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Monsieur
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Amorbach

Bewertungen

Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 22.04.2025
Wenn die Tage länger werden
Stern, Anne

Wenn die Tage länger werden


sehr gut

Starker Start, dann driftet der Roman zu sehr ab

Anne Sterns Roman „Wenn die Tage länger werden“ beginnt als intensive Innenschau einer Frau am Rande ihrer Kräfte. Lisa, eine alleinerziehende Musiklehrerin, jongliert zwischen Schulalltag und der Erziehung ihres Sohnes – eine Aufgabe, die ihr kaum Raum für eigene Bedürfnisse lässt. In kurzen, prägnanten Aussagesätzen zeichnet Stern das Porträt einer Frau, die sich selbst über Jahre hinweg vergessen hat – mitsamt ihren Träumen, insbesondere jenem, eine professionelle Violinistin zu werden.
Diese bedrückende, aber überaus realistische Darstellung weiblicher Selbstaufopferung ist das große Pfund des Romans – zumindest in seiner ersten Hälfte. Stern gelingt es, mit hoher Sensibilität und sprachlicher Klarheit die erschöpfte Lebensrealität vieler Frauen einzufangen, ohne ins Klagende abzudriften.
Doch mit Beginn der Sommerferien erfährt die Erzählung eine abrupte Wende: Lisa gibt ihren Sohn für einige Wochen in die Obhut seines Vaters und gewinnt dadurch zum ersten Mal seit Jahren Zeit für sich selbst. Als sie ihre geerbte Geige zur Reparatur bringt, öffnet sich nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein historisches Fenster. Der Roman wechselt nun in eine Spurensuche, die über die Geschichte der Geige zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs führt.
Diese zweite Hälfte wirkt jedoch weniger kohärent. Der Fokus verlagert sich von Lisas emotionaler Innenwelt zu einer losen und stellenweise konstruiert wirkenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die Verbindungen zwischen Lisa, der Geige und deren Geschichte erscheinen oft zufällig und lassen den sorgfältigen Aufbau der ersten Kapitel seltsam wirkungslos, wenn gar überflüssig erscheinen. Fragen nach Identität, Verantwortung und persönlicher Entwicklung werden zugunsten eines zunehmend unterhaltungsorientierten Plots nur oberflächlich gestreift.
Was als vielversprechende Reflexion über moderne Mutterschaft und weibliche Selbstverwirklichung beginnt, verliert sich zunehmend in einer etwas beliebig wirkenden Vergangenheitsgeschichte. Die Tiefe des Auftakts wird nicht gehalten, die Themen der Überforderung und Selbstfindung weichen einer Story, die mehr auf Spannung als auf Relevanz setzt.
Als reiner Unterhaltungsroman erfüllt „Wenn die Tage länger werden“ seine Funktion – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenngleich der Anfang deutlich mehr versprach.

Bewertung vom 16.04.2025
Drei Wochen im August
Bußmann, Nina

Drei Wochen im August


gut

Ein Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen

In „Drei Wochen im August“ versammelt Nina Bussmann ihre Figuren in einem abgelegenen Ferienhaus an der französischen Atlantikküste. Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Familienroman anmutet, erweist sich schnell als Versuch, das Genre auf unkonventionelle Weise neu zu denken. Im Mittelpunkt steht Elena, die sich in einer kriselnden Ehe befindet. Um Abstand zu gewinnen, reist sie ohne ihren Mann, aber mit ihren drei Kindern und zwei familienfremden Personen in den Urlaub.
Bussmann interessiert sich weniger für äußere Handlung als für das feine Geflecht der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie seziert das Zusammensein auf engem Raum mit präzisem Blick, besonders Elenas ambivalentes Verhältnis zu ihren Kindern. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die bislang eher verschlossene, dickliche Tochter, die im Verlauf des Aufenthalts zögerlich beginnt, sich zu öffnen.
Spannungen entstehen schleichend und bleiben oft unter der Oberfläche – ein erzählerischer Kniff, der die Atmosphäre unterschwellig auflädt, ohne sie zu dramatisieren. Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass der vermeintlich idyllische Rückzugsort zur Projektionsfläche für verdrängte Emotionen wird. Elena, gezwungen zur Innenschau, entdeckt dabei nicht nur ihre Rolle als Mutter, sondern auch sich selbst neu.
Trotz dieser vielversprechenden Anlage gelingt es Bussmann nicht durchgehend, ihre Figuren greifbar zu machen. Sie bleiben distanziert, fast austauschbar. Diese emotionale Unnahbarkeit erschwert die Identifikation und lässt die literarische Auseinandersetzung mit den Charakteren unbefriedigend wirken. Gerade weil der Roman beinahe vollständig auf seine Figuren baut und Handlung nur als Hintergrundrauschen dient, wiegt dieser Mangel schwer.
Auch stilistisch bleibt Bussmann hinter den Erwartungen zurück: Ihr knapper, teils abgehackter Schreibstil wirkt oft spröde und schafft es nicht, über die gesamte Länge zu tragen.
„Drei Wochen im August“ ist ein ambitionierter, aber letztlich blasser Roman. Er hinterlässt kaum Spuren – weder inhaltlich noch emotional. Nach der letzten Seite sind Elena und ihre Familie schnell vergessen.

