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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Desiree
Wohnort: 
Wanne-Eickel

Bewertungen

Insgesamt 103 Bewertungen
Bewertung vom 19.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


sehr gut

Evan flieht ins kleine Dorf Ballybrady, wo er das Cottage der exzentrischen Grace mietet. Eine Woche will er seiner Frau den gewünschten Abstand geben und wieder klar kommen mit den Tragödien seines Lebens. Doch dann kommt der Lockdown und er sitzt fest. Als Evan sein Sohn Luca zu sich nimmt, lenkt dieser nicht nur Evans Leben in neue Bahnen, sondern auch das von Grace.
„Mitternachtsschwimmer“ von Roisin Maguire lässt mich zwiegespalten zurück. Ich liebe Grace, sie ist wunderbar. Ich mag auch Evan und alle anderen Figuren, mal von Evans Frau abgesehen. Was mir allerdings nicht gefallen hat, ist, welche Richtung der Roman in Sachen romantische Liebe genommen hat. Irgendwie war es absehbar, unterschwellig präsent, aber ich hab bereits am Anfang gehofft, dass es nicht so kommen wird. Ich finde es für die Geschichte nicht wirklich wichtig und hätte darauf verzichten können. Vor allem weil der Roman schon so viel beinhaltet. Es geht um Verlust und Tragödien, es geht um Ableismus und ein bisschen um Feminismus, um Gemeinschaft und den Platz im eigenen Leben.
Getragen wird der Roman von den Figuren, wobei eine neben Grace und Evan besonders hervorsticht, nämlich das Meer. Roisin Maguire zeigt dessen Fassetten sehr eindrücklich. An ihren Stil musste ich mich erst gewöhnen, er ist überladen und adjektivlastig, wovon ich eigentlich kein Fan bin, aber das gleicht sie mit ihrer Derbheit aus. Sehr gelungen finde ich die Perspektiven von Grace und Evan. Beide haben eine eigene, erkennbare Stimme. Bis auf die Liebessache finde ich auch deren Entwicklung super, sie ist stimmig und passend.
„Mitternachtsschwimmer“ ist ein Roman mit der Tiefe des Meeres. Anfangs steckt man den Zeh hinein, um sich an die Kälte zu gewöhnen, und jeder weitere Schritt fällt immer leichter, aber Vorsicht vor den Wellen und Strömungen. Die können einen erwischen, umwerfen und mitreißen.

Bewertung vom 13.07.2024
Das erste Licht des Sommers
Raimondi, Daniela

Das erste Licht des Sommers


sehr gut

Norma kümmert sich um ihre sterbende Mutter, dessen letzter Wunsch es ist nach Stellatta zurückzukehren. Dort ist die Familie verankert, dort hat Norma viele Sommer verbracht. Am Sterbebett ihrer Mutter beginnt sie, ihr zu verzeihen. Gleichzeitig wird Normas bewegtes Leben erzählt. Von ihrer Kindheit mit Cousine Donata, ihren Jahren in London, ihrer einzigartigen Liebe zu Elia.
„Das erste Licht des Sommers“ von Daniela Raimondi ist ein Roman, der in die Ferne entführt. Nicht nur nach Italien und London, sondern bis nach Brasilien und dabei ein Leben erzählt, das viel Schmerz erdulden musste, allerdings auch viel Glück erfahren hat. Normas Familie hat eine ganz spezielle Verbindung zu den Toten, nicht sie selbst, sondern andere, die leider nur Randfiguren sind, aber dem Roman einen magischen Funken verleihen und ihm in all der Tragik etwas Leichtes schenken.
Anfangs dachte ich, dass es um das schwierige Verhältnis zwischen Norma und ihrer Mutter Elsa geht, aber schnell wird deutlich, dass Normas Liebe zu Elia mehr im Mittelpunkt steht und von Elsas Sterben umklammert wird. Mutter sein und Mutter werden, spielt eine zentrale Rolle; die Liebe zum eignen Kind, die so leicht und auch so schwer sein kann.
Etwas schwierig fand ich die plötzlichen Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel. Meist folgen wir Norma, was meiner Meinung nach ausgereicht hätte, doch manchmal werden wir ohne Vorwarnung auf die Schultern der Nebenfiguren gesetzt. Gerne hätte ich mehr von Donata gelesen oder den anderen Frauen in der Familie, dessen Leben kurz angerissen werden. Die Männer entsprechen, nicht überraschend, dem Klischee des untreuen Ehemanns und bekommen, bis auf Elia, eher untergeordnete Rollen.
Sprachlich hat es mich nicht überrascht, aber das musste es auch nicht, denn Normas Leben hatte schon genug zu bieten und die wenigen magischen Begebenheiten, die immer wieder auftauchten, haben den Roman zu etwas Besonderem gemacht.
Eine schöne, manchmal schmerzhafte, Sommerlektüre.

