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Volker M.

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Insgesamt 415 Bewertungen
Bewertung vom 20.11.2024
60 Jahre Wildlife Fotografien des Jahres
Kidman Cox, Rosamund

60 Jahre Wildlife Fotografien des Jahres


ausgezeichnet

Seit nunmehr 60 Jahren kürt das renommierte BBC Wildlife Magazine den Wildlife Photographer of the Year und in diesen 60 Jahren hat sich die Auszeichnung tatsächlich zu einem weltweit anerkannten Prädikat entwickelt. Es hat so manche Karriere überhaupt erst möglich gemacht.

Der Bildband zeigt insgesamt 230 Fotografien aus den unterschiedlichen Wettbewerbskategorien, wobei zwei grundlegende Konzepte erkennbar werden: Die dokumentarische Fotografie und die ästhetische Fotografie, bei der die künstlerische Aussage die inhaltliche überwiegt. Letzter Aspekt ist eine eher neue Entwicklung, die sich vor allem aus den heute ungleich besseren technischen Möglichkeiten der Fotografie speist. Während die Fotos der Frühphase heute jeder normal begabte Fotograf hinbekommt, sind die aktuellen Siegerfotos oftmals Hightechprodukte, die mit teilweise aberwitzigem Aufwand realisiert werden. Das Schöne ist: Man sieht ihnen den Aufwand nicht an.

Zu jedem Foto bekommt man interessante Hintergrundinformationen, neben den genannten technischen Finessen auch den Ort und meist auch ökologische Details. Oft haben sich die Fotografen auch zur künstlerischen Absicht geäußert, oder die Strapazen geschildert, unter denen die Aufnahmen entstanden. Aber nicht alle Motive stammen von fernen Kontinenten, manchmal findet man sie auch vor der Haustüre und nicht alle Wettbewerbssieger waren Vollprofis, sondern haben hier als Amateure angefangen. Berühmt wurden ihre Fotos in jedem Fall, denn der Wettbewerb setzt bis heute Maßstäbe (letzte Woche gab es die neuen Preisträger. Wieder sensationell!).

Leider zeigen nicht alle Motive die heile Tierwelt, sondern in zunehmendem Maß auch, was die überbevölkerte Menschheit dem Planeten antut. Das gehört dann in die Kategorie Dokumentarfotografie, selbst wenn einzelne Bilder auch das schlimmste Drama noch in ästhetische Formen bringen.

Neben dem visuellen Genuss zeigen die Fotos sehr deutlich, dass sie das Produkt von enorm viel Arbeit, Leidensfähigkeit, technischem Können (und Equipment) und immer auch dem gewissen Zufall sind. Es kommt letztlich auf die richtige Tausendstelsekunde an.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.11.2024
Augusta Emerita
Eger, Christoph

Augusta Emerita


ausgezeichnet

Augusta Emerita ist im allgemeinen Bewusstsein nicht sehr präsent, zumindest weit weniger als andere römische Ruinenstädte von ähnlicher Bedeutung. Die Stadt, das heutige Mérida, liegt in der touristisch weniger erschlossenen Region Extremadura, weitab von den in der Antike wichtigen Handelshäfen am Mittelmeer. Trotzdem war der Ort bereits um die Zeitenwende Hauptstadt der Provinz Lusitania und führt seinen Namen auf den Stadtgründer Augustus zurück. Warum aber setzten die Römer eine (für die damalige Zeit) Großstadt mitten ins Hinterland, mit Arena, Theater, einem repräsentativen Forum und zahlreichen Großtempeln?
Das ist eine der Fragen, die der umfassende Band zu beantworten sucht, auf der Basis neuester Erkenntnisse der Archäologie und verfasst von den ausgewiesenen Experten zum Thema. Sie beleuchten sowohl die Entdeckungsgeschichte, die bis heute andauert und immer noch für Überraschungen sorgt, als auch die Entwicklungsgeschichte der antiken Stadt, die mehrere Phasen durchlief. Ähnlich wie Rom, ging mit dem Ende des Römischen Reichs zwar die technologische Infrastruktur zugrunde, die Bauten und Teile der Bevölkerung blieben aber und nutzten die Baustoffe, um die heutige Stadt Mérida zu errichten, wodurch sie eine außergewöhnlich große Zahl an Spolien besitzt, also wiederverwendeter antiker Bauelemente. In Verbindung mit den erhaltenen Inschriften erlauben sie detailreiche Rekonstruktionen und interessante historische Schlüsse. Digitale Rekonstruktionen sind auch die Highlights der vorliegenden Monografie, die in Zusammenarbeit zwischen dem Museo Nacional de Arte Romana und dem Landschaftsverband Rheinland (der bezeichnenderweise den Archäologiepark Xanten betreut) herausgegeben wird.

