nach Einblick erhalten, in das, was die Protagonist*innen bewegt.

Flusslinien ist ein wundervoll geschriebenes, feinfühliges und poetisches Buch, vielschichtig und absolut lesenswert!

Bewertung vom 08.02.2025
Haltlos
Nisi, Sarah

Haltlos


ausgezeichnet

Sag die Wahrheit! – Psychothriller um verlorengegangene Erinnerungen

»Ich brauche die Psyche der Figuren, nicht ihr Blut.« Sarah Nisi

Emilys Freundin Liv ist tot. Sie stürzte auf die Gleise der Londoner U-Bahn und Emily hat es mit angesehen. Doch sie erinnert sich nicht daran. Diese Story hat mich direkt gepackt. Emilys Amnesie wird so realistisch geschildert, dass ich geradezu mit ihr mitfühlen konnte. Auch ihre Alpträume und Panikattacken sind gut nachvollziehbar. Wie furchtbar muss es sein, sich nicht erinnern zu können, ob es ein Suizid war, ein Unfall oder gar ein Mord. Oder ist die Amnesie ein Schutz, um das schreckliche Ereignis nicht immer wieder erinnern zu müssen?

Schauplatz des Buches ist vor allem das Barbican Estate, eine in den 1980ern entstandene Wohnanlage aus einer Zeit, in der Beton-Brutalismus als futuristisch galt. Als Handlungsort eines Thrillers eine großartige Szenerie. Auch es gibt nur wenige Protagonist*innen. Da sind Emily, der merkwürdige Nachbar Shakes, Emilys Exfreund Alex, der U-Bahnwärter Paul und die Tote Liv, die wir durch ihr Tagebuch näher kennen lernen. Sarah Nisi reduziert durch diese Kargheit der Handlungsorte und der Personen den Thriller auf das Wesentliche, nämlich auf die Frage, was wirklich passiert ist in der Holborn Station, Gleis 3. Emily sucht nach der Wahrheit und Sara Nisi bereitet uns damit eine spannende Lesezeit, bei der meine Nackenhaare sich aufgestellt haben. Eine tolle Geschichte mit genialen Plot-Twists!

»Haltlos« von Sara Nisi ist ein echter Hingucker. Ein heller Blauton dominiert das Äußere – Farbschnitt, Titel und der Name der Autorin sowie die Umrandung des Titelbildes sind in diesem Blau gehalten. Das Titelbild – es könnte einen Flur im Barbican Estate zeigen – ist beinahe monochrom, schlicht und gerade dadurch entsteht eine Atmosphäre der Verlorenheit. Cover und Titel passen großartig zur Story. Eine posttraumatische Amnesie ist ja tatsächlich wie ein leerer Gang mit verschlossenen Türen.

Fazit: Ein brillanter Psychothriller, der ohne reißerische Szenen auskommt, und gerade dadurch überzeugt.

Bewertung vom 25.01.2025
Not your Darling
Blake, Katherine

Not your Darling


sehr gut

Abrechnung mit Hollywood

Hollywood 1950 – die Stadt der großen Träume. Margaret aus Morecombe ergaunert sich unter falschem Namen eine illegale Einreise in die USA. Das Seebad im Nordwesten Englands ist ihr nicht mehr groß genug. Sie hegt das Ziel, Maskenbildnerin in Hollywood zu werden. Wen oder was die junge Frau dabei hinter sich lässt, erfahren wir lange nicht. Für ihren großen Traum geht sie - unbekümmert und voller Abenteuerlust - allerlei Risiken ein. Der amerikanische Kleinkriminelle Jimmie kann gar nicht so schnell gucken, wie sie ihn zum Werkzeug ihrer Träume macht. Dabei wollte er doch nur Seidenstrümpfe schmuggeln. Wunderbar! Angekommen in Hollywood lernt Margret, die sich mittlerweile Loretta nennt, die Prostituierte Primrose kennen, die zu einer Freundin wird. Mit dem Nachwuchsschauspieler Raphael hat sie weniger Glück. Er ist ein rücksichtsloser Blender und sie geht ihm auf den Leim.