Bewertung vom 04.07.2024
Die Sache mit Rachel
O'Donoghue, Caroline

Die Sache mit Rachel


ausgezeichnet

Als Rachel auf James trifft, ist es 2010, sie ist 21, Studentin und Irland in der Rezession. Schnell werden sie Freunde, ziehen zusammen und erleben ein Jahr, das durchdrungen ist von Höhen und Tiefen. Da ist Dr. Byrne, Rachels Dozent, der sich in das Leben der beiden drängt und da ist Carey, der vor allem Rachels auf den Kopf stellt und da ist die Angst vor der Zukunft, die in Irland nicht vorhanden zu sein scheint.
Caroline O’Donoghues „Die Sache mit Rachel“ hat mich überrascht. Ich habe unvoreingenommen mit dem Lesen begonnen und wurde schnell in die Geschichte gezogen, was nicht zuletzt an Rachel lag, mit der sich mein 20 jähriges Ich sehr identifizieren konnte. Zudem nimmt sie als Erzählerin kein Blatt vor den Mund. Durch James und ihre besondere Freundschaft fühlt es sich oft an wie eine Sitcom aus dem 2000er, aber Themen wie Abtreibung, Identitätsfindung in schwierigen Zeiten und natürlich die Liebe, die in vielerlei Gestalt - gleichgeschlechtlich, platonisch, unglücklich, herzerwärmend - daherkommt, stehen im Mittelpunkt.
Anfangs habe ich gebraucht, um hineinzufinden, da Rachel ihre Geschichte aus der Rückschau erzählt und das gerade zu Beginn etwas sprunghaft ist, doch das gibt sich schnell. Sprachlich fand ich es auch sehr gut, gezielt platzierte Metaphern haben mich immer wieder mit dem Kopf nicken lassen. Das Ende mochte ich ebenfalls, obwohl der Weg dorthin einige Längen hatte, da die letzten Jahre irgendwie untergebracht werden wollten.
Ein Wermutstropfen ist, dass es zwar eine Protagonistin gibt, aber sich ihr ganzes Leben nur um Männer zu drehen scheint. Andere Frauen und die Freundschaft zu ihnen kommen zu kurz. Allerdings muss ich gestehen, dass ich diese Zeit damals genauso in Erinnerung habe und schiebe das daher auf die Authentizität.
Ein unterhaltsamer Roman, der die wichtigen Themen im Leben nicht außer Acht lässt.