Bewertung vom 25.03.2025
Was ich von ihr weiß
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


sehr gut

Mimos steiniger Weg

Am 1. April 2025 bringt der Luchterhand Literaturverlag den mit dem Prix Goncourt 2023 ausgezeichneten Roman "Was ich von ihr weiß" des französischen Autors Jean-Baptiste Andrea endlich auch in deutscher Übersetzung heraus. Dieses literarische Werk, das sich als ambitioniertes Epos über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts versteht, vereint mehrere Genres in sich: Es ist zugleich Künstlerroman, Historienbuch, Bildungs- und Gesellschaftsroman – ein komplexes Unterfangen, das hohe Erwartungen weckt.
Im Zentrum der erzählten Geschichte steht Michelangelo Vitaliani, kurz Mimo, der in bescheidenen Verhältnissen aufwächst und schon früh mit der Bildhauerei in Berührung kommt. Sein Talent offenbart sich schnell, doch der Weg an die Spitze ist lang und voller Rückschläge. Mimo hat nicht nur mit Armut zu kämpfen, sondern muss sich auch gegen Anfeindungen seiner Umgebung zur Wehr setzen. Als Kleinwüchsiger hat er es in dem körperlich anstrengenden Beruf des Bildhauers schwerer als andere. Trotz zahlreicher Rückschläge und Phasen des Scheiterns behauptet er sich schließlich und avanciert zu einem gefeierten und begehrten Künstler.
Eine zentrale Rolle im Roman spielt auch Viola, die Mimo während eines Bildhauerauftrags in ihrer gemeinsamen Kindheit kennenlernt. Im Gegensatz zu ihm stammt sie aus wohlhabenden Verhältnissen, empfindet ihre Startbedingungen jedoch keineswegs als ideal. Als junge Frau im frühen 20. Jahrhundert fühlt sie sich von den gesellschaftlichen Erwartungen eingeengt und strebt nach größerer Freiheit. Ihr Traum, das Fliegen zu lernen, symbolisiert ihren Wunsch nach Unabhängigkeit. Gemeinsam mit Mimo widmet sie sich in ihrer Jugend der Erforschung und dem Bau von Flugmaschinen, doch ihre Bemühungen enden tragisch in einem schweren Unfall.
Jean-Baptiste Andrea erzählt die Geschichte von Mimo und Viola über viele Jahre hinweg. Der Roman verweilt lange in der Kindheit und Jugend der Protagonisten, bevor er sich Mimos Reifeprozess als junger Mann widmet und schließlich zum Wiedersehen der beiden nach vielen Jahren springt. Die latente Liebesgeschichte zwischen Mimo und Viola wird dabei immer wieder von langen Trennungen und den Wirren der Zeitgeschichte unterbrochen. Die politischen Entwicklungen, insbesondere die beiden Weltkriege, bilden den Hintergrund der Handlung, geraten jedoch erst im letzten Drittel des Romans in den Vordergrund. Hier wird Mimo unmittelbar in die politischen Fronten verwickelt, was der Geschichte eine zusätzliche Dimension verleiht.
Bis dahin bleibt der Roman jedoch überraschend einfach gestrickt. Wer anhand des Klappentextes eine tiefgehende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen erwartet, könnte zunächst enttäuscht sein. Der Schwerpunkt liegt vor allem auf der Schilderung von Mimos Kindheit, seiner Ausbildung in der ersten Werkstatt, seiner Freundschaft mit Viola und seinem kämpferischen Streben nach einem Platz in der Welt. Auch die Figur Viola, die aufgrund ihres rebellischen Wesens und ihrer Suche nach Freiheit eine vielversprechende Protagonistin hätte sein können, bleibt eher im Hintergrund. Sie wird zur Nebenfigur degradiert, während Mimos Lebensweg klar im Mittelpunkt steht.
Dieser Fokus auf Mimo und die teilweise nur oberflächliche Behandlung der anderen Themen führen dazu, dass "Was ich von ihr weiß" insgesamt weniger komplex wirkt, als man es von einem Prix-Goncourt-Gewinner erwarten würde. Der Roman erinnert stellenweise fast an einen Trivialroman, wenngleich er auf einem höheren Niveau unterhält. Jean-Baptiste Andreas Stärke liegt vor allem in der erzählerischen Gestaltung der Geschichte selbst – mit spannenden Wendungen, viel Tragik, Leidenschaft und Drama – weniger jedoch in der Tiefe seiner Themen. Diese bleiben oft unausgearbeitet und bieten wenig neue Einsichten.
Auch die Darstellung von Mimos Ausbildung und Leben als Bildhauer ist zwar zweckmäßig und zufriedenstellend, aber nur bedingt authentisch. Zwar fügen sich historische Details sauber in die Handlung ein, doch die Darstellung des Handwerks und der Zeit bleibt insgesamt eher durchschnittlich. Mimo ist eine vielschichtige Figur, der man gerne durch die Geschichte folgt, doch über die Stationen seines Lebens hinaus fehlt ihm das gewisse Etwas, das eine tiefere Auseinandersetzung mit seinem Charakter spannend machen würde. Dasselbe gilt für Viola, die trotz ihres Potentials nicht über die Rolle einer Nebenfigur hinauskommt.
Als Unterhaltungsroman kann "Was ich von ihr weiß" dennoch überzeugen. Die spannende Geschichte, die zahlreichen dramatischen Wendungen und die tragischen Momente dürften viele Leser ansprechen und bis zum Schluss fesseln. Wer jedoch auf eine tiefere Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Themen der Zeit hofft, könnte eher ernüchtert sein. Jean-Baptiste Andreas Roman bleibt hinter seinen Erwartungen zurück und bietet letztlich wenig neue Erkenntnisse in seinen zentralen Themen.