Ein Oscar Wilde zugeschriebenes Zitat zu Beginn des Buches lässt aufmerksame Lesende vermuten, dass es in diesem Buch nicht bei frechen Dialogen und einer Geschichte über den American Dream bleiben wird. Die Schattenseiten der Traumfabrik lernt Loretta schneller kennen, als ihr lieb ist. Intrigen und Klatsch, menschliche Abgründe und toxische Männlichkeit weißer heterosexueller Männer prägen ebenso die Filmszene, wie vordergründig Glanz und Glamour es tun. Als Maskenbildnerin wirkt Loretta erfolgreich am schönen Schein mit, doch durch die Erzählung demaskiert die Ich-Erzählerin schonungslos die Welt der Studios und ihre Protagonist*innen.

Katherine Blake lenkt mit NOT YOUR DARLING (Originaltitel: The Unforgettable Loretta, Darling) den Blick auf Missstände im Filmgeschäft, die damals als normal angesehen wurden. Hollywood war das Sinnbild der Verruchtheit, sexuelle Freizügigkeit wurde erwartet (solange sie heterosexuell ausgerichtet war und keine vermeintlichen Rassenschranken übertreten wurden), und wenn sexualisierte Gewalt stattfand, dann konnte der Täter eigentlich nichts dafür, denn dann griff die Schuldumkehrung:

Er hat gesagt, das ist alles völlig normal und liegt nur am – wie hieß das doch? Testosteron. Ein Mann hätte eben Bedürfnisse, die er nicht kontrollieren kann, und darauf sollte ich mehr Rücksicht nehmen. (S. 298)
NOT YOUR DARLING ist aber auch ein Roman über eine junge Frau, die in dieser Welt unbeirrt ihren Weg geht, nicht nur ein loses Mundwerk hat, sondern auch großartige Talente und Kenntnisse, die ihr helfen sich zu behaupten und sich gegen Männer zur Wehr zu setzen. Es ist ein Buch über Frauenfreundschaften, frech und witzig und wenn die Sprache manchmal holprig wirkt, dann muss das nicht zwingend am englischen Originaltext liegen.

Und doch bleibt die Geschichte zu oft an der Oberfläche. Die Charaktere sind meist klischeehaft gezeichnet, die Stadt an sich, ihre außergewöhnliche Architektur, bleibt seltsam unbeschrieben. Auch der zeitliche Ablauf bleibt weitestgehend unerwähnt. Der Schreibstil ist unterhaltsam und lädt zum schnellen Lesen ein, aber es ist keine große Literatur. Der Blickwinkel richtet sich konsequent von Lorettas Gegenwart aus in die Zukunft, es bleibt kaum Raum für einen Blick zurück. Das Ende kommt mir zu abrupt und könnte ein Hinweis auf einen Folgeband sein.

Zusammenfassend ein gutes Buch zu einem wichtigen Thema. Ich spreche eine Leseempfehlung aus und vergebe 4 Sterne ⭐⭐⭐⭐ .

Abspann:
Ich erinnere mich an dich, Loretta. (…) Du bist das Lip Girl! Lässt dir nichts gefallen, machst die schönsten Lippen. Das weiß jeder! (S. 202)

Bewertung vom 19.01.2025
Die blaue Stunde
Hawkins, Paula

Die blaue Stunde


ausgezeichnet

Düstere Geheimnisse

"Die blaue Stunde" von Paula Hawkins ist ein psychologischer Spannungsroman. Ein Spannungsroman unterscheidet sich von einem Krimi dadurch, dass nicht die Tätersuche im Mittelpunkt steht, sondern die innere Entwicklung der Protagonist*innen. Wer also eine handlungsorientierte Geschichte erwartet, wird mit diesem Buch nicht gut zurechtkommen. Wer sich jedoch mit der Psyche der beschriebenen Personen beschäftigen mag, mit ihren Empfindungen, Verletzungen und Abgründen, der wird an diesem Roman seine Freude haben.

Paula Hawkins erzählt eine Geschichte, in der es vordergründig um die Werke einer längst verstorbenen berühmten und geheimnisumwitterten Künstlerin geht. Vanessa Chapman hat ihr Œuvre einer Stiftung vermacht und ihre enge Freundin Grace Haswell zur Testamentsvollstreckerin bestimmt. Da es zu juristischen Auseinandersetzungen zwischen der Stiftung und der vereinsamten alten Dame kommt, macht sich Kurator James Becker auf den Weg zu ihr nach Eris Island. Zudem wird offenbar, dass eine Installation der Künstlerin offenbar einen menschlichen Knochen enthält. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dabei um ein Relikt des verschollenen Ehemanns der Künstlerin handelt.

