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Monsieur
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Amorbach

Bewertungen

Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 30.01.2025
Klapper
Prödel, Kurt

Klapper


sehr gut

Romane über Außenseiter sind ein beliebtes Genre in der Jugendliteratur. Sie ermöglichen tiefgehende Einblicke in menschliche Beziehungen und gesellschaftliche Missstände. Kurt Prödels Roman "Klapper" reiht sich in diese Tradition ein und bietet eine feinühlige Perspektive auf das Außenseiterdasein und Selbstfindung.
Klapper ist ein sozial isolierter Jugendlicher, der seine Zeit mit Computerspielen verbringt. Sein eintöniges Leben verändert sich, als er Bär, die Neue in seiner Klasse, kennenlernt. Auch sie ist eine Außenseiterin, unterscheidet sich jedoch von Klapper, da sie sich gegen Anfeindungen behaupten kann. Ihre Freundschaft entwickelt sich langsam und authentisch. Obwohl Klapper sich durch Bärs Einfluss etwas öffnet, bleibt er sich im Kern treu. Der Roman verzichtet auf das Narrativ der "Normalisierung" von Außenseitern und thematisiert stattdessen Selbstakzeptanz und den Umgang mit sozialer Unangepasstheit.
Mobbing wird angeschnitten, dient jedoch eher der Charakterzeichnung als einer tiefgehenden Auseinandersetzung. Bärs selbstbewusstes Auftreten verdeckt ihre privaten Probleme: Sie trägt Verantwortung für ihre Geschwister, da ihre Eltern ihre Pflichten vernachlässigen. Klapper wächst zwar behüteter auf, doch seine Mutter leidet unter einer psychischen Erkrankung, die er lange ignoriert. Die Gegenüberstellung der beiden Protagonisten verleiht der Geschichte eine besondere Tiefe und vermeidet stereotype Darstellungen.
Prödel nutzt gängige Nerd-Klischees, doch durch Klappers familiären Hintergrund gewinnt seine Figur an Komplexität. Der Schreibstil ist zugänglich, und der Roman erfüllt die Erwartungen an eine Geschichte über Außenseiter. "Klapper" setzt keine neuen Maßstäbe, reiht sich aber solide ins Genre ein. Mit seinen liebenswert verschrobenen Figuren und einer gelungenen Mischung aus heiteren und melancholischen Momenten bietet er eine unterhaltsame und ehrliche Darstellung zweier Jugendlicher, die ihren Platz im Leben suchen.

Bewertung vom 29.01.2025
Portrait meiner Mutter mit Geistern
Edel, Rabea

Portrait meiner Mutter mit Geistern


sehr gut

Auch im Jahr 2025 scheint die literarische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegsgeneration noch nicht abgeschlossen zu sein – so zumindest legt es Rabea Edel mit ihrem Roman „Porträt meiner Mutter mit Geistern“ nahe. Doch angesichts der Fülle an Geschichten, die bereits über diese Epoche erzählt wurden, stellt sich zwangsläufig die Frage: Was hat dieses Werk zu bieten, das nicht schon gesagt wurde?
Die Handlung dreht sich um die Protagonistin Raisa, die in den 1990er Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter Martha aufwächst. Der Vater ist abwesend, und Martha hüllt sich in Schweigen, was seine Geschichte betrifft. Diese Leerstelle ist zentral für Raisas Kindheit und prägt die Beziehung zu ihrer Mutter. Erst als Martha zu erzählen beginnt, entfaltet sich eine vielschichtige Familiengeschichte, die von Liebe, Verlust und den Narben der Nachkriegszeit gezeichnet ist.
Stilistisch geht Edel dabei ungewöhnliche Wege. Obwohl es sich um einen Roman handelt, wirkt das Werk streckenweise wie eine Biografie. Auffällig ist das nahezu vollständige Fehlen ausführlicher Gefühlsbeschreibungen. Emotionen werden lediglich angedeutet, was den Lesern Raum für eigene Interpretationen lässt, aber auch eine gewisse Distanz schafft. Besonders die Szenen aus Raisas Perspektive, in denen sie ihre Freundschaft mit dem Nachbarsjungen Mat erlebt, kommen einer klassischen Erzählweise am nächsten. Diese Passagen wirken lebendig und vermitteln ein Gefühl von unbeschwerter Kindheit, die jedoch zunehmend von der düsteren Vergangenheit überschattet wird.
Der Fokus des Romans liegt jedoch nicht auf Raisas Erleben, sondern auf der Geschichte ihrer Mutter Martha. Edel wählt eine distanzierte Erzählweise in der dritten Person, die sich weniger um persönliche Reflexionen als um die Schilderung historischer Stationen bemüht. Diese narrative Entscheidung könnte damit zusammenhängen, dass das Werk zumindest teilweise auf wahren Begebenheiten basiert. Edel verarbeitet in „Porträt meiner Mutter mit Geistern“ offenbar auch die Biografie ihrer eigenen Familie, um den Lebensweg unerschrockener Frauen zu skizzieren, deren Leben vom Krieg und den Nachkriegsjahren geprägt wurden.
So wird Marthas Lebensgeschichte zu einem Spiegelbild ihrer Generation. Ihre Erlebnisse, so spezifisch sie auch erscheinen mögen, repräsentieren das kollektive Schicksal vieler Frauen dieser Zeit. Doch genau hier liegt auch eine Schwäche des Romans: Für Leser, die bereits andere Werke zu diesem Thema kennen, fühlt sich „Porträt meiner Mutter mit Geistern“ nicht neu an. Die Stationen in Marthas Leben scheinen vertraut, fast archetypisch – ein Schicksal, das in der Literatur schon oft beschrieben wurde.
Auf der Makro-Ebene überzeugt der Roman dennoch. Er vermittelt ein beeindruckendes Gesamtbild der Nachkriegszeit und lädt dazu ein, die Geschichte aus einem übergeordneten Blickwinkel zu betrachten. Im Detail jedoch, auf der Mikro-Ebene, fehlt es dem Werk an Originalität und erzählerischer Finesse, um es von ähnlichen Büchern abzuheben. Die distanzierte Erzählweise und das Fehlen eines innovativen Blickwinkels machen es schwer, sich emotional tief auf die Geschichte einzulassen.
Dennoch bleibt „Porträt meiner Mutter mit Geistern“ ein bedeutsames Werk. Es dokumentiert eine tragische Lebensgeschichte und erinnert an die Narben, die eine Generation von Frauen geprägt haben – eine Erinnerung, die auch heute noch von Relevanz ist. Wer sich für die Nachkriegsgeneration interessiert und bereit ist, Altbekanntes in einem neuen Gewand zu lesen, wird diesem Roman mit Sicherheit etwas abgewinnen können.

