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buch_akzente

Bewertungen

Insgesamt 8 Bewertungen
Bewertung vom 10.01.2025
Der fliegende Berg
Ransmayr, Christoph

Der fliegende Berg


ausgezeichnet

Oh Mann, ich finde kaum Worte, um zu beschreiben, was dieses Buch mit mir gemacht hat. Es beinhaltet das, was ich in Büchern suche: eine Einheit von Sprache, Form und Inhalt in ihrer schönsten Version ♥️.

Dieser Bücherschrankfund ist für mich eine absolute Überraschung. Schon nach wenigen Seiten stellte ich fest, wie gut der im Flattersatz geschriebene Text zu lesen war. Es entstand eine Art Rhythmus, der mich immer weiter lesen ließ und die Welt um mich herum ausschaltete. Und gleich der erste Satz haute mich aus den Socken:“Ich starb 6840 m über dem Meeresspiegel am 04. Mai im Jahr des Pferdes.“ Doch Liam, der Bruder des Ich-Erzählers Gereint, findet ihn in letzter Sekunde und holt ihn mit seiner Stimme zurück. Nur zwei Tage später wird der Retter von einer Lawine erfasst. So startet der Roman, aus der Zukunft erzählt, um uns anschließend an der Vorgeschichte teilhaben zu lassen. Rückblicke auf die Kindheit und Jugend der Brüder an der Küste des Atlantiks sind geprägt durch den Weggang der Mutter mit ihrem Geliebten und die regelmäßigen Kletterausflüge in die nahen Berge mit dem gebrochenen Vater. Durch das Teilhaben an den Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen des Ich-Erzählers kam ich ihm sehr nahe. Ich fühlte und fieberte mit ihm und bangte um ihn. Genauso gewährt uns Gereint Einblicke in die Zukunft, in die Zeit, aus der er uns die Geschichte erzählt. Die Zeit, in der er alles ordnet, sowohl in der realen Welt, als auch in seinem Kopf und in der er eine Entscheidung fällt, die sein ganzes Leben verändern wird.

Durch die Wortgewalt des Autors erstand vor meinem inneren Auge eine Bergwelt von unbeschreiblicher, ehrfurchtsgebietender Schönheit und Erhabenheit, aber auch voller unberechenbarer Gefahren. Ein Nomadenstamm, auf ihrem Weg mit ihren Yaks in die Hochtäler, nimmt die Brüder auf. Sie sind vollkommen unterschiedlich. Liam ist homosexuell, lebt fast wie ein Eremit und ist ein Alleskönner, ein Vorreiter. Gereint ist eher unsicher, mag es aber, unter Menschen zu sein. Er traut sich nicht viel zu und steht im Schatten seines Bruders.

Wir erfahren, wie die Nomaden leben (auch durch die Stimme von Nyema, in die Gereint sich verliebt), und zwar in Einheit mit der Natur, ohne sie bezwingen zu wollen. Zwischen ihnen und der gewaltigen Bergwelt des Transhimmalayas besteht eine spirituelle Verbindung, die buddhistisch geprägt ist. Und so bekommen die Brüder die Chance, diese Welt zu verstehen und dadurch zu sich selbst zu finden.

Die Schönheit der Sprache in ihrer Einheit mit Versmaß und Textinhalt hat mich tief berührt, mit Höhepunkten bei den Beschreibungen der archaischen Bergwelt, der traumgleichen Besteigungen der Berge und des spirituellen, naturnahen Lebens der Nomaden. Das erste, wie auch das letzte Kapitel las ich bereits mehrmals, wie auch einige Verse zwischendurch und doch war der Sog weiterhin spürbar.

Während ich las, fühlte ich mich an einen meiner Lieblingsfilme erinnert, 'Und in der Mitte entspringt ein Fluss' mit Brad Pitt. Auch dies ist eine Geschichte über zwei Brüder, von denen einer stirbt. Es herrscht überwiegend die gleiche Atmosphäre, wie in der hier besprochenen Geschichte, die durchdrungen ist von ambivalenten Gefühlen zwischen zwei Brüdern, von der Suche nach sich selbst, Liebe und Tod und von der Erhabenheit und Schönheit der Natur.

