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Gordel
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Berlin

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Insgesamt 8 Bewertungen
Bewertung vom 07.01.2022
Gebrauchsanweisung für China
Strittmatter, Kai

Gebrauchsanweisung für China


weniger gut

Hinschauen ohne nachzusehen. Oder: Geschwätzige Belanglosigkeiten und selbstvergessene Kritik.

Ich habe dieses Buch von einer in Deutschland lebenden Chinesin empfohlen bekommen. Als Beispiel für einen typischen deutschen Blick auf China. Deswegen habe ich meine Skepsis gegenüber dieser Art von Literatur mit griffigem Titel, die verspricht, zu unterhalten und dabei alles zu erklären, beiseite geschoben und angefangen zu lesen.

Immerhin, der Einstieg ist gelungen: Strittmatters Buch enthält eine Gebrauchsanweisung für sich selbst: Es warnt vor Pauschalurteilen und Klischees (Chinesisch. Oder: Fremde Zeichen). Es veranschaulicht die Doppeldeutigkeit von Begriffen (Kompass. Oder: Am Ende trifft man sich doch; Kommunismus; Menschenrecht). Oder ordnet überzeichnete Urteile über China im Westen, zwischen Verdammung und Schwärmerei, als Ergebnis eines Aneinander-vorbei-Guckens (Der Ausländer. Oder: Wenn Völker sich verständigen). Das sind seine besten Passagen.

Doch verliert sich der Autor schließlich in Anekdoten. Unterhaltsam, gewiss. Aber letztlich leben deren Pointen von eben jenen Vereinfachungen, vor denen der Autor warnt. Natürlich wird klar: China ist fremd, voller Widersprüche. Und der Leser erfährt, was genau andere vor ihm merkwürdig fanden. Der Gebrauchswert dieser Beobachtungen ist unbestreitbar, doch bleibt er letztlich begrenzt.

Doch ist Strittmatters Anspruch keinesfalls drauf beschränkt, bloß unterhalten zu wollen. Strittmatter schreibt auch über Geschichte, Ideologie, Herrschaft oder Wirtschaft. Völlig zu Recht schlägt er dabei nachdenkliche Töne an. Bringt Kritik an. Doch hier scheitert Strittmatter, denn er verlässt den Horizont der eigenen Weltsicht nicht. Das ist dann doch immer wieder eine große Enttäuschung: Frappierend, wie die schillernde Niedriglohn-Konsumwelt in den höchsten Tönen gelobt wird (Helden der Arbeit. Oder: Dem Volke dienen). Und zugleich die Auswüchse der Ungleichheit im Turbo-Kapitalismus chinesischer Prägung kritisiert werden (Mätresse). Sind das nicht zwei Seiten derselben Medaille? Desselben Wirtschaftssystems, dessen Auswüchse wir in Europa, in unterschiedlichen Graden, seit knapp 200 Jahren erleben? Wie den Chinesen staatlich indoktrinierte Geschichtslosigkeit bescheinigt wird. Und zugleich die ebenso staatlich indoktrinierte Erinnerung an den Umgang der westlichen Mächte mit China seit dem 19. Jahrhundert als Propagandamasche abgetan wird. Ist das nicht Geschichtspolitik, wie sie uns sehr vertraut ist? Wie der Widerspruch zwischen Hochglanzfassaden und Konsumfetisch auf der einen, Selbstbezogenheit und menschlicher Leere auf der anderen zu immer neuer Kritik Anlass gibt. Kommt das nicht vielen Menschen überall auf der Welt bekannt vor?

Ein einseitiger, vielleicht gar (neo-) kolonial zu nennender Blick. Nur dass er sich heute auf ein kraftstrotzendes, (zu) selbstbewusstes China richtet, das sich anschickt, eigene imperiale Ambitionen umzusetzen.

Immerhin wird, beiläufig nur, daran erinnert wird, dass die Masse der Chinesen vornehmlich weiterhin nichts anderes tut als für den "weißen Mann" zu arbeiten und den von ihm erfundenen Mechanismen und Ideologien nachzueifern. Das bleibt, für den Moment, eine Schieflage.

Wer sich damit begnügt, anekdotenhaft einer fremden Welt zu lesen und sich die zu den eigenen Vorurteilen passenden Geschichten herauszusuchen, der kommt mit diesem Buch auf seine Kosten. Alle anderen können ihre Zeit leicht besser nutzen.