Bewertung vom 14.03.2025
Flusslinien
Hagena, Katharina

Flusslinien


ausgezeichnet

Eine Brücke zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Katharina Hagenas vierter Roman Flusslinien erzählt von drei Protagonisten in unterschiedlichen Lebensphasen: Margit, Luzie und Arthur. In einer poetischen, fragmentierten Erzählweise verwebt Hagena Vergangenheit und Gegenwart.
Margit, über hundert Jahre alt, lebt in einer Seniorenresidenz. Ihre Erinnerungen an Krieg, Nachkriegszeit und ihre Karriere als Stimmbildnerin tauchen bruchstückhaft auf, fernab pathetischer Geschichtsstunden. Trotz ihrer bewegten Vergangenheit strahlt sie Ruhe aus.
Luzie hat sich nach einer traumatischen Erfahrung vom Abitur abgemeldet. Sie flüchtet sich in die Kunst des Tätowierens und beginnt, Margit und andere Senioren mit Motiven zu verzieren. Abgeschieden an der Elbe sucht sie nach Halt, doch ihre Entschlossenheit macht sie zu einer starken, facettenreichen Figur.
Arthur, zunächst unauffällig, fährt Senioren zu Terminen. Hinter seiner Orientierungslosigkeit verbirgt sich die Sehnsucht nach seinem verschwundenen Zwillingsbruder. Er verbindet Luzie und Margit, Vergangenheit und Zukunft.
Hagena zeichnet ihre Figuren vielschichtig und verbindet schwere Themen mit sanfter, poetischer Sprache. Flusslinien ist ein melancholischer, aber hoffnungsvoller Roman über Erinnerung, Schmerz und unerwartete Verbindungen. Er erscheint am 13. März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch und zählt zu den bemerkenswerten Neuerscheinungen des Frühjahrs.

Bewertung vom 07.03.2025
In einem Zug
Glattauer, Daniel

In einem Zug


sehr gut

Eine Unterhaltung, die im Zug Fahrt aufnimmt

Daniel Glattauers Roman "In einem Zug", der am 13. Januar 2025 bei Dumont erschienen ist, kann in vielerlei Hinsicht als eine Rückbesinnung auf die größten Stärken des Autors angesehen werden. Wie bereits in seinem Bestseller "Gut gegen Nordwind" gelingt es Glattauer erneut, eine eindringliche Erzählung auf engstem Raum zu inszenieren, die durch ihre Dialogführung beeindruckt.
Die Handlung ist denkbar simpel: Eduard Brünhofer, ein gefeierter Autor von Liebesromanen, sitzt im Zug nach München einer jungen Frau, Catrin, gegenüber. Und sie beginnen eine Unterhaltung. Was als belangloses Gespräch beginnt, entwickelt sich zunehmend zu einer tiefgehenden Konversation, in der sich die beiden Fremden mit einer erstaunlichen Offenheit begegnen. Der Leser wird Zeuge eines sich entfaltenden Dialogs, in dem Eduard und Catrin sich gegenseitig Einblicke in ihre innersten Gedanken und Gefühle gewähren.
Glattauer bleibt seinem Stil treu und erschafft eine beeindruckende Charakterzeichnung allein durch die Worte seiner Figuren. Die gesamte Handlung entfaltet sich fast ausschließlich in der Unterhaltung zwischen den beiden, nur unterbrochen von kurzen, reflektierenden Einschüben. Die Konservation nimmt bald an Intensität zu, begünstigt auch durch den Genuss von etwas Wein. Eduards anfängliche Zurückhaltung weicht einem immer offeneren Gespräch, in das Catrin sich mehr und mehr einbringt.
Die Metaphorik der Zugfahrt als Sinnbild für den fortlaufenden Gesprächsfluss ist brillant gewählt: So wie der Zug zwischen den Stationen nicht anhalten kann, so scheinen auch Eduard und Catrin sich nicht mehr aus ihrem Gedankenaustausch lösen zu können. Sie springen von Thema zu Thema, tasten sich langsam an immer intimere Geständnisse heran und verlieren sich schließlich ganz in ihrem Dialog.
Glattauer versteht es, seine Leser zu fesseln, auch wenn sich die gesamte Handlung auf den begrenzten Raum einer Zugkabine beschränkt. Die emotionale Tiefe und die kunstvolle Sprachführung machen "In einem Zug" zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis. Zwar mag die eine oder andere dramaturgische Wendung am Ende etwas unnötig erscheinen, doch beeinträchtigt dies nicht die Gesamtharmonie des Romans. Fans von "Gut gegen Nordwind" werden an diesem Werk große Freude haben.