Auffällig ist die sehr gut koordinierte Abstimmung zwischen den einzelnen Autoren der Beiträge, die einerseits systematisch vorgehen, andererseits auf inhaltliche Wiederholungen soweit möglich verzichten. So ist der Band nicht nur umfangreich, sondern auch enorm informativ. Er geht ins Detail und verliert dennoch nicht die große Linie aus dem Auge, was bei einer Gemeinschaftsarbeit auf diesem Niveau eher selten ist.
Einzelbeiträge untersuchen die Groß- und Kleinplastik der Augusta Emerita, unter besonderer Berücksichtigung der handwerklichen Provenienz, sowie die antike Münzstätte und deren Produkte. Ebenso werden die imperialen Großbauten auf der Grundlage aktueller Forschung beschrieben, sowie einige repräsentative Wohnkomplexe, die teilweise sehr gut erhaltene Raumdekore zeigen. Als Beispiel für die frühchristliche Besiedlung dient das Pilgerzentrum der Heiligen Eulalia vor den Toren der antiken Stadtmauer, das ab den 1990er-Jahren archäologisch erschlossen wurde und kürzlich sogar eine bisher anekdotische Überlieferung der Kirchengeschichte bestätigte. Einzelbeschreibungen bedeutender neuerer Einzelfunde und ein ausführlicher Beitrag zu den frühislamischen Fundstätten Morería und Alcazaba schließen den Band ab.

Die Texte richten sich sowohl an ein Fachpublikum als auch interessierte Laien. Archäologische und architektonische Fachsprache wird zwar vorausgesetzt, sie ist aber in der Regel auch aus dem Kontext verständlich. Die zahlreichen Illustrationen, insbesondere die hervorragenden 3D-Rekonstruktionen, unterstützen das Verständnis, auch ohne dass man die Örtlichkeiten persönlich kennt. So entsteht ein sehr komplexes, aber auch faszinierendes Bild einer Stadt, die nicht zufällig viel Ähnlichkeit mit Xanthen hat. Die römische Modellstadt wurde in der ganzen Antike immer wieder erfolgreich kopiert. Und natürlich hatte die vermeintlich abgeschiedene Lokalität in der Extremadura strategische und logistische Gründe. Die Römer überließen eben nichts dem Zufall.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.11.2024
Das Ende des Chinesischen Traums
Sahay, Lea

Das Ende des Chinesischen Traums


ausgezeichnet

Nachdem ich kürzlich ein fürchterliches Buch des sogenannten „China-Experten“ Frank Sieren gelesen habe, dem die chinesische KP erkennbar die Feder führte, traut sich Lea Sahay das auszusprechen, was in China niemand mehr aussprechen darf: Xi Jinping hat sein Land mit diktatorischen Vollmachten in den Griff bekommen und säubert derzeit sowohl die Partei als auch die Wirtschaft von allen Subjekten, die ihm gefährlich werden können. Ein Personenkult, wie man ihn seit Mao nicht mehr kannte, ist da nur das sichtbare Zeichen des schleichenden Freiheitsverlusts.