James Becker hat eine besondere Obsession für Vanessa Chapman. Diese treibt ihn immer wieder auf die abgelegene schottische Gezeiteninsel Eris Island, auf der sein Idol lange Zeit lebte. Die raue, mystische Natur des Schauplatzes verleiht dem Roman eine besondere Atmosphäre. Eris Island ist eine Metapher für den Verlauf der Geschichte. Hawkins baut den Spannungsbogen gekonnt langsam auf. Sie beschreibt die düstere und trotzdem wunderschöne Natur mit all ihren Gefahren. Sie erschafft komplizierte Verbindungen zwischen Menschen, die ihre eigenen Geheimnisse oder Verletzungen in sich tragen. Keine der Figuren bietet sich dabei als Sympathieträger*in an. Da ist die exzentrische, teilweise manische Künstlerin; Es gibt snobistische Protagonist*innen, gewalttätige Männer, Personen, die von Minderwertigkeitsgefühlen bestimmt werden. All dies fügt Hawkins zu einer fesselnden Erzählung zusammen. Ganz langsam baut sich die Spannung auf, die Situation wird stetig bedrohlicher. Menschliche Abgründe werden durch solche der Natur widergespiegelt.

Mich konnte "Die blaue Stunde" von der ersten bis zur letzten Seite fesseln. Die Covergestaltung der deutschen Ausgabe rundet das Lesevergnügen ab. Der Blick aus einem dunklen Raum auf das tosende Meer fängt die Stimmung des Romans hervorragend ein. 5 Sterne ⭐⭐⭐⭐⭐ für einen Roman, der ganz wunderbar zu langen dunklen Herbst- und Winterabenden passt.

Bewertung vom 19.01.2025
Lesereise Dublin
Quint, Nicole

Lesereise Dublin


ausgezeichnet

Liebeserklärung an Baile Átha Cliath

Dublin hat viele verschiedene Seiten und nicht alle zeigen eine Postkartenansicht. Nicole Quint nimmt uns auf ihrer Lesereise mit zu bekannten und weniger bekannten Ecken der irischen Hauptstadt. Man merkt der Reisejournalistin an, dass sie eine intime Kennerin dieser Stadt ist, in der sie eine Weile wohnte und die sie seit über zwanzig Jahren immer wieder bereist. Sie teilt ihre persönlichen Gedanken mit uns, und das in einer zauberhaften Sprache. Egal ob es um Kuriositäten wie eine eingewachsene Parkbank oder den Taxi-Jesus geht, um die dunklen Seiten der Stadt, die Obdachlosigkeit, den einseitigen Umgang mit dem kulturellen Erbe durch das Tourist Office, oder um Wahrzeichen wie Molly Malone. Da es sich um eine Lesereise handelt, muss man sich ganz auf das geschriebene Wort einlassen, denn in dieser Reihe aus dem Picus-Verlag gibt es keine Bebilderung. Dem Lesevergnügen tut das jedoch keinen Abbruch. Vielmehr wird dadurch die Neugier geweckt, das alles mit eigenen Augen sehen zu wollen. Bei meiner nächsten Dublin-Reise wird dieses Büchlein sicherlich mit im Gepäck sein. Schon beim Lesen wollte ich am liebsten die Schuhe anziehen und entlang der Liffey laufen oder zur Bloomsday-Tour aufbrechen, Seafood Chowder genießen und Folk Music hören.

Die Lesereise besteht aus fünfzehn kleinen Kapiteln und einem begeisternden Vorwort. Die Übergänge von einem Kapitel zum nächsten sind dabei fließend, so dass ein Lesesog entsteht. Dennoch habe ich dieses Büchlein Stück für Stück genossen. Immer nur ein oder zwei Kapitel - kleine Lesepralinen, die mir den Alltag versüßt haben. Die LESEREISE DUBLIN ist wie eine verführerische Konfektschale, und ich war wehmütig, als ich das letzte Kapitel ausgelesen hatte. Für mich war es die erste Lesereise und ich muss sagen: das Format hat mich überzeugt. Und nach dem Namen Nicole Quint werde ich Ausschau halte, wenn ich demnächst nach Reiseliteratur suche.

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