Bewertung vom 27.02.2025
Die Tage nach dem Pflaumenregen
Chen, Karissa

Die Tage nach dem Pflaumenregen


sehr gut

Verlorene Träume

Karissa Chens Debütroman "Die Tage nach dem Pflaumenregen", der am 27. Februar 2025 im Gutkind Verlag erscheint, ist ein ambitioniertes Werk, das das Schicksal zweier Menschen eng mit der Geschichte Chinas verknüpft. Schon im Vorfeld deutete sich eine epische, zeitlich umspannende Erzählweise an, die die Lebenswege der Protagonisten Sushi und Haiwen von ihrer Kindheit in den 1930er Jahren bis zu ihrem späten Wiedersehen in Los Angeles nachzeichnet.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1938, als sich die beiden Nachbarskinder Sushi und Haiwen kennenlernen. Beide sind schüchtern und zurückhaltend, doch gerade diese Gemeinsamkeit bringt sie einander näher. Hinter ihren stillen Fassaden verbergen sich große Träume: Haiwen möchte eines Tages als professioneller Geiger auftreten, während Sushi von einer Karriere als Sängerin träumt. Doch das Schicksal hat andere Pläne für sie, und die Leser wissen bereits zu Beginn, dass sie weder ihre Träume verwirklichen noch als Paar zusammenfinden werden. Dies wird durch eine kluge Erzählentscheidung der Autorin früh enthüllt: Gleich zu Beginn beschreibt sie ein erneutes Aufeinandertreffen der beiden in Los Angeles – sechzig Jahre später.
Der Roman schildert in einem prägnanten und fließenden Erzählstil die Lebenswege der beiden Hauptfiguren. Feinfühlig beschreibt Karissa Chen die stillen Momente ihrer Kindheit, das vorsichtige Erkunden des anderen Geschlechts und die ersten Herausforderungen, die ihnen in den Weg gelegt werden. Besonders Sushis Eltern stehen einer Verbindung mit Haiwen skeptisch gegenüber, und doch könnte man anfangs meinen, dass ihre Freundschaft die Widerstände überdauern wird.
Doch das Leben hält andere Wendungen bereit: Haiwen gibt seine Karriere als Geiger und auch seine Beziehung zu Sushi auf, um sich dem Militär anzuschließen und seiner Familie zu helfen. Damit gerät sein Leben auf eine völlig andere Bahn, und erst im Alter wagt er einen letzten Versuch, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Doch kann man einst verlorene Träume wiederbeleben? Oder sind sie im Laufe der Jahre nur noch blasse Erinnerungen?
„Die Tage nach dem Pflaumenregen“ wirft grundlegende Fragen über Identität und Anpassung auf. Chen zeichnet das Bild zweier Menschen, deren Charakter nicht festgelegt ist, sondern sich den Umständen beugen muss. Vielleicht ist es ein notwendiger Überlebensmechanismus – nicht nur für Individuen, sondern auch für Nationen. Während Sushi und Haiwen mit den Umwälzungen ihrer Heimat ringen, verändert sich auch China über sechs Jahrzehnte hinweg radikal. Politische und gesellschaftliche Umbrüche sind nicht nur eine Kulisse, sondern nehmen direkten Einfluss auf die Lebenswege der Figuren. Die Autorin zeigt auf, dass persönliche Schicksale stets untrennbar mit historischen Ereignissen verwoben sind.
Sushi und Haiwen verlassen China schließlich und beginnen in den USA ein neues Leben. Sushi übernimmt die Verantwortung für ihre Schwester und nimmt selbst die erniedrigende Arbeit in einem Restaurant auf sich. Doch aus dieser Notlage entwickeln sich unerwartete Wendungen: Ein reicher Gönner nimmt sie zur Frau, und sie wird Mutter. Doch trotz ihrer neuen Familie scheint Sushi nie wahres Glück zu finden. Ähnlich ergeht es Haiwen, der ohne Musik und ohne Sushi ein Dasein fristet, das ihn ebenso wenig erfüllt.
Eine der zentralen Fragen des Romans lautet daher: Hätten sie ihr Glück gefunden, wenn sie auf ihrem ursprünglichen Weg geblieben wären? Oder waren ihre Träume in einem von Krieg und Revolution geprägten Land ohnehin zum Scheitern verurteilt? Karissa Chen wagt keine eindeutige Antwort, sondern überlässt es den Lesern, selbst darüber nachzudenken, wie viel Einfluss ein Einzelner auf sein Schicksal hat.
Für einen Debütroman ist „Die Tage nach dem Pflaumenregen“ ein durchaus gelungenes Werk. Karissa Chen nimmt sich die Zeit, ihre Protagonisten über Jahrzehnte hinweg zu begleiten, ohne dass der Roman dabei überladen oder unausgeglichen wirkt. Trotz des historischen Hintergrunds erhebt das Buch keinen belehrenden Anspruch und konzentriert sich in erster Linie auf die beiden Hauptfiguren. Ihre Erlebnisse stehen zwar exemplarisch für viele chinesische Emigranten, doch bleiben sie in ihrer individuellen Tiefe glaubwürdig und greifbar.
Der Roman folgt einer bewährten Erzählstruktur, wie sie bereits in vielen Werken über das Leben im Exil zu finden ist. Dennoch gelingt es Chen, das Thema auf eine Weise zu behandeln, die berührt und zum Nachdenken anregt. „Die Tage nach dem Pflaumenregen“ ist eine einfühlsame Geschichte über verpasste Chancen, über die Anpassungsfähigkeit des Menschen und über die Frage, ob sich verlorene Träume jemals wiederfinden lassen. Wer sich auf das bewegende Schicksal von Sushi und Haiwen einlässt, wird in diesem Buch einige fesselnde Lesestunden erleben.