Bewertung vom 16.05.2024
Das Gegenteil von Erfolg
Thomas, Eleanor Elliott

Das Gegenteil von Erfolg


gut

Es ist ein wichtiger Tag für Lorrie. Die zweifache Mutter hat morgens ein Gespräch wegen einer Beförderung und abends ein großes Event, das ihr berufliches Baby ist. Ihre beste Freundin Alex, die daran zwar auch teilnehmen will, hat momentan aber anderes im Sinn. Sie ist zwischen Lorries Ex und seine Frau Zoe geraten und weiß nicht, wie sie mit ihren Gefühlen zu Zoe umgehen soll.
„Das Gegenteil von Erfolg“ ist Eleanor Elliott Thomas’ Debüt und das merkt man leider auch. Richtig abholen konnte es mich nicht. Alle Figuren, besonders Lorrie sind absolut überspitzt dargestellt und immer wenn ich dachte, ich könnte irgendwie relaten, wurde es wieder übertrieben. Zudem wirkt es so als habe Eleanor Elliot Thomas versucht alles in den Roman zu packen, was ihr im Kopf umging: Liebe, Feminismus, Umweltschutz, Kapitalismus, Betrug, Essstörung. Das führt dazu, dass an allem nur vorbeigehuscht wird.
Eigentlich spielt das Buch an einem Tag, doch mit den unzählige, teilweise sehr weit ausholenden Rückblenden, die mich immer wieder aus der Geschichte gerissen haben, wurde versucht alles zu erklären. Vieles ist sehr stark ausgeschmückt und toterzählt. ‚Kill your Darlings’ ist mir nicht nur einmal in den Sinn gekommen. Und als Kirsche auf der Sahne fühle ich mich als Leserin an der Nase herumgeführt, denn in einer Rückblende wird etwas erzählt, was sich beim großen Finale als ganz anders darstellt. Ich meine zu verstehen, warum das gemacht wurde, aber es war unnötig. Diese Information zu einem früheren Zeitpunkt hätte nichts am Spannungsbogen geändert.
Trotzdem habe ich das Buch zu Ende gelesen, oft quer, aber immerhin, weil es Lichtblicke hatte, die mich auflachen ließen, und ich kann mir den Roman gut als Film oder Miniserie vorstellen.

Bewertung vom 16.05.2024
Die Tage des Wals
O'Connor, Elizabeth

Die Tage des Wals


ausgezeichnet

Manod lebt 1938 auf einer walisischen Insel. Sie ist gerade mit der Schule fertig und kümmert sich um ihre jüngere Schwester Llinos und um den Haushalt, während ihr Vater als Fischer arbeitet. Sie hat sich an das harte Leben fernab vom Festland angepasst, macht das beste daraus. Als ein Wal strandet, scheint es ein schlechtes Omen zu sein, denn kurz darauf tauchen die Engländer*innen Joan und Edward auf. Diese wollen ein Buch über die Inselbewohner*innen schreiben, wozu sie Manods Hilfe in Anspruch nehmen und ihr eine Welt zeigen, die ganz anders ist als das karge Leben, das sie bis jetzt geführt hat.
„Die Tage des Wals“ von Elizabeth O’Connor ist ein besonderer Roman. Zugegeben, nach dem Klappentext habe ich etwas anderes erwartet, dann aber schnell in die Geschichte um Manod gefunden. Sie ist die Ich-Erzählerin und mir direkt ans Herz gewachsen mit ihren Beobachtungen, die schnörkellos und klar sind, denen aber trotzdem eine gewisse Poesie innewohnt. Ich kann ihre Sehnsucht nach einem emanzipierten, vielleicht auch weniger harten Leben verstehen. Sie ist intelligent, pragmatisch und verantwortungsbewusst. Und wird von Joan und Edward ausgenutzt, ohne es zu merken. Im Grunde werden alle Bewohner*innen ausgenutzt, ihrer Geschichte und Traditionen bestohlen, um sie zu verdrehen und Geld damit zu verdienen. So wie es tatsächlich auch passiert ist.
Als Leser*in merkt man schnell, dass Joan und Edward nicht das Beste im Sinn haben, dennoch hofft man für Manod auf ein gutes Ende. Elizabeth O’Connor hat einen eindrücklichen Stil, durch den die geübte Dichterin schimmert und der viel Raum für eigene Gedanken lässt. Die unterschiedlichen Längen der Kapitel scheinen die Unbeständigkeit des Meeres widerzuspiegeln und nahmen mich ein, in ihrer Wellenbewegung.
„Die Tage des Wals“ ist ein gelungenes Debüt, das die Leserschaft auf eine Insel führt, die alles andere als romantisch ist.