Bewertung vom 20.12.2021
Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung
Egon, Erwin Kisch

Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung


ausgezeichnet

Täglich Lügen. Ein Lehrbuch des Jourmalismus

Kisch, der sprichwörtliche rasende Reporter, ist eine Ikone des Journalismus. In dieser Anthologie hat er Glanzstücke des Journalismus zusammengetragen, übersetzt und kommentiert. Durchaus mit pädagogischem Anspruch, der über die Zunft der Schreiber hinausreicht: Nichts weniger als ein Lehrbuch der Nation will Kisch beibringen.

Wie in einer Zeitung das Geschehen eines Tages, sind in diesem Buch Jahrhunderte europäischer Geschichte in einem Panorama journalistischer Texte verdichtet. Es finden sich darin Leitartikel, Beiträge in eigener Sache, Tagesnachrichten und Berichte auswärtiger Korrespondenten, sowie ein Feuilleton und Berichte zu Kunst, Kultur und Literatur.

Stimmen aus allen Ecken des Kontinents kommen zu Wort: Von Irland (Swift) bis Russland (Dostojewski), von Norwegen (Ibsen) bis Italien (Mazzini); natürlich aus Frankreich (Voltaire, Napoleon, Zola), England (Dickens, Defoe) oder Deutschland (Luther, Marx, Bismarck, Wagner); auch jüdische (Herzl) oder Vertreter aus der tschechischen Heimat (Havlicek-Borovsky, Neruda) und aus der neuen Welt (Franklin). Leider, das soll nicht verschwiegen sein, findet sich keine einzige Frau darunter.

Mit jedem der Texte werden zugleich Facetten dessen ins Licht gerückt, was guten und erfolgreichen Journalismus auszeichnet: Souveräne Beherrschung der Sprache. Nähe zum Menschen. rücksichtslose Hingabe an den Stoff. Ein innerer Kompass. Und Wahrhaftigkeit.

Am unmittelbarsten kommt dies dort zum Ausdruck, wo das journalistische Handwerk und das Pressewesen selbst Gegenstand der Stücke sind. Etwa wenn der Sozialdemokrat Lasalle 1863 die liberale Presse in ihren Abhängigkeiten als "Hauptfeind der gesunden Entwicklung" geißelt: "Täglich Lügen, Lügen in reinen puren Tatsachen, Tatsachen erfunden, Tatsachen in ihr Gegenteil entstellt." Oder Heinrich von Kleist in seinem "Lehrbuch der französischen Journalistik" 1810 die obersten Grundsätze obrigkeitsgefälliger Berichterstattung sarkastisch auf den Punkt bringt: "Was das Volk nicht weiß, macht das Volk nicht heiß. Was man dem Volk dreimal sagt, hält das Volk für wahr."
Das Bekenntnis (1900), wie sich der Times-Journalist und "König der Reporter" Henri Stephan Opper de Blowitz im Jahr 1878 den deutsch-französischen Vertrag verschaffte, sollte jeder Regierungsbeamte kennen, der mit Medienvertretern zu vertraulichen Themen arbeitet.
Und Ferdinand Kürnbergers Plädoyer von 1866 zu "Sprache und Zeitungen" sollten sich alle zu Herzen nehmen, die mit ihrem Schreiben neue Ideen verbreiten wollen: "Verleidet dem Sohn des Jahrhunderts den Genuß eurer neuen Ideen nicht durch eure neuen Barbarismen. Bedenkt, daß das Neue schon an sich genug der Widersacher hat, wollt ihr auch noch jene Gemüter zurückschrecken, welche eure Neuerungen aus bloßer - Reinlichkeitsliebe zurückweisen?"


Eine absolute Leseempfehlung in Zeiten, in denen sinkende Auflagen die ökonomischen Spielräume unabhängiger Berichterstattung beschneiden, "Sprachinnovationen" die Gemüter mehr erhitzen als wirkliche Veränderungen, und erfundene Fakten das Vertrauen in etablierte Medien erodieren lassen.

Bewertung vom 20.12.2021
Klassischer Journalismus : die Meisterwerke der Zeitung
Kisch, Egon Erwin (Hrsg.)