Bewertung vom 26.02.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


sehr gut

Umwege eines Lebens

Takis Würgers neuer Roman "Für Polina", erschienen am 26. Februar 2025 im Diogenes Verlag, stellt erneut eine außergewöhnliche Frauenfigur ins Zentrum der Geschichte. Die titelgebende Polina ist jedoch nicht konkurrenzlos, denn der Erzähler Hannes, der seit seiner Kindheit mit ihr verbunden ist, verfolgt noch eine zweite bedeutende Leidenschaft: das Klavierspielen.
Hannes ist ein schüchterner und verschlossener Junge, der zunächst kaum den Eindruck erweckt, ein besonderes Talent zu besitzen. Er wächst vaterlos bei seiner Mutter Fritzi auf, die ihn als junges Mädchen während einer Italienreise unfreiwillig mit einem Marmorhändler gezeugt hat. Durch eine fast zufällige Begebenheit kommt er in Kontakt mit dem Klavier seines Vermieters Heinrich Hildebrand und entdeckt seine außergewöhnliche Begabung. Bald zeigt sich nicht nur sein Talent für das Spiel, sondern auch für das Komponieren. Hannes, der zuvor ziellos durchs Leben driftete und in der Schule wenig Erfolg hatte, findet in der Musik eine Bestätigung, die ihm Halt gibt und seine Träume entfacht.
Doch der Preis für diese Kunst ist hoch. An einem bestimmten Punkt beschließt Hannes, ihn nicht länger zu zahlen. Dies führt ihn in eine existenzielle Krise, in der er sich mehrmals verliert, aber auch immer wieder findet. Hannes ist eine vielschichtige Figur, die oft zwischen Extremen schwankt. Er fürchtet den Verlust von Dingen, die ihm wichtig sind, und neigt dazu, aufzugeben, bevor er eine Niederlage erleiden könnte. Dies betrifft nicht nur seine Beziehung zur Musik, sondern auch seine Liebe zu Polina. Obwohl er sich zeitlebens nach ihr sehnt, weist er sie in jungen Jahren immer wieder unbewusst zurück.
Die beiden lernen sich in einer fast villenartigen Mietwohnung kennen, in der Hannes mit seiner Mutter lebt. Polina ist die Tochter einer Freundin von Fritzi. Mit der Zeit entwickelt sich zwischen den beiden eine enge Verbindung. Zunächst wirkt es, als sei Hannes hingebungsvoll an ihr interessiert, während Polina distanzierter bleibt. Doch ein Band zwischen ihnen bleibt bestehen, auch wenn es immer wieder zu reißen droht.
Polina führt ein anderes Leben als Hannes. Sie ist unabhängiger und trifft selbstbewusster Entscheidungen, die sie jedoch nicht vor Fehlern bewahren. Auch sie muss mit Fehltritten und Reue umgehen. Trotz der starken Verbindung der beiden zeichnet "Für Polina" weniger die Momente des Zusammenseins nach, sondern konzentriert sich auf das Getrenntsein. Der Roman ist mehr eine Innenschau Hannes' als eine klassische Liebesgeschichte. Er erkennt zu spät, dass sowohl Polina als auch die Musik sein wahres Lebensglück darstellen. Erst nachdem er auf Abwege geraten ist, findet er den Weg zu sich selbst.
Obwohl Polina als Figur weniger im Fokus der Erzählung steht, bleibt sie stets im Hintergrund präsent und hat eine große Strahlkraft auf Hannes' Leben. Die Erzählweise des Romans gleicht einem wilden Ritt, der bereits mit Fritzis Italienreise an Fahrt aufnimmt und bis zur letzten Seite nicht an Tempo verliert. Auf knapp 300 Seiten schildert Würger die Stationen von Hannes' Leben, von seiner Kindheit bis zum Beginn seiner großen Karriere, und lässt dabei auch seine zahlreichen Umwege nicht aus.
Der Roman ist in einem schnörkellosen Stil geschrieben, der oft nur einen knappen Abriss einzelner Ereignisse liefert, fast wie eine Inhaltsangabe. Würger verweilt selten länger bei einer Szene und springt schnell von einem Meilenstein zum nächsten. Dennoch wirkt der Roman nicht überhastet oder oberflächlich. Besonders die detailreichen Beschreibungen von Hannes' Beruf als Klavier-Transporteur sowie die Charakterisierung von Nebenfiguren wie seinem Chef Blau oder seinem Kollegen Bosch verleihen der Geschichte Tiefe.
Allerdings gibt es auch Aspekte, die weniger gelungen erscheinen. Die Darstellung von Hannes als Wunderkind wirkt oft überzogen und wenig glaubwürdig. Zudem erscheint die Musikwelt, wie sie Würger schildert, manchmal klischeehaft und nicht immer realistisch. Der Roman bietet in dieser Hinsicht wenig Neues und bleibt letztlich ein unterhaltsames, aber nicht innovatives Werk.
"Für Polina" präsentiert sich als solider Liebesroman, der insbesondere durch die eindrucksvolle Darstellung von Hannes' Lebenskrise und deren Überwindung punktet. Auch wenn die Liebesgeschichte vorhersehbar ist, sorgt das hohe Erzähltempo sowie die Leuchtkraft der Figuren für anhaltende Spannung. Der Roman lebt von den Irrwegen, die Hannes' Leben nimmt, und zeigt eindrucksvoll, dass man manchmal Umwege gehen muss, um das Wesentliche zu erkennen. Trotz seiner Schwächen ist "Für Polina" ein fesselnder Roman, der seine Leser mitnimmt auf eine Reise durch ein Leben voller Musik, Liebe und Selbstfindung.