Bewertung vom 26.04.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


ausgezeichnet

Die Frauen legen sich hin, auf die Straße, vor Krankenhäuser, Kindergärten, und stehen nicht mehr auf. Sie hören auf mit der Carearbeit, mit den selbstverständlich von Frauen ausgeführten Tätigkeiten, ohne laut zu werden oder Forderungen zu stellen - einfach, weil sie nicht mehr können.
So lernt Elin ihre Großmutter kennen und erfährt zum ersten Mal Solidarität unter Frauen. Ihre Tante Ruth wäre gern dabei, würde sich am liebsten dazulegen, aber als Pflegefachkraft im Krankenhaus wird sie nun noch mehr gebraucht als vorher, um das kollabierende System irgendwie aufrecht zu erhalten, und ohne Rücksicht auf sich selbst. Und da ist Nuri, gefangen am Existenzminimum und unter der toxischen Männlichkeit leidend, stellt er sich als Mann hinter die Frauen.
Mareike Fallwickl hat mit „Und alle so still“ den Roman unserer Zeit geschrieben. Sie drückt auf die blauen Flecken, die den Frauen immer wieder zugefügt werden, durch Druck, durch Erwartung, durch Gewalt. Sie schreibt über die Themen, die wenig Öffentlichkeit bekommen oder einfach nicht berücksichtigt werden; die abgewunken und mundtot gemacht werden, weil es doch läuft.
Mit „Die Wut, die bleibt“ hat sie 2022 einen famosen Auftakt geliefert, „Und alle so still“ ist die Ergänzung. Die beiden Romane greifen ineinander, bestehen aber auch eigenständig. Und es ist bemerkenswert, wie sehr sich Mareike Fallwickl von Roman zu Roman steigert. Etwas, was unmöglich scheint, denn ihr Niveau und ihr Handwerk sind bereits on top, wie kann sie da immer noch besser werden? Mit Elin, Ruth und Nuri erzählt sie eine Geschichte, die so tief berührt, dass unweigerlich Tränen fließen, und ist nicht so weit entfernt von unserer Lebensrealität, wie manche glauben mögen.
Mareike Fallwickl ist eine Meisterin der zeitgenössischen Literatur und nicht nur schriftstellerisch ein absolutes Vorbild. Ich hoffe, sie selbst, ihre Worte und ihre Werke, bekommen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Bewertung vom 15.04.2024
Leute von früher
Höller, Kristin

Leute von früher


ausgezeichnet

Marlene arbeitet den Sommer über auf der nordfriesischen Insel Strand als Verkäuferin. Dort wird sie in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt, denn im Dorf dürfen die Angestellten nur im Kostüm herumlaufen. Alles ist auf alt getrimmt und sie pendelt zwischen früher und heute, so wie durch das Leben nach dem Studium. Als sie Janne kennenlernt, verändert sich ihre Sicht auf sich selbst und auf die Liebe, doch dann merkt sie, dass Strand keine normale Insel ist.
„Leute von Früher“ von Kristin Höller hat mich absolut begeistert. Anfangs, wenn Marlene von der Fähre steigt, ahnt man noch nichts von der Sogwirkung, die sich ganz schnell einstellt und die einen auf Strand festhält. Dabei fällt es mir schwer, genau zu benennen, woran es liegt. Vielleicht an der Gradlinigkeit von Kristina Höllers Erzählstil; vielleicht an Marlene selbst, die Ecken und Kanten hat und dadurch als Figur so rund ist; vielleicht, weil gleichzeitig so viel und so wenig passiert. Marlene ist in einer Zwischenphase des Lebens und flüchtet, was nur halb gelingt. Sie meint zu wissen, wer sie ist, erkennt aber schnell, dass es nicht so ist. Nämlich als Janne in ihr Leben tritt, womit sich eine Liebesgeschichte entspinnt, die zart ist und doch solide scheint. Liebe spielt eine große Rolle und Beziehungen, in ihren unterschiedlichsten Formen, aber auch die Frage nach dem eigenen Leben, nach den eigenen Wünschen. Das alles steht zwischen den Zeilen, trägt Marlene in sich, schwingt ganz nebenbei mit, zusätzlich zu der vordergründigen Geschichte mit Janne.
Dann kam das Ende und wie bei offenen Enden habe ich erst gestutzt und dann erkannt, dass es einfach perfekt ist. Kristina Höllers Stil ist besonders, nicht poetisch, aber unheimlich nahbar. Er ist klar und enthält doch Raum für Interpretation.
Ein wirklich toller Roman von einer Autorin, die ich zukünftig im Blick behalten werde.