Bewertung vom 29.01.2025
Monique bricht aus
Louis, Édouard

Monique bricht aus


sehr gut

Bereits des Öfteren hat der französische Schriftsteller Édouard Louis über seine eigene Familie geschrieben - nicht selten zum Unmut seiner Angehörigen. In seinem neuesten literarischen Werk „Monique bricht aus“, der am 29. Januar 2025 im S. Fischer Verlag erschienen ist, rückt er erneut seine Mutter Monique in den Mittelpunkt.
Die Geschichte beginnt mit einem Hilferuf: Monique, die Protagonistin, ruft verzweifelt ihren Sohn an. Sie hat es zwar geschafft, einer früheren unglücklichen Ehe zu entkommen, findet sich jedoch nun in einer ähnlich bedrückenden Beziehung wieder. Ihr aktueller Partner bedroht und schikaniert sie, bis das Zusammenleben für sie unerträglich wird. Gemeinsam mit ihrem Sohn entwickelt sie einen Plan, um ihrer unhaltbaren Lebenssituation zu entfliehen. Der Roman schildert, wie Monique nicht nur den Mut findet, auszuziehen, sondern sich Schritt für Schritt ein unabhängiges Leben aufbaut – zum ersten Mal überhaupt.
Louis’ Schreibstil bleibt, wie in seinen vorherigen Werken, simpel und zugänglich, aber keineswegs oberflächlich. Mit wenigen, aber präzisen Worten zeichnet er ein Porträt einer Frau, die Zeit ihres Lebens unterdrückt wurde – zuerst von einem patriarchalen Gesellschaftssystem, dann durch ihre Partner. Doch diesmal ist Moniques Geschichte keine von Resignation, sondern von Befreiung. Der Leser begleitet Monique auf einer Reise der Selbstentdeckung und Transformation, bei der sie zur Hauptfigur ihres eigenen Lebens wird. Diese Veränderung, die Louis einfühlsam und dennoch schonungslos beschreibt, verlangt dem Leser Respekt ab, während sie zugleich als Hoffnungsschimmer für andere Frauen in ähnlichen Situationen dient.
Besonders bemerkenswert ist die autobiografische Dimension des Romans. Louis greift auf reale Ereignisse aus dem Leben seiner Mutter zurück, was der Erzählung eine außergewöhnliche Authentizität verleiht. Diese intime Nähe zur Wirklichkeit macht "Monique bricht aus" zu weit mehr als einem fiktionalen Werk. Sie gibt dem Buch eine Intensität und Tiefe, die in einem rein fiktionalen Roman nur schwer zu erreichen wären. Louis’ ungeschönter Blick auf die Umstände seiner Mutter erlaubt dem Leser, die Welt durch die Augen einer Frau zu sehen, die jahrzehntelang keine Kontrolle über ihr eigenes Leben hatte.
Monique wird anfänglich als eingeschüchterte und abhängige Frau beschrieben, die kaum Hoffnung auf ein besseres Leben hat. Doch Louis zeigt mit feiner Beobachtungsgabe, wie sie langsam mutiger und selbstbestimmter wird. Monique entdeckt neue Freuden, etwa in der Freiheit, ihre eigenen Mahlzeiten zu wählen und unbekannte Gerichte zu probieren. Diese kleinen, alltäglichen Veränderungen symbolisieren ihren wachsenden Selbstwert und ihre Emanzipation. Die größte Verwandlung erlebt sie jedoch am Ende, als sie eine neue Haltung gegenüber dem literarischen Werk ihres Sohnes entwickelt – ein Zeichen dafür, dass sie nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Perspektive auf sich selbst und ihre Umwelt grundlegend überdacht hat.
Trotz des kompakten Umfangs von 160 Seiten gelingt es Louis, Moniques Charakter nicht nur plastisch darzustellen, sondern auch zu analysieren. Diese Darstellung wird durch seine eigene Biografie bereichert, da er seine Kindheit und Jugend mit ihr verbracht hat. Seine erwachsene Sicht auf diese Zeit ist differenziert: Neben Vorwürfen und Bitterkeit schwingt auch Verständnis mit. Dieser Umschwung in der Wahrnehmung des Autors ist ebenso faszinierend wie die Transformation seiner Mutter, und zeugt von einer emotionalen Tiefe.
Louis’ Klarheit und Schnörkellosigkeit machen "Monique bricht aus" zu einer beeindruckenden literarischen Leistung. Der Roman illustriert, wie vermeintlich kleine Schritte – gepaart mit ein wenig Unterstützung – ausreichen können, um aus einer hoffnungslosen Lage auszubrechen. Die Botschaft ist klar: Freiheit ist oft greifbarer, als man denkt, wenn man den Mut findet, sie zu ergreifen. Diese Phrase, die schnell abgedroschen wirken kann, wirkt in diesem Fall durch den biografischen Charakter der Lektüre glaubhaft und nachvollziehbar.
Zusammenfassend ist "Monique bricht aus" nicht nur eine Biografie über Édouard Louis’ Mutter, sondern auch ein universell gültiger Appell für Emanzipation und Selbstermächtigung. Louis zeigt, wie Literatur eine Brücke zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen schlagen kann, und beweist einmal mehr, dass die Perspektive junger Autoren eine unverzichtbare Bereicherung für die Buchwelt ist.