Bewertung vom 25.02.2025
Super-GAU
Davies, Bea

Super-GAU


sehr gut

Distanzierte Sicht auf eine Katastrophe

Bea Davies wagt sich mit ihrer Graphic Novel "Super-GAU" an ein Thema heran, das in der Literatur bislang nur selten behandelt wurde: die Fukushima-Katastrophe von 2011. Am 25. Februar 2025 im Carlsen Verlag erschienen, verwebt die Künstlerin geschickt Fiktion und Realität, indem sie die Katastrophe nicht direkt darstellt, sondern vielmehr die mentalen Auswirkungen auf acht Berliner in den Fokus rückt. Dieser indirekte Zugang spiegelt die Art und Weise wider, wie viele Menschen in Deutschland das Ereignis damals erlebt haben – durch Nachrichten, Gespräche und schleichende Sorgen.
Die Wahl, die Geschichte nicht aus der Perspektive unmittelbar Betroffener zu erzählen, sondern aus der Sicht von Menschen, die Tausende Kilometer entfernt sind, ist eine mutige und gleichzeitig treffende Entscheidung. Sie ermöglicht es den Lesern, sich mit den Figuren zu identifizieren, die selbst von der Katastrophe nur aus zweiter Hand erfahren und dennoch mit ihren Auswirkungen konfrontiert werden. Anfänglich ist das Unglück für die Figuren nur eine Randnotiz in den Nachrichten, doch im Verlauf der Geschichte beginnt es, sich in ihre Gedankenwelt einzuschleichen, Ängste hervorzurufen und das alltägliche Leben zu beeinflussen – sei es durch besorgte Diskussionen, Reflexionen über die eigene Sicherheit oder direkte Auswirkungen auf Familie und Freunde.
Diese Erzählweise macht sich die universelle Erfahrung zunutze, dass es bestimmte historische Momente gibt, die sich unauslöschlich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Die Fukushima-Katastrophe gehört sicherlich dazu – ein Ereignis, von dem viele Menschen noch genau wissen, wo sie waren, als sie davon erfuhren. Die Graphic Novel spielt geschickt mit diesen Erinnerungen und schafft eine Brücke zwischen den fiktionalen Schicksalen der Figuren und den realen Erfahrungen der Leser. Dadurch entfaltet "Super-GAU" eine emotionale Wirkung, die über den reinen Inhalt hinausgeht und eigene Erinnerungen an diesen Tag wachruft.
Mit nur 208 Seiten und einem Fokus auf Bildsprache anstelle von ausführlichem Text ist "Super-GAU" erzählerisch knapp gehalten. Acht Figuren ausreichend Raum zur Entfaltung zu geben, ist eine große Herausforderung – Davies begegnet dieser, indem sie ihre Geschichte eher skizzenhaft erzählt. Vieles bleibt angedeutet, Leerstellen werden bewusst offengelassen, sodass die Leser dazu eingeladen sind, sich selbst ein Bild zu machen und eigene Gedanken zu den Charakteren und ihrer Entwicklung zu formen.
Diese skizzenhafte Erzählweise spiegelt sich auch in der visuellen Gestaltung wider. Davies’ Illustrationen sind bewusst reduziert, oft nur flüchtig angedeutet und verzichten auf übermäßige Detailfülle. Die Figuren und Hintergründe wirken teilweise abstrahiert, was den introspektiven Charakter der Geschichte unterstreicht. Dieser Stil unterstützt die Atmosphäre der Unsicherheit und des Ungewissen, die das Fukushima-Unglück nicht nur für die Betroffenen in Japan, sondern auch für Menschen in anderen Teilen der Welt ausgelöst hat.
Letztlich ist "Super-GAU" weniger eine klassische Graphic Novel mit einer stringenten Handlung als vielmehr ein Denkanstoß. Die Lektüre regt dazu an, sich erneut mit der Fukushima-Katastrophe auseinanderzusetzen und über deren langfristige Folgen nachzudenken – sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf persönlicher Ebene. Gleichzeitig spiegelt das Buch die Unterschiedlichkeit individueller Lebensrealitäten wider. Jede der acht Figuren erlebt den 11. März 2011 auf ihre eigene Weise, und doch verbindet sie alle die gleiche Nachricht, das gleiche Entsetzen, die gleichen Fragen. Diese Parallelen lassen auch die Leser innehalten und ihre eigenen Erinnerungen mit denen der Charaktere abgleichen.
"Super-GAU" bleibt trotz seiner künstlerischen und erzählerischen Stärken ein eher zurückhaltendes Werk, das sich nicht durch spektakuläre Inszenierung oder emotionale Zuspitzung auszeichnet, sondern durch seine leise, aber nachhaltige Wirkung. Es ist eine Graphic Novel, die vielleicht nicht sofort mitreißt, aber nachhallt – und genau darin liegt ihre Stärke. Wer eine tiefgründige Reflexion über Katastrophen, Medienwahrnehmung und die Fragilität des Alltags sucht, wird in diesem Werk einen wertvollen Beitrag finden.