Lea Sahay lebt als Korrespondentin in Beijing und hat die Coronakrise in China am eigenen Leib miterlebt, mit allen furchtbaren Konsequenzen für die Bevölkerung. Es war Xi Jinpings Testlauf für die totale Unterdrückung und der Test hat funktioniert. Alle Bewohner der Stadt mussten sich selber internieren, ohne Rücksicht auf Notfälle. Sahay wurde selber Opfer, als ihr Sohn schwer erkrankte und nicht behandelt wurde, bis ein PCR-Test vorlag. Da war das Kind bereits in lebensbedrohlichem Zustand. Man merkt der Autorin an, wie sie dieses Erlebnis traumatisierte. Aber auch die Veränderungen in der Gesellschaft hat sie miterlebt und dokumentiert. Menschen, die noch vor wenigen Jahren auskunftsfreudig und offen waren, sind heute eingeschüchtert und bleiben betont unpolitisch. Die immense Jugendarbeitslosigkeit entwickelt sich ebenfalls zu einem massiven Problem, das den Chinesischen Traum von Wohlstand und (relativer) Freiheit platzen lässt. Sahay erkennt auch, dass diese Generation verloren geht, denn sie kannte einerseits die Freiheiten und Perspektiven früherer Jahre, kann sie aber selber nicht mehr nutzen. Es staut sich gesellschaftlicher Frust auf, der kein Ventil mehr hat, sich aber unweigerlich irgendwann entladen wird.
Trotz perfektioniertem Überwachungsstaat, trotz Gulags für Abweichler, trotz Gleichschaltung der öffentlichen Meinung, ist dieses China auf dem Weg ins Abseits. In der Bevölkerung hat sich, gesteuert durch die Staatsmedien, ein extremer Nationalismus etabliert, mit dem Westen als Feindbild. Ob es Xi noch gelingt, Taiwan zu überfallen, wie er es in seinem Masterplan bis 2050 befohlen hat, lässt sich noch nicht sagen, aber die Tatsache, dass man bei innenpolitischen Problemen gerne einen Krieg anfängt, ist diktatorisches Grundwissen. Das lässt nichts Gutes erahnen.

Bücher wie dieses sind rar geworden, denn Chinas Einfluss reicht mittlerweile bis in die Köpfe von Journalisten, die sich ihre Gesinnung abkaufen lassen. Lea Sahay erlebt gerade am eigenen Leib (und dem ihrer Familie) Chinas Weg in die Dunkelheit und traut sich als eine der Wenigen, offen darüber zu sprechen, etwas, das ihren chinesischen Freunde verwehrt ist. Hoffentlich darf sie noch lange berichten, ohne dass auch sie Konsequenzen zu spüren bekommt.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.11.2024
Lucky Luke 102
Achdé;Jul

Lucky Luke 102


ausgezeichnet

Worauf gründet die amerikanische Zivilisation? Auf Bier! Kein Präriestädtchen ohne Saloon, Bier schweißt die Gesellschaft zusammen und ist auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. In Milwaukee gibt es die größte Ansammlung von Brauereien der USA, ja sogar die größte Brauerei der Welt steht hier und ausgerechnet jetzt sind die Arbeiter seit Wochen im Streik. Die Saloons laufen im ganzen Land trocken, mit fürchterlichen Entzugserscheinungen für die an steten Nachschub gewöhnten Kunden. Da kann nur einer helfen, der neuerdings rauchentwöhnte Cowboy mit dem schnellen Schießeisen. Lucky Luke soll zwischen Arbeitern und Brauereibesitzer Martz vermitteln, aber die Fronten sind verhärtet. Erst als die Daltons als Streikbrecher in Martz Fabrik eingesetzt werden, kommt unerwartet Bewegung in die Sache.