Bewertung vom 14.04.2024
Alles gut
Rabess, Cecilia

Alles gut


sehr gut

Jess tritt ihren neuen Job an der Wall Street an und begegnet Josh, mit dem sie schon an der Uni aneckte. Es treffen zwei Welten aufeinander: die Schwarze Jess, die zwar Geld verdienen möchte, aber eher liberal eingestellt ist und der Weiße Josh, der nicht nur Republikaner ist, sondern seine Augen vor Ungleichbehandlung gerne verschließt. Immer wieder geraten sie aneinander, diskutieren, streiten, doch finden auch Gemeinsamkeiten und profitieren vom Gegenüber, besonders Jess. Sie werden Freunde und irgendwann mehr, leichter wird ihr Miteinander dadurch aber nicht.
„Alles gut“ von Cecilia Rabess hat eine wichtige Botschaft: Glücklich sein vor Recht behalten. Sie zeigt mit ihrem Debüt, wie sehr sich ein Paar aufreiben kann, wenn es konträre Sichtweisen hat. Allerdings konnte mich die Erzählweise nicht vollends überzeugen. Erst hat es lange gedauert bis es wirklich los geht und nach einer kurzen Hochphase, dümpelt es dann wieder bergab, bis zum Ende, was ich eher als mau empfunden habe.
Dass Cecilia Rabess einen Fuß in der Finanzwelt hat und sehr intelligent ist, merkt man an dem Infodump, den sie stellenweise einfließen lässt und was zu manchen Längen beiträgt. Und so ganz kann ich Jess und Josh auch nicht verstehen. Jess hat mich zusehends genervt, weil sie manchmal selbst nicht so recht wusste, worauf sie hinauswollte und Josh, weil ich seine Ansichten nicht teile und er für mich auch nach Beenden des Buches ein Rätsel bleibt.
Sprachlich hat es einiges zu bieten, es gab Metaphern, die mich überrascht haben und im Mittelteil konnte ich den Roman nicht zur Seite legen, aber davor und danach hätte man, meiner Meinung nach, vieles streichen können.
Trotz aller Kritik hat es mir einen weiteren Einblick in das Leben von PoCs in den USA geschenkt und wie sehr das Land vom Kapitalismus durchsetzt ist, während an anderer Front dagegen angekämpft wird.