Bewertung vom 25.02.2025
bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
Lovrenski, Oliver

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann


gut

Hier wird unnötig Potenzial verschenkt

Oliver Lovrenskis Roman "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann" verspricht eine schonungslose Geschichte über vier Jugendliche am Rande der Gesellschaft. Ivor, Marco, Jonas und Arjan kämpfen mit ihrer prekären Lebensrealität und suchen verzweifelt nach einem Platz in der Welt, wohlwissend, dass dieser für sie vielleicht gar nicht existiert. Doch statt einer tiefgehenden Milieustudie, die das harte Leben dieser Jugendlichen authentisch beleuchtet, entscheidet sich Lovrenski für eine experimentelle Erzählweise, die keineswegs notwendig erscheint, und am Ende wenig begeistert.
Die vier Jugendlichen treiben sich auf den Straßen herum, konsumieren Drogen und geraten von einer prekären Situation in die nächste. Versuche von Sozialarbeitern, sie wieder auf den rechten Weg zu bringen, scheitern kläglich. Immer weiter geraten sie in einen Strudel der Perspektivlosigkeit, aus dem es kaum noch ein Entkommen zu geben scheint. Ein solches Szenario könnte eine intensive, erschütternde Lektüre ermöglichen, doch leider scheitert Lovrenski an der Umsetzung. Der experimentelle Stil des Romans ist gewöhnungsbedürftig, um nicht zu sagen abschreckend. Der Text erinnert an tagebuchartige Gedankenfetzen, wirr und unvollkommen, flüchtig niedergeschrieben, ohne erkennbare Struktur. Satzzeichen sind rar gesät, und die flapsige Jugendsprache, durchzogen von grammatikalischen Fehlern, stört den Lesegenuss erheblich. Zwar mag dieser Stil die Perspektive des Protagonisten widerspiegeln, doch führt er letztlich dazu, dass der Leser sich gelangweilt und unterfordert durch die fragmentarischen Gedanken kämpft, ohne dabei einen echten Zugang zur Geschichte zu finden.
Die Erzählweise bleibt oberflächlich. Man erhält nur bruchstückhafte Einblicke in das Leben der Jugendlichen, ihre Freundschaft, ihre Vergangenheit und die Umstände, die sie geprägt haben. Anstatt eine fesselnde Milieustudie zu liefern, bleibt der Roman eine lose Aneinanderreihung von Episoden, die nie wirklich in die Tiefe gehen. Die Themen – soziale Missstände, Perspektivlosigkeit, Gewalt – werden nur angerissen, ohne dass sie in ihrer vollen Tragweite ausgearbeitet werden. So bleibt der Roman letztlich eine skizzenhafte Momentaufnahme, die im Endeffekt zwar durchaus ein gesamtheitliches Bild ergibt, aber keinen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.
Um diesem Werk etwas abgewinnen zu können, muss man eine große Affinität für literarische Experimente mitbringen. Wer jedoch ein gehaltvolles Leseerlebnis erwartet, dürfte enttäuscht werden. Angesichts des hohen Preises von 22 Euro und der Veröffentlichung im renommierten Hanser Verlag erwartet man mehr als eine pseudoexperimentelle Romanskizze. Letztlich bleibt das Gefühl, dass hier eine Geschichte mit großem Potenzial verschenkt wurde.