Für mich ein Lebenshighlight! Ich sage nur lesen. lesen, lesen!!!

Bewertung vom 10.01.2025
Mann vom Meer
Weidermann, Volker

Mann vom Meer


ausgezeichnet

Eine ganz andere Biografie, zusammengehalten von einem roten Faden, Thomas Manns Liebe zum Meer.

Geschickt beginnt der Autor mit der tragischen Kindheit (ab dem 6. Lebensjahr) von Manns Mutter Julia da Silva-Bruhns, die ihre ersten Lebensjahre an Brasiliens traumhaft schöner Küste verbrachte. Nach Weidermanns Interpretation legte diese Zeit den Samen für die Liebe zum Meer, die sie an ihren zweitgeborenen Sohn Thomas weitergab.
Wir erfahren, dass Manns Figuren in seinen Werken stets einen Bezug zu seinem Leben haben und wie er seine Erfahrungen, Gefühle, Ängste und Gedanken, wie auch die seiner Mitmenschen in seinen Schriften aufleben lässt. Dabei spielt das Meer, seine Liebe zu ihm und die Gefühle und Sehnsüchte, die es in ihm auslöst, immer wieder eine große Rolle. Wir bekommen Einblicke in das Korsett der gesellschaftlichen Konventionen der damaligen Zeit, seine Auswirkungen auf Thomas und seine Familienmitglieder und wie sich manche von ihm befreien. Wir folgen Thomas Mann chronologisch anhand seiner Werke von Lübeck nach München, auf der Flucht vor den Nazis in die Schweiz und zu Beginn des zweiten Weltkriegs ins Exil, in die USA. Später lässt er sich in der Schweiz nieder. Manns Urlaube am Meer nehmen in seinem Leben und auch in diesem Buch einen besonderen Platz ein.

Manns zweite große Liebe ist seine Tochter Elisabeth. An sie gibt er seine Liebe zum Meer weiter.

Ich bin Thomas Mann durch diese Biografie sehr viel näher gekommen und kann seine von mir gelesenen Werke nun noch besser verstehen. Das Einzige, was ich vielleicht bemängeln könnte (aber das wäre Jammern auf hohem Niveau), wäre, dass ich auch gerne mehr über seine letzten Werke, die Josephsromane, ‚Lotte in Weimar‘ und ‚Doktor Faustus‘ erfahren hätte.

Volker Weidermann brilliert in dieser Biografie wieder mal (auch ‚Ostende‘ war großartig) mit seiner bemerkenswerten, auf den Punkt bringenden, und flüssig zu lesenden Sprache, mit der Konzeption des Buches und mit seinem Wissen.

Diese Biografie ist sehr informativ, ein Lesevergnügen und eine Bereicherung für mein Bücherregal.
Ganz große Leseempfehlung 🧡!!!

Bewertung vom 10.01.2025
Nummer sechs
Olmi, Veronique

Nummer sechs


sehr gut

„Deine Briefe berichten von den Toten, die auf den Schlachtfeldern bleiben, weil niemand sie holt, den Leichen unter freiem Himmel, dem schlechten Gewissen, das die Luft verpestet.
Du hast mit achtzehn auf einem Friedhof ohne Sarg gelebt. Du hast den Tod kennengelernt, bevor du Zeit gehabt hattest zu leben.“

Eine kurze von Sigrid Vagt aus dem Französischen übersetzte Geschichte über eine unerfüllte Liebe.
Fanny, Nachzüglerin und sechstes Kind der Familie Delbast, liebt ihren Vater mit Inbrunst, obwohl er sie nicht zu sehen scheint. Als ihre Mutter stirbt, schöpft sie neue Hoffnung, endlich ein Teil seines Lebens zu werden, denn die große Liebe ihres Vaters steht nun nicht mehr im Weg…