„Letzte Runde für die Daltons“ spielt mit dem Klischee der deutschen Immigranten in den USA und nimmt liebevoll Eigenarten und auch historische Personen auf die Schippe. Sei es die deutsche Obrigkeitshörigkeit, der Hang zu sozialistischem Gedankengut und deftigem Essen, der sprichwörtliche Fleiß oder die Liebe zu den Farben Schwarz, Rot und Gold: Jul und Achdé haben ihre originelle Geschichte mit so viel Liebe zum Detail gestrickt, dass das Lesen richtig Spaß macht. Und die Gags zünden! Nicht nur das, sondern man lernt auch noch ordentlich was dazu. Eine ganze Reihe bekannter Persönlichkeiten oder heute noch berühmter Marken haben deutsche Wurzeln und das endet zum Glück nicht bei Donald Trump. Dass Achdé den Morris-Stil mittlerweile dermaßen perfekt drauf hat, dass man ihn vom Meister kaum noch unterscheiden kann, hat sich ja rumgesprochen, aber auch die Ideen von Texter Jul reichen an die besten Lucky-Luke-Zeiten heran. Das Team hat sich wirklich eingespielt und während der Generationenübergang bei Comic-Reihen nicht überall geglückt ist, würde ich das bei Achdé/Jul bedenkenlos unterschreiben. Flott erzählt, wirklich originell ausgedacht, super recherchiert und perfekt ins Bild gesetzt. Das war sicher noch lange nicht die letzte Runde.

(Der Comic wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.11.2024
Mushi-Shi - Volume 3 LTD

Mushi-Shi - Volume 3 LTD


ausgezeichnet

Ginko ist ein Mushi-Shi im alten Japan, ein Seher, der sich auf die Austreibung von Geistern spezialisiert hat. Mushi sind für die meisten Menschen unsichtbar und sie leben in der Regel getrennt von der Menschenwelt. Wenn es aber zu Kontakten kommt, ist das für den Besessenen oft gefährlich, denn die Mushi können Gedanken und Verhalten beeinflussen und ihre Absichten sind oft undurchschaubar. Ginko streift durch das ganze Land, auf der Suche nach besessenen Menschen, denen er helfen kann.

Ich kenne bereits die älteren Staffeln und bin auch von der dritten begeistert. Die Motive der Episoden finden sich in vielen klassischen japanischen Geistergeschichten wieder, die im Gegensatz zu westlichen oft kein Happy-End haben. In Japan gehört der Tod auch viel mehr zum Leben als bei uns. Die Mushi „befallen“ in der Regel Menschen, die sich in einer Krisensituation befinden und damit aufnahmefähig für die Geistwesen werden. Die moderne Medizin würde das wahrscheinlich als Depression oder Psychose bezeichnen, das alte Japan nannte es eben Mushi. Alle Episoden sind autark und bauen nicht auf irgendeinem Vorwissen auf, so dass man überall einsteigen kann. Man muss auch die Vorgänger Blu-rays nicht kennen.

Obwohl die Episoden nur etwa 25 Minuten lang sind, lassen sie sich viel Zeit, um die geheimnisvolle Atmosphäre auf den Zuschauer wirken zu lassen. Im klassischen Ghibli-Stil verschwimmen Phantasie und Realität, wobei das Erzählschema immer gleich ist: Ginko trifft auf Menschen, die von Mushi heimgesucht werden, er erfährt die schicksalhafte Geschichte und trennt die Mushi wieder von der Menschenwelt. Typisch für japanische Märchen ist, dass die Hauptperson am Ende oft stirbt und dass auch nicht notwendigerweise alle Erzählfäden einen Schluss finden. Hier sterben manchmal auch Kinder, was im westlichen Filmbusiness als absolutes No-go gilt. Ein offenes Ende ist übrigens in japanischen Geschichten eher die Regel als die Ausnahme, aber das macht auch einen besonderen Reiz aus. Die Unbestimmtheit lässt dem Zuschauer deutlich mehr gedanklichen Raum als ein simples Happy End.

Mir hat die sehr authentische Atmosphäre und das Erzähltempo der typisch japanischen Motive ausgesprochen gut gefallen und ich habe mich sehr gewundert, dass die Serie in Japan bereits 2006 abgeschlossen war. Da ist uns 20 Jahre lang wirklich etwas entgangen.

Das Fanposter lässt sich wegen der Knickfalten leider nicht gut aufhängen.