Klassischer Journalismus : die Meisterwerke der Zeitung


ausgezeichnet

Täglich Lügen. Ein Lehrbuch des Jourmalismus

Kisch, der sprichwörtliche rasende Reporter, ist eine Ikone des Journalismus. In dieser Anthologie hat er Glanzstücke des Journalismus zusammengetragen, übersetzt und kommentiert. Durchaus mit pädagogischem Anspruch, der über die Zunft der Schreiber hinausreicht: Nichts weniger als ein Lehrbuch der Nation will Kisch beibringen.

Wie in einer Zeitung das Geschehen eines Tages, sind in diesem Buch Jahrhunderte europäischer Geschichte in einem Panorama journalistischer Texte verdichtet. Es finden sich darin Leitartikel, Beiträge in eigener Sache, Tagesnachrichten und Berichte auswärtiger Korrespondenten, sowie ein Feuilleton und Berichte zu Kunst, Kultur und Literatur.

Stimmen aus allen Ecken des Kontinents kommen zu Wort: Von Irland (Swift) bis Russland (Dostojewski), von Norwegen (Ibsen) bis Italien (Mazzini); natürlich aus Frankreich (Voltaire, Napoleon, Zola), England (Dickens, Defoe) oder Deutschland (Luther, Marx, Bismarck, Wagner); auch jüdische (Herzl) oder Vertreter aus der tschechischen Heimat (Havlicek-Borovsky, Neruda) und aus der neuen Welt (Franklin). Leider, das soll nicht verschwiegen sein, findet sich keine einzige Frau darunter.

Mit jedem der Texte werden zugleich Facetten dessen ins Licht gerückt, was guten und erfolgreichen Journalismus auszeichnet: Souveräne Beherrschung der Sprache. Nähe zum Menschen. rücksichtslose Hingabe an den Stoff. Ein innerer Kompass. Und Wahrhaftigkeit.

Am unmittelbarsten kommt dies dort zum Ausdruck, wo das journalistische Handwerk und das Pressewesen selbst Gegenstand der Stücke sind. Etwa wenn der Sozialdemokrat Lasalle 1863 die liberale Presse in ihren Abhängigkeiten als "Hauptfeind der gesunden Entwicklung" geißelt: "Täglich Lügen, Lügen in reinen puren Tatsachen, Tatsachen erfunden, Tatsachen in ihr Gegenteil entstellt." Oder Heinrich von Kleist in seinem "Lehrbuch der französischen Journalistik" 1810 die obersten Grundsätze obrigkeitsgefälliger Berichterstattung sarkastisch auf den Punkt bringt: "Was das Volk nicht weiß, macht das Volk nicht heiß. Was man dem Volk dreimal sagt, hält das Volk für wahr."
Das Bekenntnis (1900), wie sich der Times-Journalist und "König der Reporter" Henri Stephan Opper de Blowitz im Jahr 1878 den deutsch-französischen Vertrag verschaffte, sollte jeder Regierungsbeamte kennen, der mit Medienvertretern zu vertraulichen Themen arbeitet.
Und Ferdinand Kürnbergers Plädoyer von 1866 zu "Sprache und Zeitungen" sollten sich alle zu Herzen nehmen, die mit ihrem Schreiben neue Ideen verbreiten wollen: "Verleidet dem Sohn des Jahrhunderts den Genuß eurer neuen Ideen nicht durch eure neuen Barbarismen. Bedenkt, daß das Neue schon an sich genug der Widersacher hat, wollt ihr auch noch jene Gemüter zurückschrecken, welche eure Neuerungen aus bloßer - Reinlichkeitsliebe zurückweisen?"


Eine absolute Leseempfehlung in Zeiten, in denen sinkende Auflagen die ökonomischen Spielräume unabhängiger Berichterstattung beschneiden, "Sprachinnovationen" die Gemüter mehr erhitzen als wirkliche Veränderungen, und erfundene Fakten das Vertrauen in etablierte Medien erodieren lassen.