Dies ist eine eindringliche und berührende Geschichte trotz ihrer minimalistischen Sprache. Im Gegenteil, man hat das Gefühl, dass jedes Wort sitzt. Weder zu wenig, noch zu viele Worte, wunderbar poetisch geschrieben, hallen noch lange nach. Veronique Olmi schreibt in der Ich-Form, während der Vater mit ‚du‘ angesprochen wird. Dadurch wirkt das Büchlein, wie an den Vater geschriebene Briefe.
Ich habe es sehr gerne gelesen. Eine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 10.01.2025
Die Optimisten
Makkai, Rebecca

Die Optimisten


ausgezeichnet

Mann oh Mann, was für ein Roman!!!

Der von Bettina Abarbanell ins Deutsche übersetzte Roman spielt auf zwei Zeitebenen, ab 1985 in Chicago und 2015 in Paris. Er nimmt uns mit in die Zeit, als der HIV-Virus in den USA bekannt wurde und die ersten, meist homosexuelle Männer, dahinraffte. Der Hauptprotagonist Yale, ein Kunstexperte und bei einer Galerie angestellt, und Fiona, Schwester von Yales bereits zu Beginn des Buches verstorbenem besten Freund, führen uns durch die damaligen Geschehnisse. In einem zweiten Erzählstrang in dieser Zeit wird die Kunstszene in Chicago beleuchtet und wir erleben mit Yale Höhen und Tiefen bei einem Austellungsprojekt, das ihm sehr am Herzen liegt.
Im Jahr 2015 begleiten wir Fiona bei ihrer Suche nach ihrer Tochter, die vor vielen Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hat....

Die Geschichte hat mich in jedem Moment mitgenommen. Obwohl nicht in der Ich-Form geschrieben, sondern als personaler Erzähler in der dritten Person, folgte ich vor allem Yale auf Schritt und Tritt, quasi als sein unsichtbarer Freund. Ich freute mich und litt mit ihm und ich hatte Angst um ihn. Ich lebte in Chicago. Kurz gesagt, ich war vollkommen in die Welt der Clique von Yale und Fiona integriert. So konnte ich z.B mitempfinden, was es hieß, zu dieser Zeit in Chicago schwul zu sein. Und mir wurden die Augen geöffnet, welchen Ungerechtigkeiten HIV-Infizierte und bereits Erkrankte in den USA augeliefert waren (aber bestimmt nicht nur dort).

Immer wieder wird einem die Frage entgegengeworfen, was die Diskriminierung eines Familienangehörigen und die Trauer um geliebte Brüder, Freunde, Lebenspartner mit den Menschen macht, was für Folgen daraus entstehen und wie weitreichend sie sein können.

Ein Roman, der sehr, sehr lange nachhallt, gefühlvoll, ergreifend, mitreißend und dabei niemals sentimental. Ein Roman über die Liebe, in all ihren Facetten und über die Kraft der Freundschaft.
In meinen Augen ein Meisterwerk! Unbedingt lesen!!!

Bewertung vom 10.01.2025
Reise im Mondlicht
Szerb, Antal

Reise im Mondlicht


sehr gut

'Er hatte das schauderhafte Londoner Klima gemocht, jene nasse, gedunsene, neblige Weichheit, in der man so gut versinken kann und die so getreulich das Alleinsein und den Spleen umfängt.' S. 88

Ich besitze dieses Buch schon seit einigen Jahren. Aber leider hab' ich erst jetzt dazu gegriffen.
Aber erstmal kurz zum Inhalt:
Hauptprotagonist ist Mihaly, in der Fabrik seines Vaters tätig und gerade mit Erzsi verheiratet, die sich hat scheiden lassen, um Mihaly ehelichen zu können. Ihre Hochzeitsreise führt sie nach Italien, beginnend in Venedig. Doch die engen Gassen dieser Stadt, sowie das vermeintlich zufällige Zusammentreffen mit einem Jugendfreund lösen etwas in ihm aus, das er nicht aufhalten kann.