(Die Blu-ray wurde mir von Polyband kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.11.2024
Alexandre Morvan
Morvan, Alexandre

Alexandre Morvan


ausgezeichnet

Bevor ich das Vorwort las, habe ich den Band zuerst einmal durchgeblättert, wie ich das immer mache. Der erste Eindruck ist wichtig. Und mein erster Eindruck war: Ja, das ist Japan, wie ich es kenne. Der zweite Eindruck war weniger eindeutig, denn irgendetwas stimmte nicht mit diesen Bildern. Die Erkenntnis tröpfelte langsam ins Bewusstsein, was da störte: Die leeren Straßen und Bürgersteige, die Abwesenheit von Menschen und das zu einer der turbulentesten Jahreszeiten in Japan, der Kirschblüte. Dann sitzen normalerweise ganze Familien oder auch Arbeitskollegen zu Tausenden unter den rosafarbenen Bäumen, aus denen es ununterbrochen Blütenblätter regnet und feiern das Fest der Vergänglichkeit. Hanami, die Blütenschau, ist ein nationales Ereignis. Nur nicht bei Alexandre Morvan.

Das Vorwort klärt auf. Die Bilder entstanden während der ersten Wochen des Covid Lockdowns, wobei es in Japan nie einen offiziellen Lockdown gab (außer für Ausländer, die zwei Jahre lang nicht mehr ins Land durften). Masken trugen Kranke immer schon, nicht zum Selbstschutz, sondern um andere nicht anzustecken, so dass diese allein kein Hinweis auf eine außergewöhnliche Situation waren. Eine „Empfehlung“ der Regierung hat in Japan fast Gesetzescharakter, wodurch auch das Social Distancing auf freiwilliger Basis sehr konsequent umgesetzt wurde. Während bei uns das Tragen einer Schutzmaske als „die schlimmste Einschränkung der Bürgerrechte seit dem zweiten Weltkrieg“ tituliert wurde, ging das in Japan geräuschlos und natürlich mit weit weniger Opfern über die Bühne.

Morvan war im März/April 2020 in Japan, kurz bevor die Grenzen schlossen, und die wenigen Personen in seinen Fotos blicken verstört in eine ungewisse Zukunft. Sie zeigen ausschließlich junge Menschen, die von den Konsequenzen besonders betroffen waren und das leicht dystopische Gefühl wird noch unterstützt durch Bilder des latenten Verfalls, der in japanischen Städten an vielen Stellen sichtbar ist. Die Gesellschaft altert mittlerweile schneller als sie die Infrastruktur in Schuss halten kann und so mischen sich Technologien und Designs der letzten 50 Jahre zu einem typisch japanischen Konglomerat. Die einsamen Straßen und Plätze wirken da fast schon wie Prophetie.

„Cherry Trees“ zeigt ein Land in Verunsicherung, mit der die Japaner aber seit jeher umgehen können: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Taifune oder Tsunamis. Und jetzt eben Covid. Alexandre Morvan hat den Hauch der Apokalypse wahrscheinlich deutlicher gespürt als die Japaner im eigenen Land, denn für sie war die Pandemie letztlich nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Natur stärker ist als alle menschlichen Bemühungen, sie zu zähmen. Wir werden das sicher auch noch lernen.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.11.2024
Ernst Grosse
Szentivanyi, Helga

Ernst Grosse


weniger gut

Der deutsche Kunstvermittler Ernst Grosse ist tatsächlich nur noch einigen Fachleuten ein Begriff. Er war zwischen 1906 und 1913 in Japan und China als Einkäufer für die neugegründete ostasiatische Abteilung der Berliner Museen unterwegs und auch vorher knüpfte er schon wertvolle Verbindungen zum japanischen Kunstmarkt. Obwohl er wesentlich zum Grundbestand der Sammlung beitrug und auch seine eigene Kollektion dem Museum stiftete, war ihm die meiste Zeit seines Lebens die Anerkennung verwehrt. Das klingt nach einem spannenden Thema, das sich aufzuarbeiten lohnt.