Bewertung vom 28.01.2025
Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente: Das Zeichen der Fünf
Standish, Ali

Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente: Das Zeichen der Fünf


sehr gut

Mit „Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente“ ist der amerikanischen Autorin Ali Standish ein unterhaltsamer und vor allem ideenreicher Auftakt in eine Kinderbuchreihe gelungen, die mehr oder weniger im Universum von Arthur Conan Doyle spielt. Seit dem 28. Januar 2025 liegt nun endlich die lang ersehnte Fortsetzung „Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente: Das Zeichen der Fünf“ in deutscher Übersetzung im Hanser Verlag vor. Fans der Reihe sind natürlich gespannt, ob es der Autorin gelingt, das Universum rund um Arthur Doyle und seine Freunde im Internat Baskerville Hall angemessen fortzuführen.
Der erste Band der Reihe konnte mit zahlreichen lustigen Einfällen und einer faszinierenden Erzählwelt punkten, auch wenn er kleinere Schwächen aufwies. Das Gespann rund um den Hauptprotagonisten Arthur Doyle – bestehend aus Mary Morstan, Irene Eagle, Jimmie Moriarty und Grover Kumar – versprach viel Potenzial. Nun kehrt Arthur für sein zweites großes Abenteuer an die Schule Baskerville Hall zurück, diesmal weniger extravagant als im ersten Teil. Doch kaum ist er angekommen und hat sich wieder mit seinen Freunden zusammengefunden, nehmen erneut seltsame Vorkommnisse ihren Lauf.
Arthur findet seinen Lehrer Professor Holmes reglos in dessen Zimmer vor. Zum Glück ist der Professor nicht tot, sondern liegt nur im Koma. Dennoch ist für Arthur sofort klar: Holmes wurde vergiftet. Doch es bleibt nicht bei diesem einen Fall. Nach und nach deckt Arthur ein Geheimnis auf, das vor vielen Jahren seinen Anfang nahm. Dieses Geheimnis steht nicht nur mit einem rätselhaften Zeichen in Verbindung, sondern hängt auch mit den Ereignissen aus dem letzten Abenteuer zusammen.
Ali Standish gelingt es, Arthur und somit die Leser schnell und ohne viel Aufhebens zurück ins Internat zu bringen, wo die Handlung zügig Fahrt aufnimmt. Allerdings fehlt diesmal ein entscheidender Reiz, der den ersten Band so spannend gemacht hat: das Ankommen und Erkunden des Internats. Gemeinsam mit den Protagonisten konnte man im ersten Teil eine fremde und neue Welt entdecken, die sich durch viele Eigenheiten auszeichnete. Da der Handlungsort im zweiten Band jedoch weitgehend bekannt ist, fällt diese Art der Spannung weg. Zudem bringt der zweite Band kaum neue Örtlichkeiten oder Figuren mit sich. Das Personal ist bereits bekannt, und Standish konzentriert sich in erster Linie auf die Entwicklung der Charaktere.
In diesem Punkt zeigt die Autorin allerdings ihre Stärken. Vor allem das zunehmende Misstrauen zwischen Arthur und seinen Freunden sorgt für Dramatik und bringt das Gefüge der Gruppe ins Wanken. Die Handlung selbst weist deutlich mehr kriminalistische Züge auf als im ersten Band. Die vermeintlichen Mordversuche und Arthurs Recherchen erinnern an klassische Kriminalgeschichten, nur eben in einer für Kinder geeigneten Form. Vor allem im Mittelteil wirkt die Geschichte dadurch weniger magisch und rätselhaft, als man es aus dem ersten Teil gewohnt ist. Dennoch baut sie eine gewisse Spannung auf, und junge Leser dürften ihren Spaß daran haben, herumzurätseln, wie sich die verschiedenen Puzzlestücke am Ende zusammenfügen.
Fans des ersten Teils können sich auf jeden Fall auf eine gelungene Fortsetzung freuen, auch wenn der zweite Band nicht vollends an die Qualität seines Vorgängers heranreicht. Hauptgrund dafür ist das Fehlen wirklich neuer Elemente. Zudem zeigt sich, dass das Figurenensemble in seiner Gesamtheit etwas zu umfangreich angelegt ist. Während die vielen unterschiedlichen Charaktere im ersten Band mit ihren Eigenheiten und ihrer Eigenwilligkeit für viel Unterhaltung sorgten, kann ihr Potenzial in einem einzigen Folgeband nicht voll ausgeschöpft werden. Hier fehlt es schlichtweg an Kapazität. Umso mehr kann man jedoch in den kommenden Bänden von ihrer Entwicklung erwarten.
Somit sollte die Reihe „Baskerville Hall“ auch weiterhin auf dem Radar ihrer Leserschaft stehen. Für den dritten Teil dürfte die Autorin jedoch gerne mit etwas Unerwartetem überraschen, um das Universum rund um Arthur Doyle und Baskerville Hall erneut mit frischen Ideen zu bereichern.