Eine Weile dachte ich, es ginge in dem Buch um die Selbstfindung des Mihaly. Bald darauf schien es mir, als laufe der Protagonist einem Phantom hinterher. Und zwischendurch war mir klar, dass er hochsensibel ist und intensiver fühlt. Oder geht es hier eher um die Bewältigung eines Traumas? Das sind einige Facetten der Geschichte, die einen Teil der Spannung ausmachen bzw. auslösen und die einen immer wieder zum Nachdenken anregen. Dementsprechend ist die Identitätsfindung ein wichtiges Thema dieses Romans, aber es geht auch um das Durchbrechen von Konventionen, um Freundschaft und um die Formen der Liebe. Das Buch setzt sich zusätzlich mit dem Tod auseinander. Was macht es mit uns, wenn wir an ihn denken? Haben wir Angst oder gar Sehnsucht? Und welche Beziehung hat unsere Gesellschaft zum Tod?
Und nebenbei lernen wir das Italien der 30er Jahre kennen, denn irgendwie kommt der Roman wie ein Roadmovie daher, auf eine angenehme und atmosphärische Art und Weise.

Dabei ist der Roman leicht zu lesen, zum Einen durch subtilen Humor, der Mihaly zu einem tragikomischen Helden werden lässt, aber auch sprachlich, denn die Geschichte ist flüssig zu lesen und immer wieder eingestreute, poetische Metaphern erfreuen das Leserherz 😊. Eine klare Leseempfehlung ♥️.

Bewertung vom 10.01.2025
Die Wäscheleinen-Schaukel
Ramadan, Danny

Die Wäscheleinen-Schaukel


sehr gut

‚Ich schenke dir meine Geschichten, bringe dir Bruchstücke meiner Seele als Souvenir, damit du schlafen kannst. Um dich zu unterhalten, krame ich Erinnerungen hervor, die ich sonst nicht zu teilen wage, verfremde sie und lasse sie in Rauch aufgehen. Ich verwandle sie in ein Märchen, so dass sie nicht mehr wiederzuerkennen sind. Du ertappst mich mitten im Satz, du erkennst die Wahrheit hinter meinen Geschichten und ziehst sie zwischen den Zeilen hervor wie verkohlte Fotografien aus der Asche eines Feuers. Meine Erinnerungen sind in Geschichten gekleidet wie eine Tierhaut, doch du entkleidest sie und lenkst meinen Blick darauf. Ihre Wahrheit verhöhnt mich und ich weiß, dass ich mich nicht vor ihr verstecken kann. Ich werde von innen aufgezehrt…‘

Dieser aus dem Englischen von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair übersetzte Roman spielt hauptsächlich im kriegsgeschüttelten Damaskus und im Kanada der nahen Zukunft. Der homosexuelle Ich-Erzähler Danni setzt dabei die einzelnen Episoden seines Lebens, das seiner Freunde und seiner großen Liebe wie ein Mosaik zusammen, springt also in den Zeiten hin und her. Er erzählt die Geschichten größtenteils dem ‚Du‘, seinem geliebten Lebenspartner, der im Sterben liegt. Wir erfahren so von seinen glücklichen Kindertagen vor Kriegsausbruch und seinen traumatischen Erfahrungen, wie das Zusammenleben mit seiner psychisch kranken Mutter, den Auswirkungen der Homophobie auf ihn und seine Freunde, das Erlebte im Kriegsgebiet Syrien, aber auch die Flucht über den Libanon nach Kanada zusammen mit seinem Geliebten. Wir erleben die Formen und Auswirkungen des Krieges und was diese mit Menschen machen.
Aus der Zukunft in Kanada erzählt, spürt man zwischen den Zeilen durchgängig die Liebe zum und die große Trauer um das Fernsein vom Vaterland.