Bewertung vom 02.08.2021
Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute
Dahn, Daniela

Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute


sehr gut

Für Daniela Dahn ist klar: Demokratieskepsis und Erfolge rechter Parteien im Osten sind Folge der unvollendeten Revolution von 1989. Einer schnellen Vereinigung, die auf nationalen Pathos gründete und nicht auf einen demokratischen Prozess. Einer verfehlten Politik des Westen, die den demokratischen Aufbruch abwürgte, um der Übernahme des eigenen Gesellschaftsmodells den Weg zu bereiten.
Diese Politik setzte auf eine Strategie der totalen Delegitimierung der DDR. Sie richtete sich, getragen von von einem breiten Konsens westdeutscher Eliten, nicht allein gegen den Macht- und Herrschaftsapparat des ostdeutschen Staates, sondern auch gegen Träger der Revolution - vor allem, wenn deren Motive und Ziele anküpften an das progressive Potenzial des Sozialismus, das während der SED-Diktatur verkümmert war und durch die Wende wiederhergestellt werden sollte: Mitbestimmung. Soziale Gerechtigkeit. Chancengleichheit. Gleichberechtigung von Frauen. Ein kritischer Umgang mit der deutschen Geschichte. Antifaschismus als Staatsraison. - Schonungslos erinnert Daniela Dahn an Bevormundung, Demütigung, Ignoranz und überhebliche Selbstgerechtigkeit im Umgang des Westens mit dem Osten.
Die Folgen wiegen schwer und sind heute allenthalben zu spüren: Aufwind erhielten all jene, deren Opposition gegen den Sozialismus sich genau auf die Ablehnung seiner progressiven und humanistischen Wurzeln gründete. Und die den Westen als Leitmodell befürworteten, gerade weil er sich in dieser Hinsicht als Alternative darstellte. Insofern überrascht es nicht, dass AfD und Konsorten sich heute - in ihrer Selbstwahrnehmung - als Vollender des Erbes von 89 fühlen können. Wer Daniela Dahn in ihrer Argumentation folgt, würde - zynisch - konstatieren: Die Saat von damals geht heute auf. Oder eben mit ihren Worten: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Doch auch zu Hoffnung gibt es Anlass: In den Protesten wie denen der "Fridays for Future"-Bewegung sieht die Autorin die wahren Erben der 89er Revolution.
Fazit: Daniela Dahn, wie wir sie kennen: Meinungsstark, streitlustig, polemisch. Kein wohltuender, aber ein weiterhin notwendiger Beitrag zum Verständnis der jüngeren deutschen Geschichte und der gegenwärtigen politischen Befindlichkeiten im Lande.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.06.2021
Ludwig XIV.
Wrede, Martin

Ludwig XIV.


gut

Anschaulich und verständlich beschreibt Martin Wrede das Leben und Wirken Ludwig XIV.: Als Kriegsherr, aber auch als Reformer (mit bescheidener Bilanz), Förderer von Wissenschaft und Kunst und natürlich bei Hofe.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Wrede der Einordnung von Ludwigs Außenpolitik in das Netz dynastischer Beziehungen und das Wechselspiel politischer Interessen - als Basis von Allianzen und Auslöser von Kriegen. Er zeigt, wie Ludwigs frühen Erfolge auf dem Schlachtfeld seinen Ruf als großer König begründeten, und wie er Frankreich mit einer Politik der militärischen Stärke und auch mit Hilfe einer taktisch geschickten Diplomatie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert zur Vormacht in Europa machte, vor allem zu Lasten des Reiches. Und er beschreibt, wie die Kriegslasten schließlich das Ende dieses Aufstiegs einleuteten - zumal innere Reformen ausblieben und sich die konkurrierenden Mäche zur Einhegung der französischen Macht zusammenschlossen.

In einem gesondertern Abschnitt schildert Wrede die beißende Kritik an Ludwig in der Publizistik des europäischen Auslands: Trotz oder wegen der unbestrittenen Strahlkraft seines Hofes (das bleibt offen): Die Ablehnung des Sonnenkönigs und seiner Kriege außerhalb Frankreich und die daraus erwachsende Frankophobie trugen, befeuert von der französischen Exilanten, grundlegend zur Nationenbildung bei den Nachbarn bei: Im Reich, den Niederlanden und in England.

Wrede wendet sich gegen Vorstellungen vom Absolutismus als unumschränkter königlicher Alleinherrschaft. Er betont demgegenüber deren Beschränkungen: Die Abhängigkeiten des Königs von Adel und Beamten. Deren Folgschaft sei letztlich nicht erzwungen (hier wendet sich Wrede explizit gegen Norbert Elias' These von der Domestizierung des Adels am Hofe), sondern freiwillig. Für Wrede ist dies Ergebnis eines durchaus kooperativen Führungsstils des Königs und sorgfältiger Auswahl seiner Berater (die letztlich von seiner Gunst abhängig blieben).