Bewertung vom 28.01.2025
Die Verdorbenen
Köhlmeier, Michael

Die Verdorbenen


sehr gut

Michael Köhlmeier beweist mit seinem neuen Roman „Die Verdorbenen“ erneut, dass er die Kunst der kurzen Form beherrscht. Bekannt unter anderem auch für umfangreiche Werke, widmet er sich hier einer kompakten Erzählung, die das Leben von Johann und insbesondere seine turbulente Zeit als junger Erwachsener beleuchtet. Auf nur wenigen Seiten schafft Köhlmeier ein vielschichtiges Psychodrama, das von Spannungen zwischen den Figuren und wechselhaften Beziehungen geprägt ist.
Der Roman beginnt mit einem prägnanten Dialog zwischen Johann und seinem Vater. Als dieser ihn fragt, was er sich vorgenommen habe, zumindest einmal im Leben zu tun, bleibt Johann die Antwort schuldig. Doch innerlich formuliert er eine düstere Vision: Eines Tages möchte er einen Mann töten. Diese verstörende Offenbarung legt den Grundstein für die Erzählung und deutet darauf hin, worauf die Geschichte unausweichlich zusteuert. Ob Johann seinen Wunsch tatsächlich erfüllt, bleibt jedoch lange unklar, denn Köhlmeier konzentriert sich zunächst auf die Schilderung von Johanns Werdegang.
Als Student zieht Johann in eine fremde Stadt und knüpft dort enge Kontakte zu Christiane und Tommi. Die drei entwickeln eine ungewöhnliche Dreiecksbeziehung, die von schwankenden Gefühlen und durchaus auch gegenseitiger Apathie geprägt ist. Köhlmeier illustriert diese Beziehung mit Präzision und feinem Gespür für die zwischenmenschlichen Untertönen der Figuren. Mal scheint Tommi die Kontrolle zu haben und Christianes Aufmerksamkeit zu gewinnen, mal rückt Johann in den Vordergrund, nur um sich plötzlich wieder zurückzuziehen. Immer wieder entsteht der Verdacht, dass die Charaktere sich gegenseitig ausnutzen und ein falsches Spiel miteinander treiben. Dieser ständige Wechsel der Machtverhältnisse sorgt für eine unterschwellige Spannung, die den Leser fesselt und die Handlung vorantreibt.
Johann selbst ist eine ambivalente Figur. Er erscheint als kluger und zielstrebiger junger Mann, gleichzeitig aber auch als egozentrisch und manipulativ. Seine Fixierung auf sich selbst durchzieht den gesamten Roman und lässt ihn selten sympathisch wirken. Auch sein Interesse an Christiane scheint weniger aus echter Zuneigung, sondern vielmehr aus eigennützigen Motiven zu entspringen. Köhlmeier zeichnet Johann mit einer Schärfe, die den Leser zugleich fasziniert und abstößt. Außerdem gelingt es dem Autor, die inneren Konflikte und psychologischen Feinheiten der Figuren auf kleinem Raum zu schildern. Dabei bleibt die Handlung selbst überschaubar, was dem Roman eine fast kammerspielartige Intensität verleiht.
Trotz der gelungenen Figurenzeichnung und der atmosphärischen Dichte erreicht „Die Verdorbenen“ zwar nicht die erzählerische Tiefe von Köhlmeiers größeren Werken, stellt aber gleichwohl eine kurze, prägnante Studie über junge Menschen dar, die auf der Suche nach sich selbst und ihren Träumen alles riskieren, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Für einen Roman, den man „nebenbei“ lesen kann, ist „Die Verdorbenen“ eine exzellente Wahl. Köhlmeier liefert eine kleine, feine Erzählung, die durch ihre ungewöhnliche Figurenkonstellation und die psychologische Spannung überzeugt.

