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Eros
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Berlin

Bewertungen

Bewertung vom 03.04.2010
Dialektik der Abklärung
Hansel, Frank-Christian

Dialektik der Abklärung


ausgezeichnet

Eine zur sachlichen Orientierung dienende Selbstanzeige!

Dialektik der Abklärung – oder: Rest und Neustart in der gesellschaftspolitischen Semantik
Mit der Dialektik der Abklärung versucht der Autor eine Neubestimmung im gesellschaftstheoretischen Diskurs, eine Art grundlegender Schadenabwicklung des übersteigerten Projekts der Moderne. Es geht um eine postulierte Umkehr, ein Zurück auf Los, einen Neustart. Im Rahmen einer philosophischen Neubewertung wird das individuelle „Selbst“ stark gemacht, gegenüber einem eher kollektiven Wohlfahrts- und Versorgungsstaat, der einer eigenverantwortlichen Selbstbestimmung zunehmend entgegensteht. Im Ergebnis wird dieser Schwächung des Selbst ein Plädoyer für die Annahme der eigenen Wahl entgegengehalten, die Wahl, uns selbst und unser Selbst stark zu machen und uns jeweils neu zu erfinden. Dabei geht der Autor zurück an die Wurzeln des geschichtsphilosophischen Denkens und untersucht die Alternative, die sich nach dem Systemdenker Hegel um die Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts im philosophischen Denken aufgetan hatte: Stirner contra Marx. Während heute Karl Marx in aller Munde ist und im Rahmen der Krise seine Renaissance herbeigeredet wird, ist sein Zeitgenosse Max Stirner weithin unbekannt. Stirners Gegenposition zu Marx wird umfassend entfaltet und im Kontext des Diskurses um die Postmoderne im Sinne einer Anderen Moderne aktualisiert. Dabei wird ideengeschichtlich Bezug auf Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Peter Sloterdijk genommen. Die Positionierung des Zivilisationsforschers Gunnar Heinsohn erfolgt überraschend aber konsequent: Mit dessen Eingangsmotto, „die Aufklärung habe noch gar nicht begonnen“, wird das Buch quasi leitmotivisch überschrieben.
Das Buch ist eine Herausforderung für den Leser, weil es aufgrund der herangezogenen geistesgeschichtlichen Bezüge sehr voraussetzungsvoll ist, und es dem Leser, der den Anmerkungsapparat daher stets mitlesen sollte, einiges an Konzentration abverlangt. Er wird allerdings für seine geduldige Anstrengung auf verschiedene Weise belohnt, da sich eine Perspektive auftut, die einen Neustart in der Optik des Ich auf sein Sich erlaubt.
Die Dialektik der Abklärung ist ein Plädoyer für eine neue gesellschaftspolitische Semantik, in dem die Ich-Stärke der Individuen, gepaart mit wahrgenommener Eigenverantwortung zur Grundlage einer vitalen freien Eigentumsgesellschaft wird, ganz im Sinne auch Peter Sloterdijks Petitum der vertikalen Hochspannung. Das europäische Projekt hat beste Chancen, sich in einer Welt der aggressiven Globalisierungsnachholer im Nahen und Fernen Osten zu behaupten, wenn wir uns auf die Stärke einer existential-libertären Haltung besinnen und erkennen, wie stark wir sein können, wenn wir es nur wollen. Die Dialektik der Abklärung ist 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ein Buch für unsere Zeit, wie es die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno für die Zeit vor uns war. Die teils irrationale und bislang nie inhaltlich sachlich geführte - Kritik an dem Buch zeigt, dass einige Leser nicht bereit sind, diesen Schritt nachzuvollziehen, weil ihnen die gesamte Richtung nicht passt! Es sollte daher der Leser selbst nach eigener Lektüre entscheiden, ob das Buch den vom Autor beabsichtigten Erkenntnisgewinn bringt.
Man kann es mit Georg Christoph Lichtenberg auch anders ausdrücken: Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken.

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