Wesentliches Merkmal absolutistischer Herrschaft ist Wredes Argumentation zur Folge letztlich die Identität von Person und Herrscher in der Rolle des Königs: Die Einheit von Inszenierung und Herrschaft, die Ludwig idealtypisch verkörpert habe.

Warum ihm dies mit Erfolg gelang, darauf finden sich in Wredes Biografie nur verstreute Hinweise: Frankreichs gute Ausgangsposition, auch demografisch, nach dem 30-jährigen Krieg, die Schwäche der europäischen Rivalen und der inneren Opposition, die erfolgreiche Einbindung des Adels - sie werden nicht vertieft dargestellt.

Das Fazit: Das Buch hält was sein Titel verspricht: Einsteiger finden einen konzisen Überblick über Ludwig als Kriegsherr mit interessanten Exkursen wie dem zur zeitgenössischen Publizistik. Wer vertiefte Analysen der Herrschaft Ludwigs erwartet, wird zu weiteren Büchern greifen müssen.

Bewertung vom 20.02.2021
Lütten Klein
Mau, Steffen

Lütten Klein


ausgezeichnet

"Lütten Klein" ist unbedingt lesenwert: Eine differenzierte Beschreibung der ostdeutschen Gesellschaft. Eine zugespitzte Analyse ihrer Brüche. Und - ein persönlich gefärbter Erlebensbericht des Umbruchs.
Das Ergebnis der Analyse ist klar: Vereinigung und Transformation haben es nicht vermocht, über 40 Jahre gewachsene Eigenheiten zu überformen, geschweige denn, die westdeutschen Entwicklungen nachzuvollziehen. Im Gegenteil: Sie haben die lang angelegten “Frakturen“ im gesellschaftlichen Gefüge bloßgelegt und vertieft. Der Osten bleibt eben anders. Der Anspruch der westdeutschen Transformationsstrategie ist gescheitert. Gewiss nicht aus Mangel an guten Absichten. Doch auch an ihren eigenen Widersprüchen. Und dem Unvermögen, dem Aufbruch im Osten etwas abzugewinnen: Der Sieg im Kalten Krieg ließ das schier unnötig erscheinen.
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Mau nennt viele. Einige bemerkenswerte Beispiele:
- Ein jahrzehntelanger Brain Drain. Die Fluchtbewegung zur Wende war nur ein kleiner Ausschnitt davon. Beginnend in den 50ern, wurde er durch den Mauerbau nur aufgestaut, und setzte sich mit Grenzöffnung ungehindert fort. Nicht zu unterschätzen: Für die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen bedeutete die Einheit einen Abstieg: Wirtschaftlich. Sozial. Kulturell.
- Die Vermännlichung des Ostens, begünstigt durch eine eigentümliche Kombination von modernem Rollenverständnis ostdeutscher Frauen und traditionellen Heiratsmustern, zugespitzt durch den beispiellosen Geburteneinbruch zur Wende: Je nach Bildungsstand, gibt es in manchen geburtenstarkem Vorwendejahrgang dreimal mehr Männer als potenzielle Partnerinnen in der Region. Die heirateten oft in den Westen.
- Frappierender ist ein anderer Befund: Nach dem kurzen Rausch der Wende - Mau versucht ihn den Nachgeborenen mit der kollektiven Begeisterung zu einer Fußballweltmeisterschaft begreifbar zu machen – fiel die Gesellschaft zurück in Starre. Die Strategie der schnellen Vereinigung setzte auf nationalen Pathos, nicht auf demokratische Prozesse. Mit der Einheit kehrte die Herrschaft zurück. Und die Erwartung, sich anzupassen. Der Westen wagte zu wenig Demokratie. Ein Faktor der Kontinuität – der sich heute mehr denn je zu rächen scheint: „Die DDR war eine gedeckelte und nach unten gedrückte Gesellschaft, und so lässt sich Ostdeutschland auch heute noch beschreiben.“
Konsequenterweise endet das Buch mit Überlegungen zur Abneigung gegen Fremde und dem Erfolg der AfD. Sie profitiert davon, dass sich die anderen Parteien der Unzufriedenheit im Osten nicht (mehr) annehmen. – Zeit, dass sich das ändert. Spätestens nach diesem Buch.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.08.2019
Die Abenteuer des Werner Holt
Noll, Dieter

Die Abenteuer des Werner Holt


ausgezeichnet

Die Abenteuer des Werner Holt, sie erinnern mich unwillkürlich an die von Frodo und seinen Gefährten in Tolkiens "Herr der Ringe" - allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Im Moment der Befreiung, metaphorisch gesprochen: als der Ring in die Flammen fällt, findet sich der Held in der Hölle.