‚Die Wäscheleinen-Schaukel‘ ist ein aufrüttelnder Roman, geschrieben in einer zarten und auch kraftvollen poetischen Sprache, die mich weiterlesen ließ, auch wenn gerade mal eine Pause angebracht gewesen wäre, um das Gelesene, das mich erschütterte, sacken lassen zu können.

Sehr gut gefallen hat mir, dass der Ich-Erzähler dem Tod eine Rolle gibt. Mal hinterhältig, mal mitfühlend begleitet dieser die beiden Liebenden auf ihrem schweren Weg.

Das Buch ist Bildungs-, Gesellschafts- und Kriegsroman, eine zarte Liebesgeschichte, aber vor allen Dingen queere Literatur, für die ich eine große Leseempfehlung ausspreche.

Bewertung vom 10.01.2025
Alle Farben der Welt (eBook, ePUB)
Montanaro, Giovanni

Alle Farben der Welt (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein schmales, poetisches Buch, das mich empört und sprachlos zurückgelassen hat und das ich erstmal sacken lassen musste.

Dieser Bildungs-, Gesellschafts- und Liebesroman ist eine Mischung aus Realität und Fiktion. Die Handlung spielt im flandrischen Geel, eine Stadt, die seit dem Mittelalter ein Zufluchtsort für psychisch kranke Menschen war. Im 19. Jahrhundert lebten die ‚Verrückten‘, wie sie genannt wurden, in den Haushalten der Bürger. Dafür bekamen diese eine monatliche Vergütung. Zu jener Zeit spielt die Geschichte.
Hauptprotagonistin ist die Waise Teresa Ohneruh, deren Mutter eine stadtbekannte ‚Verrückte‘ war. Ihre Pflegefamilie deklariert sie als ‚Verrückte‘, um den monatlichen Ovulus zu erhalten. Auf seiner Wanderschaft kommt der junge, mittellose Vincent Van Gogh durch Geel und logiert eine kurze Zeit bei Teresas Pflegefamilie (Van Gogh war in seinen jungen Jahren wirklich eine kurze Weile in Geel.) So lernt Teresa ihn kennen. Sie erkennt durch seine Zeichnungen und durch Briefe von ihm an seinen Bruder, die sie heimlich liest, sein Talent, seine Leidenschaft und sein wahres Wesen und hilft ihm, die Malerei mit Farben zu entdecken, indem sie ihm Farben und Pinsel besorgt. Sie verliebt sich in ihn trotz seines manchmal seltsamen und unfreundlichen Verhaltens. Doch Van Gogh zieht bald weiter.
Als ein Arzt in die Stadt kommt, um alle ‚Verrückten‘ zu fotografieren, beginnt Teresas Leidensweg…

Zehn Jahre später schreibt sie ihm einen sehr langen Brief, durch welchen wir die Geschichte erfahren. Durch diesen Trick des Autors werden wir zum heimlichen Mitwisser einer erschütternden Geschichte über das Anderssein, über Selbstherrlichkeit, Rechthaberei und Unmenschlichkeit, über die Liebe und ihre Kraft und über die Liebe zur Natur.
Eine wunderbare, poetische Sprache trägt uns durch dieses schmale Buch, die Sprache dieses Mädchens, das trotz all ihres Leidens alle Farben der Welt niemals vergisst.
Eine Wendung ziemlich zum Ende des Buches hat mich aus den Socken gehauen 🙈.
Sehr lesenswert!!!

Bewertung vom 10.01.2025
Die Rückkehr
Matar, Hisham

Die Rückkehr


ausgezeichnet

Ergreifend, erschütternd, brillant geschrieben, verdienter Pulitzer- und Geschwister-Scholl-Preis für diese Autobiographie.

Libyen. Weiß jemand von euch mehr über Libyen, als dass es da einen Gaddafi gab? Ich ehrlicherweise nicht. Aber nun, nach der Lektüre weiß ich mehr und bin entsetzt über das Martyrium dieses Volkes.