Helga Szentivanyi bemüht sich in ihrem schmalen Band, Ernst Grosse die Bedeutung zurückzugeben, die er wohl hatte, doch gelingt ihr das nur in Ansätzen. Der kurze Text ist inhaltlich sehr fragmentiert und es mangelt ihm erkennbar an klarer Struktur, was zu zahlreichen Wiederholungen führt, die zumindest mir irgendwann lästig wurden. Immer wieder springt die Autorin innerhalb eines Kapitels zu themenfremden Aspekten, die später mehrfach wieder aufgenommen werden. Gleichzeitig ist die Eindringtiefe aber sehr gering. Man erfährt zwar, dass Grosse promovierte, aber nicht, bei wem und über welches Thema. Er wird als Kunsthistoriker bezeichnet, aber aus dem Werdegang wird kaum ersichtlich, woher er diese Qualifikation hatte. Er wird durchgehend als „intuitiver“ Experte bezeichnet, der sich von den „wissenschaftlichen“ Experten bewusst abgrenzt (und von ihnen auch abgelehnt wird). An keiner Stelle wird dagegen die wichtige Frage diskutiert, ob seine intuitiven Werturteile, mit denen er oft in Konflikt mit seinen Auftraggebern geriet, heute noch Bestand haben. Auch der Verbleib der Sammlung, die immerhin zwei Weltkriege überlebt haben muss, bleibt im Dunkeln. Es gibt noch viele weitere Aspekte, die zu untersuchen interessant gewesen wäre, aber die Autorin zitiert stattdessen lieber inhaltsähnliche Passagen aus dem Reisetagebuch, die mehr anekdotischen als weiterführenden Charakter haben.

Dass Szentivanyi den Umstand, dass in europäischen Haushalten Yokohamas japanisches Dienstpersonal angestellt war, in einen kolonialen Kontext stellt, zeigt, wie sehr die postkoloniale Debatte mittlerweile aus dem Ruder gelaufen ist. Zum einen war Dienstpersonal um 1900 im bürgerlichen Umfeld üblich, zum anderen war Japan niemals kolonial besetzt und das japanische Dienstpersonal erhielt im Landesvergleich überdurchschnittliche Löhne (die Beschäftigung in einem ausländischen Haushalt galt als ehrenrührig). Von Kolonialismus ist da keine Spur. Während die Autorin den tatsächlich vorhandenen Rassismus der europäischen Siedler deutlich anprangert, bleibt der japanische rassistische Nationalismus, der gerade in dieser Zeit aufblüht, unerwähnt. Auch das ist mittlerweile eine weitverbreitete Praxis „wissenschaftlicher“ Debatte, die gerne Fakten in eine gewünschte Richtung dreht, indem sie Unerwünschtes ausblendet.

Man kann nicht sagen, dass das Thema kein Potenzial gehabt hätte, aber die Autorin scheitert an der geringen Recherchetiefe und der Oberflächlichkeit, mit der sie ihre Themen bearbeitet. Die Umwälzungen der Meiji-Ära wären ein trefflicher Spiegel gewesen, in dem sich das Ost-West-Verhältnis in vielen Details hätte zeigen lassen, aber all das wird nur angerissen und nicht wirklich ausdiskutiert. Mir ist bis zum Schluss nicht klar geworden, was Ernst Grosse aus heutiger Sicht geleistet hat, außer dass er sich fast bis zur Selbstzerstörung engagierte und ein im besten Sinn Japanophiler war. Dass die Quellen wirklich nur so spärlich sind, wie es das sehr kurze Literaturverzeichnis suggeriert, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.11.2024
Besuch aus der Schattenwelt

Besuch aus der Schattenwelt


ausgezeichnet

Sammlungen von Gruselgeschichten gibt es immer wieder und ich bin ein Fan davon, seit ich lesen kann. „Besuch aus dem Schattenreich“ ist eine besonders gelungene Mischung aus echten Klassikern und neuen Entdeckungen, wobei „neu“ nicht heißt, dass die Texte wirklich neu sind. Bis auf einen haben alle Autoren das Schattenreich bereits selber betreten, ohne dass ihre Werke in irgendeiner Weise altmodisch geworden wären. Der älteste Text erschien bereits 1820 und ich kannte zwar die Geschichte, aber bisher nur als Film: „Sleepy Hollow“ hat sich dann aber als eine echte Entdeckung erwiesen, denn Washington Irving schreibt dermaßen witzig und originell, dass ich mir sofort einen antiquarischen Band mit seinen Kurzgeschichten zugelegt habe. „Sleepy Hollow“ ist aber auch genial übersetzt!
Die anderen Geschichten zeichnen sich ebenfalls durch abwechslungsreiche Ideen, literarische Herangehensweisen und überraschende Wendungen aus, so dass die Zusammenstellung nirgendwo Durchhänger hat. Zu den ausgewählten Autoren gehören u. a. H. P. Lovecraft, Edgar Allan Poe, Ambrose Bierce und Edith Wharton. Die verstehen alle ihr Handwerk.