Das Buch zeigt nachvollziehbar und authentisch, auf welchen Wegen selbst verbrecherische Ideologien wie die nationalsozialistische die Jugend für sich gewinnen - und ihr dabei doch das Bewusstsein belassen, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das Buch beschreibt den Weg heraus aus dieser Trugwelt, und den Preis, den der zahlt, der sich dieser Welt nicht zu entziehen vermag. Eine Geschichte über Menschen wie du und ich.

Die Handlung nimmt ihren Lauf in der von Ferne bedrohten Idylle einer deutschen Kleinstadt im Frühjahr 1943: Aus einem Ernteeinsatz türmen sie in die Berge - um die Zeit bis zum ersehnten Einsatz bei der Flak zu überbrücken. Dort leben sie wie Robin Hood, als Jäger, Räuber, Rächer.

Wie in Tolkiens großem Epos werden die Prüfungen immer schwerer: Luftkrieg im Ruhrgebiet, Partisanenbekämpfung in der Slowakei; Einsatz an der Ostfront; schließlich als Teil eines letzten letzten Aufgebots. Es ist die Beteiligung an so fanatischer wie sinnloser Gewalt, die Werner immer tiefer erschüttert. Er ahnt schon, als er es noch nicht wissen will: Das vermeintliche Auenland selbst, es entpuppt sich als Mordor. Zum Sinnbild dessen wird ihm eine Sägemühle in der Slowakei, in deren Keller die SS einen Gefolterten zurückließ, und die Werners Gefährte Wolzow bis zum buchstäblich letzten Mann verteidigt.

Der unbefangene Glaube, dass seine Mission im Dienste seiner Ideale, des "Guten" im Kampf gegen das "Böse" steht, gerät bei Werner immer stärker ins Wanken. Der Preis der Abkehr ist hoch: Eine Geschichte ohne Held. Eine Erzählung vom Versagen. Und trotz allem auch die vom tiefen Wunsch, ein guter Mensch zu sein.

Dieter Noll, ist wie seine Helden, im Jahr 1927 geboren. Vieles, von dem was er erzählt, hat er selbst erlebt. Daraus schöpfen seine Schilderungen ihre Glaubwürdigkeit und Kraft.

Dies war es vermutlich, neben einigen Referenzen an den politischen Zeitgeist, was dem anfang der 60er erschienen Roman zu der zweifelhaften Ehre verhalf, in der DDR Pflichtlektüre an Schulen zu werden. Dies überrascht umso mehr, als die Geschichte in vielen Elementen wenig Anknüpfungspunkte für das ideologisch gewollte Geschichtsbild bot, ja teilweise wie eine Fluchtür wirkt, um der offiziellen Doktrin zu entfliehen.

Immer wieder lesen sich Passagen des Romans wie eine kommentierte Bibliographie, die die geistige Welt Werners und seiner Generation umreißt. Vieles aus der Feder von AutorInnen, nach denen allenfalls im Westen des geteilten Deutschlands Straßen oder Plätze benannt waren. Den stummen Soundtrack für den Roman bietet das Repertoire, das Werners Freund Peter auf seinem Klavier spielt.

Alles in allem: Eine packende Geschichte, spannend bis zum Schluss, eine intelligente Handlung, eine Hauptfigur, die sich ins Herz schauen lässt, und deren Inneres wie ein Prisma eine Zeit erschließt, deren Moral wir nur dann erfassen können, wenn wir uns gestatten, in sie hineinzutauchen. Mit diesem Buch ist das möglich. Und wohl gerade heute wieder nötig.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.07.2019
Die Toten bleiben jung
Seghers, Anna

Die Toten bleiben jung


ausgezeichnet

Geschichtsstunde in Geschichten. Gesellschaftspanorama. Heimatroman.

Ein Glücksfall, dieser Zufallsfund. Denn Anna Seghers' Roman ist einer, der mich wie wenige seit langem in seinen Bann gezogen und begeistert hat. Warum? - Das will ich versuchen festzuhalten.