Bewertung vom 23.01.2025
Nachtgäste
Velickovic, Nenad

Nachtgäste


sehr gut

In Nenad Veličkovićs Roman „Nachtgäste“ tritt die Erzählerin Maja, eine fiktive achtzehnjährige Protagonistin, im Stil eines Tagebuchs mit den Lesern in direkten Dialog. Als angehende Autorin schreibt sie während des Bosnienkrieges über ihr Erleben, während sie sich mit ihrer Familie und anderen Schutzsuchenden im Untergeschoss eines Museums versteckt. Dabei gelingt es ihr auf bemerkenswerte Weise, sowohl die Schrecken des Kriegs als auch die zwischenmenschlichen Dynamiken in ihrem Versteck aufzugreifen. Nach 30 Jahren seit seiner Entstehung ist der Roman noch immer von Relevanz.
Schon in ihrer direkten Ansprache schätzt Maja ihre Leserschaft gut ein: Sie geht davon aus, dass viele europäische Leser kaum Berührungspunkte mit dem Krieg in Sarajevo hatten. Diese Annahme ist zutreffend, denn trotz der zeitgeschichtlichen Nähe wird der Bosnienkrieg selten in der europäischen Gegenwartsliteratur thematisiert. Hier setzt Veličkovićs Roman an: Er bietet nicht nur einen Zugang für Interessierte, sondern auch für weniger kundige Leser, die durch Majas Perspektive an die Hand genommen werden. Die Erzählung im Tagebuchformat ermöglicht eine intime Sicht auf die Ereignisse, die von einer jugendlichen Offenheit und Ehrlichkeit geprägt ist.
Maja schildert ihr Leben während des Kriegs aus der Isolation eines Kellers heraus. Während draußen Granaten explodieren, hält sie in ihrem Tagebuch die Geschehnisse fest – eine berührende Mischung aus Poesie und schonungsloser Klarheit. Doch „Nachtgäste“ ist nicht nur ein Roman über Krieg; er handelt ebenso von den Eigenheiten der Menschen, mit denen Maja ihr Schicksal teilt. Das menschliche Miteinander, die Konflikte und skurrilen Eigenarten der Schutzsuchenden, verleiht dem Roman eine unerwartete Leichtigkeit, die mit dem ernsten Hintergrund des Krieges kontrastiert.
Die Frische und Leichtigkeit der Erzählung verdankt sich vor allem Majas Perspektive. Ihr Blick auf die Dinge wirkt oft kindlich und naiv, ohne dabei unreflektiert zu sein. Trotz der grausamen Realität um sie herum bewahrt sie eine optimistische Grundhaltung. Das Schreiben ist für Maja mehr als ein Mittel zur Dokumentation – es ist ihre Lebenslinie. Durch das Tagebuch strukturiert sie ihre Gedanken, ordnet ihre Gefühle und verleiht ihrem Leben in der Isolation einen Sinn.
Bemerkenswert ist, wie Maja in ihrem Tagebuch mit den Erwachsenen umgeht. Sie beschreibt diese mit einer Unverblümtheit, die nur eine Jugendliche in ihrer Lage aufbringen kann. Dadurch wird die Dynamik innerhalb des Verstecks noch intensiver greifbar. Der Roman lebt von dieser subjektiven Sichtweise: Alles wird aus Majas eingeschränktem Blickwinkel erzählt. Politische Verwicklungen oder die Beweggründe der helfenden Staaten werden nur gestreift und aus Majas Perspektive interpretiert. Diese Begrenzung ist keine Schwäche, sondern eine der Stärken des Romans. Sie macht die Gedankenwelt einer jungen Frau in einer Ausnahmesituation zutiefst nachvollziehbar und authentisch.
Die Sprache des Romans ist ebenso bemerkenswert. Sie ist einfach, direkt und bleibt stets der Protagonistin verbunden. Veličković verzichtet bewusst auf intellektuelle Phrasen oder komplizierte Strukturen. Stattdessen ist die Sprache ungeschliffen und ehrlich – angepasst an Majas jugendliches Wesen. Hier sei auch die Übersetzerin Barbara Antkowiak gelobt, die Majas Stimme auf gelungene Weise ins Deutsche überträgt. Ihre Arbeit bringt die Authentizität und den Stil des Originals hervorragend zur Geltung.
„Nachtgäste“ ist kein Roman, der den Anspruch erhebt, den Bosnienkrieg umfassend zu erklären. Er konzentriert sich auf ein Einzelschicksal und zeigt den Alltag einer jungen Frau, die zwischen Angst und Hoffnung pendelt. Der Fokus liegt auf dem individuellen Erleben und dem Versuch, dem Leben trotz widrigster Umstände Bedeutung zu verleihen.

Bewertung vom 13.01.2025
Im Schnee (MP3-Download)
Goerz, Tommie

Im Schnee (MP3-Download)