Besonders erfreulich war, dass ich tatsächlich nur zwei Geschichten aus anderen Büchern kannte, alles andere war neu für mich. Und die zwei habe ich gerne nochmal gelesen.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.11.2024
Kimono
Atkins, Jaqueline

Kimono


ausgezeichnet

Kimono gehören zur japanischen Kultur wie Kalligrafie und Teezeremonie. Zu offiziellen Veranstaltungen werden sie noch heute getragen, von Männern wie Frauen, auch wenn ihre Bedeutung mit jeder neuen Generation schwindet. Nasser David Khalili besitzt nach eigenen Angaben eine der größten Kimonosammlungen der Welt, in Teilen bereits 2015 publiziert, die einen besonderen Fokus auf die sogenannten „omoshirogara“ Textilien legt. „Omoshirogara“ zeigen programmatische Motive, die oft auch der zeitgenössischen Populärkultur entstammen und die ab dem Ende der Meiji-Ära weite Verbreitung fanden. Zusammen mit neuen Textildruckverfahren begleiteten sie auf ihre Weise den gesellschaftlichen Umbruch.

Die Kuratorin Jaqueline M. Atkins erläutert in ihrem kenntnisreichen Essay die historischen Wurzeln und besonderen kulturellen Hintergründe des omoshirogara-Kimonos, bevor im anschließenden Katalog die Exponate im Detail vorgestellt werden.
Verschiedene Druck- und Webtechniken imitieren zunächst aufwändige traditionelle Textilien, die sie in gewissem Maße demokratisieren. Bald verlieren sie die Aura des hohen Sozialstatus und werden zu Massenprodukten, die von Frauen, Männern und Kindern getragen werden. Hervorzuheben ist, dass insbesondere der Männer-Kimono und dessen Begleittextilien ihre „Wirkung“ im Verborgenen entfalteten, denn die Außenseite der Kleidung war (und ist) üblicherweise dunkelbraun oder schwarz. Statements gab man mit den aufwändig verarbeiteten Innenfuttern ab, die aber nur im geschützten Umfeld gezeigt wurden. Anders dagegen die Kimonos von Frauen und Kindern, die ihre Motive öffentlich präsentierten.

Die Sammlung umfasst Beispiele zwischen 1910 und den frühen Nachkriegsjahren, mit einem Schwerpunkt auf den Zwanziger- und Dreißigerjahren, als der Kimono auch zunehmend Plakatfläche für nationalistische und militaristische Botschaften wurde. In dieser Konsequenz gibt es das tatsächlich nur in Japan. Überraschenderweise zeigen die Motive aber nicht nur Panzer und Flugzeuge, sondern auch Elemente japanischer und sogar amerikanischer Popkultur: Mickey Mouse und westliche Luxuskreuzschiffe signalisierten die Weltgewandtheit des Trägers nach außen.

Verwundert hat mich die eingeschränkte Farbpalette der Dekore, die oft auf Braun- und Grautönen basierten, was Atkins mit traditionellen Sehgewohnheiten erklärt. Männerkimonos reduzierten sich in der Vergangenheit bereits auf gedeckte Töne, leuchtende Farben gab es nur bei Frauenkimonos, die aber nach heutigen Maßstäben auch nicht übermäßig bunt erscheinen. Es sind die Motive, die in einzigartiger Weise die Aufbruchstimmung der Meiji-Ära vermitteln, zunächst in einer Vermischung westlicher und asiatischer Elemente, wie sie in dieser Phase der japanischen Geschichte typisch ist. Mit zunehmender Militarisierung der Gesellschaft werden die Motive dann nationalistischer und dienen sowohl der Volkserziehung als auch zur Demonstration der eigenen Gesinnung.