Das Buch ist Geschichtsstunde in Geschichten, die gerade dieser Tage, in Zeiten neuer  Rattenfänger, viel mehr Aufmerksamkeit verdient.
Wer durch Serien wie "Babylon" (resp. Volker Kutschers "Nassen Fisch") Interesse gefunden hat an Deutschland in den 20/ 30ern, der wird hier viel Bereicherndes neu erlesen - mit dem Vorzug, dass Seghers Zeitzeugin der Verhältnisse war, die sie beschreibt. Es ist die Stärke der Anna Seghers, Menschen und Orte, Handlungen und Gedanken aus der Nähe, mit Sympathie, doch ohne Sentimentalität, zu beschreiben, und so den Leser mitzunehmen in die Nacht, die hereinbrach über Deutschland.

Die Eingangsszene, die Ermordung eines jungen Spartakuskämpfers im Grunewald, sie setzt den Ton und die Stimmung: Dicht, intensiv, hochpolitisch und zutiefst menschlich. Deutschland im Jahr 1919, seine Menschen, ihre Gedanken: Sie sind das Thema von Anna Seghers, die in diesem Roman präzise, einfühlsam, um Verstehen bemüht, der Frage nachspürt: Wie wurde Hitler möglich, wie der Krieg, die Gewalt und die Toten? Und: Wer werden die Hoffnungsträger sein, die die Zukunft Deutschlands gestalten können?

Das zeitliche Gerüst ihrer Geschichten, unserer Geschichte, bilden die politischen Ereignisse der Zeit - während der Weimarer Republik, dann nach der Machtergreifung Hitlers bis hinein in den Krieg. Sie spielen vor allem in Deutschland, doch auch in Frankreich, dem Baltikum und der Ukraine; ein Teil gar in China.

Die Handlung des Romans, sie ist bereits an anderen Stellen mehr oder weniger genau umrissen: Ausgehend von der Mordtat im Grunewald, erzählt sie in mehreren parallelen Handlungssträngen die Geschichten von Menschen der unterschiedlichsten Milieus - rheinischer Industrieller, einer Potsdamer Offiziersfamilie, baltendeutscher Emigranten, Berliner Arbeiter - für die nach dem verlorenen ersten Krieg und den schwierigen Jahren in der Weimarer Republik der Nationalsozialimus die Lösung, das kleinere Übel oder ein schlichtweg unüberwindlicher Gegner ist, der, einmal an der Macht, durch rücksichtlosen Terror und seine anfänglichen politischen Erfolge alle Zweifler und Gegner verstummen lässt.

So offensichtlich Seghers versucht, ein Abbild der Gesellschaft ihrer Zeit zu re-konstruieren, mit Repräsentanten für die verschiedenen prägenden Milieus, gelingt es ihr doch in beeindruckender Weise, ihre Figuren als Menschen aus Fleisch und Blut, mit Eigenleben, zu zeichnen. Seghers verurteilt ihre Figuren nicht. Sie spürt ihrem Leben nach. Sie schildert sie in ihrer Zeit. Und die war, anders als vielleicht zu vermuten steht, keine Zeit für Helden. Die interessantesten Figuren, das sind die, die die Widersprüche ihrer Zeit ahnen und darin zu leben versuchen, darunter viele Frauen.

Doch sind es auch die, je nachdem anheimelnden oder auch unerbittlichen, jedenfalls stets präzisen, oft ergreifenden Beschreibungen von Orten und Handlungen.

Eine Lehre aus Seghers Werk: Das Unheil, es tarnt sich, bleibt lange unsichtbar für seine Zeitgenossen und behält für seine Anhänger, selbst wenn es längst seine Fratze zeigt, doch immer einen guten Grund. Tragischer noch: Selbst die, die versuchen, sich dem zu widersetzen, verlieren in den dunklen Zeiten die Aussicht, ihrem inneren Kompass zu folgen, wenn sie ihn nicht verlieren. Es wird ersichtlich, was gemeint ist, wenn heute von der "Gnade der späten Geburt" die Rede ist.

Eine ganze Generation, eine ganze Nation, all ihr Gutes, Wahres, Schönes, es vergeht in der Katastrophe, die heraufbeschworen wurde durch falsche Hoffnungen, verletzten Stolz, aber auch Angst, Opportunismus oder die Einsicht, nur um den Preis des eigenen Lebens sich dem Wahnsinn entziehen zu können. Ein Drama.