Bewertung vom 24.02.2025
Rückkehr nach Budapest
Kiss, Nikoletta

Rückkehr nach Budapest


sehr gut

Vergangenheit und Gegenwart, Ost-Berlin und Budapest

Mit "Rückkehr nach Budapest" nähert sich die Autorin Nikoletta Kiss einem altbekannten Thema auf eine neue Weise. In der deutschsprachigen Literatur wurden die DDR und das Leben in Ost-Berlin bereits vielfach behandelt, sei es durch Historienromane oder Zeitzeugenberichte. Namhafte Autoren haben sich diesem Kapitel deutscher Geschichte gewidmet, wodurch die Erwartungen an Kiss hoch sind. Doch bereits der Titel und die Vita der Autorin deuten darauf hin, dass sie einen ungewöhnlichen Zugang wählt. Sie verwebt das sozialistische Budapest in das Narrativ, eine selten betrachtete Perspektive, die frische Impulse in das Thema bringt.
Der Roman erzählt die Geschichte der Protagonistin Márta, die zwischen zwei Welten steht. Ihre Teilmigration von Budapest nach Ost-Berlin ermöglicht ihr einen Blick auf das System, der sich von dem einer in der DDR aufgewachsenen Person unterscheidet. Márta flieht vor ihrem trinkenden Vater und findet Zuflucht bei ihrer Freundin in Ost-Berlin. Durch ihre sprachlichen und kulturellen Vorkenntnisse kann sie schnell in das kulturelle Leben der Stadt eintauchen. Dort begegnet sie Konstantin, einem Dichter, der sich zunehmend als regimekritischer Schriftsteller profiliert. Sein großes Romanprojekt entlarvt die Zustände in einem Internat, das von staatlicher Repression geprägt ist, und bringt ihn in Gefahr.
Als Konstantins brisantes Manuskript in Umlauf gerät, nimmt die Handlung eine dramatische Wendung. Márta wird in eine Auseinandersetzung verwickelt, die sie zwischen Loyalität zu ihren Freunden und der Angst vor dem repressiven System hin- und herreißt. Ihr Blick auf die politische Lage bleibt differenziert. Im Gegensatz zu Konstantin, der eine kompromisslose Haltung gegenüber dem Regime einnimmt, erkennt sie zwar dessen Mängel, verfolgt aber zunächst keine explizit politische Agenda. Vielmehr zieht es sie nach Berlin, um ihren Freundinnen Theresa und Katja nahe zu sein. Erst durch ihre Beziehung zu Konstantin entwickelt sie ein Bewusstsein für die politischen Verhältnisse, kann sich seiner Anziehungskraft jedoch nicht entziehen.
Márta ist eine ambivalente Protagonistin. Ihre Passivität und ihre Neigung, schwierigen Situationen aus dem Weg zu gehen, stehen im Kontrast zu Konstantins Entschlossenheit. Dieser Gegensatz erzeugt Spannung, insbesondere als ihre Freundschaft zu Theresa und Katja auf die Probe gestellt wird. Eifersucht durchzieht ihre Beziehungen, da Konstantin eine charismatische Macht auf alle ausübt. Kiss gelingt es, ein komplexes Beziehungsgeflecht zu zeichnen, das zwischen Faszination, Abhängigkeit und Rivalität schwankt.
Strukturell setzt der Roman auf eine raffinierte Erzählweise mit mehreren Zeitebenen. Die Haupthandlung in Ost-Berlin wird durch Mártas Gegenwartsperspektive in Budapest ergänzt. Nach vielen Jahren kehrt sie zur Beerdigung von Theresa zurück. Schnell wird deutlich, dass ungelöste Konflikte aus der Vergangenheit in ihr nachwirken. Die Rückblenden erlauben es dem Leser, nach und nach in die Geschehnisse von damals einzutauchen. Dadurch entsteht nicht nur ein Wechsel zwischen Budapest und Ost-Berlin, sondern auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Diese narrative Verzahnung macht deutlich, dass Mártas Leben nicht strikt in "damals" und "heute" unterteilt werden kann – ebenso wenig wie die Grenzen zwischen den beiden Städten klar gezogen werden können.
Die Stärke des Romans liegt in seiner differenzierten Figurenzeichnung. Besonders Konstantin bleibt im Gedächtnis, da seine Überzeugungen klar fassbar sind, obwohl er selbst mit Zweifeln zu kämpfen hat. Er zögert lange, sein Romanprojekt zu veröffentlichen, was seine Zerrissenheit verdeutlicht. Die anderen Charaktere sind weniger eindeutig gezeichnet, aber gerade dadurch spannend. Ihre Beweggründe bleiben lange unklar, was zu einem Geflecht aus Lügen und Intrigen führt, das Kiss geschickt entfaltet.
Auch das Motiv des Widerstands gegen das Regime wird überzeugend umgesetzt. Während viele Romane dieses Themas mit pathetischen Heldenerzählungen arbeiten, bleibt Kiss realistisch. Die Figuren werden mit der Härte des Freiheitskampfes konfrontiert, aber die Geschichte vermeidet überzogene Dramatisierungen. Stattdessen setzt sie auf feine Zwischentöne und den psychologischen Druck, der auf den Figuren lastet.
Insgesamt überzeugt "Rückkehr nach Budapest" durch seine Stärken: Es ist kein bahnbrechender Roman, aber er bietet eine selten gelesene Perspektive auf die DDR. Die literarische Qualität ist nicht überragend, doch das Zusammenspiel aus politischen Themen, persönlichen Beziehungen und einer komplexen Erzählstruktur hebt das Werk von anderen historischen Romanen ab.