sehr gut

Mit „Im Schnee“ liefert der Autor Tommie Goerz im Piper Verlag einen schmalen Prosaband, der gleich zu Jahresbeginn einen kleinen, leisen und in vielerlei Hinsicht entschleunigten Lesegenuss bereitet. Auf gerade einmal 134 Seiten gelingt Goerz ein Werk, das durch seine Schlichtheit und Authentizität besticht und den Leser in eine vermeintliche Idylle entführt – eine Welt abseits des Trubels und der Hektik unserer Zeit. Doch wie trügerisch dieser Eindruck ist, darüber sinniert nicht nur der Protagonist Max am Ende des Romans, sondern diese Frage drängt sich dem Leser während der Lektüre immer wieder auf.
Die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf, dessen Name und genaue Verortung bewusst unbestimmt bleiben. Diese Anonymität verleiht dem Setting eine universelle Gültigkeit, sodass es als Symbol für viele ähnliche Orte stehen kann, die im Laufe der Zeit immer weiter in Vergessenheit geraten. Max, der Protagonist, ist ein in die Jahre gekommener Mann, der allein lebt und seine Tage meist verträumt und verschlafen verbringt. Als sein langjähriger Freund Schorsch unerwartet stirbt, wird Max aus seiner Routine gerissen. Die beiden Männer verband eine tiefe Freundschaft, geprägt von ihrer zurückgezogenen, eigenbrödlerischen Art. Schorschs Tod löst bei Max eine Flut von Erinnerungen an gemeinsame Zeiten und Erlebnisse aus, die sich mit einer gewissen Wehmut und Melancholie in sein Bewusstsein drängen.
Doch nicht nur Max, auch die anderen Dorfbewohner verbinden Erinnerungen mit Schorsch. Sein Tod wird zum Anlass, bei einer gemeinsamen Totenwache Anekdoten auszutauschen und sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Dabei wird die enge Verbindung zwischen der Geschichte des Dorfes und den Biografien der Bewohner offenbar. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr sich die Gegenwart von dieser Vergangenheit unterscheidet. Die alten Zeiten, die von den Anwesenden oft mit Wehmut betrachtet werden, waren nicht immer glücklich. Die Erlebnisse, die während der Totenwache erzählt werden, zeugen sowohl von Zusammenhalt und Gemeinschaft als auch von harten Lebensbedingungen und Grausamkeiten.
Als moderner Leser wird man unweigerlich mit der Frage konfrontiert, ob man in dieser Zeit hätte leben wollen. Die Antwort ist oft ein klares Nein, trotz des romantischen Bildes, das manchmal mit ländlichen Gemeinschaften verbunden wird. Die Dorfbewohner selbst scheinen unterschwellig zu spüren, dass ihre Vergangenheit ebenso von Schmerz und Entbehrung geprägt war wie von gemeinschaftlichem Zusammenhalt. Dennoch bleibt ihnen nichts anderes, als der verlorenen Zeit nachzutrauern und sich allmählich mit ihrem eigenen Sterben auseinanderzusetzen. Schorschs Tod wird so zu einem Symbol für den unaufhaltsamen Verfall der alten Lebensweise und den nahenden Abschied der übriggebliebenen Generation.
Max ist dabei ein vielschichtiger Charakter, dessen Tiefe erst nach und nach offenbar wird. Als einfacher Mann, der sich mit Geschick im Umgang mit Motoren durchs Leben geschlagen hat, scheint er auf den ersten Blick unspektakulär. Doch seine Genügsamkeit und seine natürliche Art zu leben – ohne Fernseher oder Radio, mit selbstgesammeltem Tee und einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber Besitz und Habgier – machen ihn zu einem faszinierenden Protagonisten. Diese Bescheidenheit teilt er mit den anderen Dorfbewohnern, die sich in ihrer Einfachheit deutlich von der modernen Welt unterscheiden.
Besonders raffiniert sind die wenigen Szenen, in denen die Dorfgemeinschaft durch außenstehende Figuren ergänzt wird. Ein Beispiel ist der Fotograf, der als Wanderer in die Gegend kommt. Seine Weltanschauung und Gewohnheiten unterscheiden sich stark von denen der Dorfbewohner, doch er nimmt die Welt von Max und den anderen als idyllisch wahr. Max selbst kann sich dieser Auffassung nicht anschließen – warum das so ist, erschließt sich dem Leser aus den Geschichten und Erinnerungen, die während der Totenwache geteilt werden.
Goerz gelingt es, mit wenigen, nicht einmal sonderlich brisanten Anekdoten eine sterbende Epoche zu zeichnen, die in der modernen Welt kaum noch Platz hat. Seine ruhige, entschleunigte Erzählweise und der wunderbar langsame Schreibstil laden den Leser dazu ein, in die Welt der Dorfbewohner einzutauchen. Beinahe wirkt es, als wäre man selbst Teil der Totenwache, wo mit leiser und respektvoller Stimme gesprochen wird. Die winterliche Atmosphäre des Romans – unterstrichen durch den Schnee und die Abgeschiedenheit des Dorfes – verleiht der Geschichte eine besondere Tiefe und einen melancholischen Charme, ohne jemals kitschig zu werden.
In seiner Gesamtheit ist „Im Schnee“ vielleicht einer der bemerkenswertesten Dorfromane der letzten Zeit. Mit ordentlicher handwerklicher Präzision und ohne viel Aufhebens erzählt Goerz von einfachen Menschen, einfachen Gemeinschaften und einfachen Themen. Gerade diese Schlichtheit macht den Roman so eindringlich und wahrhaftig.