Bewertung vom 08.04.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Mark Twains Huckleberry Finn erzählt aus der Perspektive des Sklaven Jim - so könnte man „James“ von Percival Everett in einem Satz zusammenfassen, doch gerecht würde es dieser Neuerzählung des Klassikers nicht werden. Ich gebe zu, ich habe Mark Twain nicht gelesen, kann also keinen Vergleich ziehen, allerdings handelt es sich bei diesem Roman keineswegs um ein Abenteuerbuch für Kinder.
Kurz zum Inhalt: Als Jim nach New Orleans verkauft und somit von seiner Frau und seiner Tochter getrennt werden soll, flieht er. Dabei trifft er Huckleberry, der von seinem gewalttätigen Vater geflohen ist. Sie versuchen, sich zusammen durchzuschlagen, werden getrennt, finden sich wieder.
Jim schildert sehr eindrücklich, was ihm als Sklave von seinen Weißen Massas angetan wird. Er wird behandelt wie ein Gegenstand, wie ein Tier, wie Sklaven nun mal behandelt worden sind. Jegliche Menschlichkeit, selbst Schmerzempfinden wurde ihnen abgesprochen. Zu sagen, dass sie ausgebeutet wurden, ist zu schwach für das Leid, das ihnen von den Weißen zugefügt wurde.
Percival Everett schafft es, diese Grausamkeiten so zu verpacken, dass es gerade so erträglich ist und spickt die Begebenheiten mit Humor, was eigentlich unvorstellbar scheint, ihm aber sehr gut gelingt. Die Dummheit liegt dabei bei den Weißen, die denken, sie wären die Schlauen. Sie erkennen nicht, dass die Sklaven nur so tun, als seien sie einfältig, weil sie sonst mit Strafen oder sogar dem Tod rechnen müssen. Widerworte, Nachfragen, selbst Blicke sind gefährlich.
Jim macht eine tiefgreifende Veränderung durch. Anfangs ist er vorsichtig, zurückhaltend, aber im Verlauf hat er immer weniger zu verlieren und in ihm erwacht ein Zorn, der nur allzu menschlich ist in dieser Ungerechtigkeit.
„James“ ist ein Roman, der unbedingt neben Huckleberry Finn als Schullektüre stehen sollte, denn wir müssen endlich die Stimme derer hören, die so lange zum Schweigen gebracht wurden. Ein absolutes Muss für jede*n, die*der sich mit amerikanischer Geschichte auseinandersetzen will.

Bewertung vom 01.04.2024
Sieben Sekunden Luft
Milsch, Luca Mael

Sieben Sekunden Luft


ausgezeichnet

Selah hat sich verloren, eigentlich hat Selah sich noch nie gehabt. Früher hat ihre Mutter ihr alles vorgegeben, dann die Gesellschaft und irgendwann konnte sie nicht mehr. Selah ist aus- und aufgebrochen, um sich selbst zu finden, und tat sich trotzdem schwer damit. Als endlich ein Licht mit Namen Ava zu sehen ist, wird Selah wieder zurückgerissen, denn erneut fordert die Mutter die Aufmerksamkeit.
„Sieben Sekunden Luft“ von Luca Mael Miltsch gehört zu den intensivsten Romanen, die ich jemals gelesen habe. Selahs Geschichte wird zu verschiedenen Zeiten erzählt: 1995, 2006, 2017 und 2023. Jede Zeit hat die passende Perspektive, dahingehend, wie nah Selah sich selbst ist, was sehr spannend ist und den Zugang zu Selah verstärkt, das Leid noch ein Stück greifbarer macht.
Sie merkt schon früh, dass sie nicht in die festgefahrenen Rollenbilder passt, kann dies aber nicht einordnen und wird damit auch noch komplett alleingelassen. Sie versucht, ihren Schmerz zu betäuben, was so atemlos, so intensiv beschrieben wird, dass es mich japsen ließ. Erst spät erkennt Selah, dass sie sich keinem Geschlecht zugehörig fühlt und es kostet nochmal Zeit, es richtig zu begreifen. Über allem schwebt die Mutter, die mich wahnsinnig wütend gemacht hat, denn auch wenn sie es schwer hatte, Selah konnte am wenigstens dafür und ich hätte mir einen richtigen Befreiungsschlag gewünscht, aber Mutter-Kind-Beziehungen sind nie leicht und im Nachhinein hat Selah genauso gehandelt, wie es zur Figur passt.
Luca Mael Miltsch hat ein wahnsinnig eindringliches und sprachlich hervorragendes Debüt abgeliefert, was herausfordernd ist, aber auch den Blick öffnet. Luca schreibt über etwas, was nicht beschrieben werden kann und aus vielerlei Gründen am Puls der Zeit ist.