Der Autor wird im Jahr 1970 geboren, als sein Vater Jaballah Matar kurz nach der Machtübernahme Gaddafis als Diplomat in New York tätig ist. Libyen war von 1951 bis 1969 unter König Idris ein Königreich gewesen. Und zunächst noch voller Hoffnung auf eine Demokratie in seinem Land, bemerkt Jaballah jedoch schnell, wie sehr er sich in Gaddafi getäuscht hat und wird zum heftigsten Unterstützer des Widerstandes. So ist er nach nur wenigen Jahren Aufenthalt mit seiner Familie in seinem Heimatland gezwungen, mit ihr zu fliehen. Zuerst fliehen sie nach Kenia und anschließend nach Kairo. Von dort wird Jaballah 1990 mit Hilfe der ägyptischen Regierung nach Libyen entführt und in das berüchtigte Gefängnis Abu Salim gebracht. Zu dieser Zeit studiert sein Sohn Hisham, der Autor, in England. 22 Jahre später, im Jahr 2012, nach der Revolution und Gaddafis Sturz reist dieser mit seiner Frau nach Libyen, um seinen Vater zu suchen bzw. Klarheit über dessen Schicksal zu bekommen. An diesem Punkt startet Matars Bericht.

Ich wurde beim Lesen hineingezogen in ein Leben voller Trauer, Wut, Verzweiflung und mit einem beherrschenden Gefühl der Heimatlosigkeit, des Abgetrenntseins von Heimat und dem Rest der Familie, aber auch in ein Leben voller Hoffnung, dass der Vater vielleicht doch noch lebt. Hoffnung für Libyen. Hoffnung auf Demokratie, auch wenn schon alle Zeichen auf einen Bürgerkrieg hindeuten.
Dabei erfahren wir über die Geschichte des Großvaters von der Kolonialisierung durch Italien, vom Genozid an mehreren 100.000 Menschen und der Ausbeutung des Landes auf Befehl von Mussolini. Ich hatte davon noch nie gehört oder gelesen. Wusstet ihr davon?

Matars eindrückliche, bestechend klare, versierte und auch poetische Sprache vermag es, uns in seine Person zu versetzen, in seine Gedanken und Gefühle:

"Im Auto unterwegs von Adschabiya nach Bengali ... begriff ich, dass ich all die Jahre das Kind, das ich einmal war, in mir getragen hatte, seine Sprache und Eigenschaften, die ungeduldigen, durstigen Zähne, die in das kalte Fleisch der Wassermelone bissen."

"Seit wir Libyen verlassen hatten, war Wut wie ein vergifteter Strom durch mein Leben geflossen und hatte sich bis in die Verästelungen meiner Anatomie gegraben."

"Wenn ich darüber nachdenke, was mit ihm geschehen sein mag, spüre ich, wie sich ein Abgrund in mir öffnet. Ich versuche, mich an den Wänden festzuklammern, doch sie sind rau und unsicher, aus weichem Lehm, der im Regen wegbricht, und die Öffnung ist rund, wie bei einem Brunnen. Unser Brunnen."

Bei seiner Reise durch seine Heimat befragt Matar mit viel Einfühlungsvermögen Familienmitglieder, die ebenfalls eingekerkert waren, aber wieder freigelassen wurden, in der Hoffnung, etwas über seinen Vater und dessen Verbleib zu erfahren. So erlangen wir Kenntnis über die unfassbaren Haftbedingungen und Geschehnisse im Abu Salim Gefängnis.

Hisham Matar lässt uns in seine arabische, heimat- und vaterlose, sowie -suchende Seele schauen. Er legt alles frei. Und das ergreift den Leser im Innersten. Diese Autobiographie ist große Literatur, in meinen Augen ein Meisterwerk und sollte unbedingt gelesen werden. Lesen, lesen, lesen!!!