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Bewertung vom 12.01.2025
Der Fuchs und der kleine Tanuki Bd.1
Tagawa, Mi

Der Fuchs und der kleine Tanuki Bd.1


sehr gut

Japanische Mythologie für junge Leser

Mit der Veröffentlichung von „Der Fuchs und der kleine Tanuki“ beweist der Carlsen Verlag einmal mehr seinen Mut, indem er einem jungen Publikum eine Erzählung mit Elementen der japanischen Mythologie präsentiert – ein mutiger Schritt, da Heranwachsende hierzulande mit dieser fremden Welt nur selten in Berührung kommen. Doch gerade dieser Ansatz macht Mi Tagawas Manga zu einem spannenden Exemplar im Kindercomic-Genre, das seine Leser nicht nur unterhält, sondern ihnen zugleich einen Zugang zu einem faszinierenden kulturellen Kontext eröffnet.
Die Handlung um den schwarzen Fuchs Senzou und den kleinen Tanuki Manpachi zeigt sich in ihrer Konstruktion durchaus raffiniert. Senzou, einst ein mächtiges, aber zerstörerisches Wesen, wurde von der Sonnengöttin für 300 Jahre weggesperrt, um seine destruktiven Kräfte zu bändigen. Doch die gleiche Göttin erweckt ihn schließlich wieder – nicht, um ihn zu belohnen, sondern um ihn mit der Betreuung des unerfahrenen Tanuki Manpachi zu beauftragen. Dieses ungleiche Duo bildet den Kern der Erzählung, deren Dynamik zwischen anfänglicher Gegnerschaft und zaghaften Annäherungen gekonnt ausbalanciert wird.
Manpachi, der von seinen Eltern verstoßen wurde, weil er seine Kräfte nicht kontrollieren kann, bietet mit seinen tollpatschigen, aber liebenswerten Versuchen, die Welt und seine eigenen Kräfte zu begreifen, eine starke Identifikationsfigur für junge Leser. Seine ungewollten Missgeschicke, wie das skurrile Verwandeln von Senzou in einen Fuchs mit Froschschenkeln, lockern die Geschichte durch humorvolle Episoden auf. Doch zugleich schwebt über Manpachis Zukunft die düstere Frage, wie seine enorme Macht, die andere Waldbewohner bereits erahnen, letztlich eingesetzt werden könnten.
Ein weiterer Pluspunkt des Mangas ist der gelungene Umgang mit der japanischen Mythologie. Mi Tagawa integriert diese nicht nur organisch in die Handlung, sondern erleichtert den Einstieg für unkundige Leser durch erklärende Infokästen und Fußnoten, die wichtige Figuren und Konzepte der Mythologie verständlich machen. Dieser didaktische Ansatz sorgt dafür, dass Kinder wie Erwachsene in die Geschichte eintauchen können, ohne sich überfordert zu fühlen. Zugleich bleibt die überschaubare Anzahl an Figuren angenehm, sodass der Überblick jederzeit gewahrt bleibt.
Visuell ist der Manga solide, wenn auch nicht außergewöhnlich. Während die kantigen Darstellungen der Füchse und Wölfe fast westlich wirken – etwa im Stil klassischer Disney-Filme – bleiben die Zeichnungen von Menschen und Göttern eindeutig im japanischen Manga-Stil verwurzelt. Der Kontrasteinsatz variiert, was einigen Szenen Dramatik verleiht, andere jedoch flach wirken lässt. Besonders enttäuschend ist die skizzenhafte Gestaltung der Hintergründe. Der Wald als zentraler Schauplatz wirkt oft atmosphärisch blass, wodurch viel Potenzial für Stimmung und Tiefe ungenutzt bleibt.
Trotz dieser Schwächen überzeugt „Der Fuchs und der kleine Tanuki“ als Einstieg in eine ungewöhnliche, mythologisch geprägte Erzählung. Allerdings eignet sich der Manga weniger für Leser, die erstmalig in die Welt des japanischen Comics eintauchen, sondern vielmehr für jene, die bereits ein wenig Leseerfahrung mit Mangas gesammelt haben. Die charmante Beziehung zwischen Senzou und Manpachi, die sich im Verlauf der Geschichte entfaltet, macht neugierig auf die weiteren Bände und darauf, wie die Figuren ihre Unterschiede überwinden, um gemeinsam zu wachsen.

Bewertung vom 11.01.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


gut

Ein skurriler Anfang, aber wohin führt es?