Die Sammlung ist historisch hoch interessant und beleuchtet einen bedeutenden gesellschaftlichen Aspekt, der hier im Westen kaum bekannt ist. Hier wie dort war Kleidung aber immer schon ein Element der Gruppenzugehörigkeit und sendete Botschaften, die die Empfänger in ihrer Zeit lesen konnten und auch verstanden.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.10.2024
Künstliche Intelligenz
Strümke, Inga

Künstliche Intelligenz


ausgezeichnet

Wird uns die Künstliche Intelligenz (KI) in Zukunft wirklich helfen oder haben wir die Büchse der Pandora geöffnet? Inga Strümke, Professorin für KI und maschinelles Lernen, ist da durchaus zwiegespalten. Sie sieht zwar Chancen, aber auch erhebliche Risiken in dieser Technologie, wenn sie nicht staatlich reguliert wird. In ihrem Buch erklärt sie, wie KI funktioniert, was sie heute kann (und was nicht) und welche Auswirkungen KI heute und in Zukunft auf uns haben wird. Mit ihrer verständlichen, lebendigen Sprache und ihrer sachlich differenzierten Herangehensweise gelingt es der Autorin, sowohl Einsteiger, die noch nicht viel über KI wissen, anzusprechen, als auch den fortgeschrittenen Leser zu fesseln. Nicht umsonst ist das Buch in Strümkes Wahlheimat Norwegen zum Bestseller geworden.

Mit der Dreiteilung der KI in gestern, heute und morgen legt die Autorin die Grundstruktur des Buches fest. Sie erläutert die Entwicklungsstufen der KI, angefangen von Algorithmen, über Expertensysteme bis hin zu neuronalen Netzen und ihrem eigenen Forschungsschwerpunkt maschinelles Lernen. Dazu gehören auch Sprachmodelle wie ChatGPT.

Die Grundlage des maschinellen Lernens (oder präziser des überwachten Lernens) sind die Daten. Wenn die Daten die tatsächliche Verteilung nicht gut repräsentieren, erhält man ein Modell, das schlecht funktioniert und im schlimmsten Fall Schaden anrichten kann. Modelle des maschinellen Lernens wissen nicht, ob sie repräsentative Daten erhalten haben und genau darin, so Strümke, liegt das Problem und die Gefahr solcher Modelle. Sobald mit ChatGPT o.ä. generierte Texte wieder als Trainingsgrundlage verwendet werden, ist das System selbstreferenziell und wird über kurz oder lang unbrauchbar. Wer verhindert das? Strümke spricht viele solcher Probleme an und befürchtet, dass „die KI-Systeme, die wir heute entwickeln, unheimlicher werden können als Killerroboter“. Diese Diskussionen müssen geführt werden und sollten sich mit der Regulierung der Technologie und dem Teilen von Daten befassen. Aus ihrer Sicht ist der Anfang mit dem KI-Gesetz der EU gemacht, aber es hat seine Feuerprobe noch nicht bestanden. Wenn wir die Verantwortung für die Grundlagenforschung kommerziellen Technologieunternehmen wie Google, Meta und Microsoft überlassen, die dann große Fortschritte machen und potentiell eine allgemeine künstliche Intelligenz entwickeln können, entscheiden wir uns de facto dafür, dass sich die Technologie ohne unsere Kontrolle entwickelt – resümiert Strümke.

Die Autorin holt Leser mit unterschiedlichem Wissensstand ab und bringt sie auf einen einheitlichen Kenntnisstand, um dann die Chancen und Risiken der Technologie zu diskutieren. Ich habe schon einige Bücher über KI gelesen, aber die meisten waren entweder zu oberflächlich, zu technisch oder zu einseitig in der Bewertung. Auf rund 270 Seiten gelingt es Strümke, eine hochaktuelle und sehr ausgewogene Sicht auf das Thema einzunehmen – verständlich, kurzweilig und einprägsam. Selbst trockene Themen wie die KI-Ethik hat sie für mich spannend und nachvollziehbar aufbereitet.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.