Der österreichische Autor Wolf Haas ist längst für seine skurrilen Plots und verschrobenen Charaktere bekannt. Mit seinem neuen Roman „Wackelkontakt“ bleibt er seiner Linie treu. Schon der Titel deutet darauf hin, dass es hier nicht nur um technische Störungen geht, sondern um eine Welt, die von absurden Wendungen und ungewöhnlichen Figuren geprägt ist.
Die Hauptfiguren, Escher und Elio Russo, erleben jeweils ihre eigene Geschichte, die dennoch auf absurde Weise miteinander verbunden ist. Escher, ein passionierter Puzzler berühmter Kunstwerke, verbringt seine Zeit wartend auf einen Elektriker. Als dieser schließlich eintrifft, führt ein Missgeschick zu einem unbeabsichtigten Todesfall. Parallel dazu verfolgt der Leser die Geschichte von Elio Russo, einem Mafia-Kronzeugen, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis unter neuer Identität ein ruhiges Leben als Mechaniker beginnt. Der Clou: Beide Protagonisten lesen in Büchern, in denen sie die Geschichte des jeweils anderen nachverfolgen. Diese originelle Erzählweise, die Realität und Fiktion miteinander verschmelzen lässt, macht den Reiz des Romans aus.
Zu Beginn entfaltet sich die Handlung mit einem unvergleichlichen Tempo und einer gehörigen Portion schwarzem Humor. Besonders die ersten knapp fünfzig Seiten, die sich auf Eschers Wartezeit und die skurrilen Ereignisse in seiner Wohnung konzentrieren, sind herausragend gelungen. Haas beweist hier sein Talent für Situationskomik und groteske Szenen, die entfernt an den Stil von Jonas Jonasson erinnern. Der schwarze Humor, gepaart mit den absurden Begebenheiten, sorgt für zahlreiche amüsante Momente, die den Leser schmunzeln lassen.
Doch je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr verliert der Roman an Originalität. Der anfängliche Reiz, dass Escher und Elio gegenseitig von ihren Geschichten lesen, tritt zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen nimmt der eigentliche Plot das Ruder in die Hand – mit gemischten Ergebnissen. Die zweite Hälfte des Romans driftet in klischeebehaftete Mafia-Geschichten ab, die stark an zweitklassige Hollywood-Produktionen erinnern. Entführung, Mord und Lösegeldforderungen dominieren die Handlung, deren Auflösung auf glücklichen Zufällen beruht.
Auch die Figurenentwicklung bleibt hinter den Erwartungen zurück. Während Escher und Elio anfangs durch ihre Schrulligkeit noch unterhalten, handeln sie im Verlauf der Geschichte oft irrational. Was auf den ersten fünfzig Seiten charmant wirkt, verliert sich bei einem längeren Handlungsverlauf in Belanglosigkeiten. Die anfängliche Verspieltheit weicht einer Reihe von Episoden, die sich zu sehr auf gängige Klischees stützen.
In der Vergangenheit konnte mich Haas‘ Brenner-Reihe nicht überzeugen, und auch „Wackelkontakt“ ergeht es ähnlich. Die Grundidee ist vielversprechend, doch die Umsetzung bleibt hinter den Möglichkeiten zurück.
Trotzdem bleibt „Wackelkontakt“ ein unterhaltsames Buch für Zwischendurch. Der Humor und die originelle Grundidee retten den Roman vor völliger Mittelmäßigkeit. Leser, die jedoch ein raffiniertes Verwirrspiel oder ein komplexes Handlungsschema erwarten, werden enttäuscht sein. Haas erreicht weder die Raffinesse noch die humoristische Leichtigkeit, die der bereits erwähnte Jonas Jonasson mit seinen Werken etabliert hat.
Als reine Unterhaltungsliteratur für Zwischendurch mag das Buch durchaus funktionieren, doch wer mehr erwartet, wird mit „Wackelkontakt“ nur bedingt glücklich werden.

Bewertung vom 21.12.2024
Die blaue Stunde
Hawkins, Paula

Die blaue Stunde


sehr gut

Kein raffinierter psychologischer Thriller, aber ein faszinierendes Drama

Auf den ersten Blick wirkt Paula Hawkins‘ neues Buch „Die blaue Stunde“ ein wenig unentschieden. Es enthält zwar die typischen Elemente eines psychologischen Thrillers, scheint sich jedoch nicht vollständig diesem Genre zuzuordnen. Der Roman beginnt mit dem Fund eines menschlichen Knochens in einem Kunstwerk der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman. Dieses Verbrechen bildet das zentrale Mysterium, das im Verlauf der Handlung aufgeklärt werden soll.
Der Kurator James Becker reist auf die Insel, auf der Chapman zuletzt gelebt hat, um Nachforschungen anzustellen. Dort stößt er auf zahlreiche Ungereimtheiten in Chapmans letzten Lebensjahren, was die Geschichte zunehmend in ein Netz aus Geheimnissen und Andeutungen verstrickt. Doch wer von Paula Hawkins, bekannt durch ihren Bestseller „Girl on the Train“, einen ähnlichen, psychologisch spannungsaufbauenden Thriller erwartet, wird hier überrascht. Zwar setzt Hawkins erneut auf Atmosphäre und das Geheimnisvolle, jedoch ist „Die blaue Stunde“ noch entschleunigter und phasenweise mehr Drama als Thriller.
Im Fokus stehen vor allem Chapmans Leben als Künstlerin und ihre komplexe Beziehung zu ihrer Freundin Grace, die nach ihrem Tod ihr Haus verwaltet. Die Krimielemente werden auf das Wesentliche reduziert, während unterschwellige Bedrohung und düstere Momente die Atmosphäre bestimmen. Die Spannung ergibt sich weniger aus actionreichen Szenen als aus der Erwartung, dass Hawkins am Ende alle Fäden zusammenführt und den Leser mit einer überraschenden Wendung belohnt.
Hier liegt jedoch auch die Schwäche des Romans: Der Plot wirkt letztlich nicht besonders raffiniert. Für eine Autorin ihres Kalibers hätte man sich komplexere Wendungen und Verstrickungen, sowie ein packenderes Finale gewünscht. Dennoch überzeugt der Roman durch seine fein gezeichneten Figuren und ihre Beziehungen zueinander sowie durch die kunstvolle Darstellung einer geheimnisvollen Stimmung.
Wer also einen klassischen Thriller mit ausgeklügeltem Krimihandwerk erwartet, könnte enttäuscht werden. Freunde von literarisch anmutenden Dramen und Künstlerromanen hingegen dürften bei „Die blaue Stunde“ voll auf ihre Kosten kommen.