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Benutzername: 
Lara
Wohnort: 
Frankfurt

Bewertungen

Insgesamt 24 Bewertungen
Bewertung vom 18.07.2024
Geile Zeit
Seydack, Niclas

Geile Zeit


sehr gut

Niclas Seydack ist ein Millennial, er gehört also zu denen, die zwischen 1980 und den späten 90er geboren wurden - teilweise auch unter Generation Y bekannt.
In „Geile Zeit“ fasst er das Lebensgefühl dieser Altersgruppe zusammen. Er beschreibt Kindheit, Jugend und Start in das Erwachsenenleben aus seiner Perspektive. Das Buch bietet dabei sehr viel Identifikationspotential, denn das meiste, was Seydack beschreibt, kennt man aus seinem eigenen Leben. Vieles ist zwar aus seiner persönlichen männlichen Perspektive geschildert, aber wer kennt nicht die Jungs, die für die ganze Klassenfahrt nur eine Unterhose eingepackt haben.
Der Schreibstil ist passend, locker und sehr eingängig. Ich war von der ersten Seite an „im Flow“ und wollte auch immer weiter lesen.

Auch wenn er das Lebensgefühl an vielen Stellen wirklich gut zusammenfasst, hat mir für die völlige Begeisterung am Ende doch noch etwas gefehlt. Seydack fokussiert sich stark auf die negativen Aspekte und verliert Chancen und Potentiale aus meiner Sicht etwas aus dem Blick. Ja, die Millennials sind vermutlich die erste Generation, der es nicht besser gehen wird, als ihren Eltern. Aber muss man nicht realistischerweise anerkennen, dass diese Entwicklung ohnehin nicht ewig fortsetzbar wäre? Und geht es uns deshalb automatisch schlecht? Hier hätte ich mir gewünscht, dass ein stärkerer Abwägungsprozess stattfindet und man vielleicht auch dazu kommt, einen Blick auf die zukünftigen Auswirkungen und Möglichkeiten zu wagen.

Niclas Seydack beschränkt sich in „Geile Zeit“ auf seine persönlichen Erlebnisse und Wahrnehmungen, die Millennials an vielen Stellen bekannt vorkommen werden und so eine Rekapitulation des eigenen Lebens ermöglichen. Leider geht es über diese persönliche Ebene aber nicht hinaus. Trotzdem ist das Buch lesenswert für alle, die in Erinnerungen schwelgen wollen oder Verständnis für diese Generation entwickeln möchten.

Bewertung vom 10.07.2024
VIEWS
Kling, Marc-Uwe

VIEWS


sehr gut

Eine 16jährige wird vermisst. Das erste Hinweis auf ihren Verbleib ist ein Gewaltvideo, das unmittelbar viral geht. Aufgrund der gesellschaftlichen Brisanz zieht das BKA die Ermittlungen an sich und Yasira Saad soll die Täter finden. Und zwar möglichst schnell, denn unmittelbar mit der Verbreitung des Videos haben sich gesellschaftliche Gruppen gebildet, die auf Vergeltung aus sind.

Eins vorab: Ich bin großer Fan von Marc-Uwe Kling und verschlinge alles, was er so veröffentlicht. Ich liebe seine Gesellschaftskritik und seinen realistischen Blick auf die Welt. Auch wenn meine politische Position vielleicht eine etwas andere ist, erkennt er wichtige gesellschaftliche Probleme und greift mit dem Finger tief in die Wunde. Genau so ist es auch bei „Views“ wieder. Der Roman trieft vor aktueller Gesellschaftskritik gepaart mit dystopischen Elementen. In manchen Werbemaßnahmen wird das Buch, auch von Kling selbst, als Thriller beworben. Dem würde ich nicht zustimmen, da hier viel zu wenig Augenmerk auf den Fall selbst gelegt wird. Im Mittelpunkt stehen die gesellschaftlichen Auswirkungen und die Möglichkeiten technischer Entwicklungen. Aus meiner Sicht ist das aber ein Vorteil, einen gänzlich unpolitischen Thriller hätte ich nicht gebraucht.

Der Schreibstil ist, wie man es von Kling gewohnt ist, sehr eingängig und liest sich flott weg. Trotz des ernsten Themas ist es auch durchaus wieder lustig und gespickt mit Anspielungen auf aktuelle Ereignisse. Das macht die Bücher von Kling natürlich immer etwas zeitlich gebunden. Für Leser in einigen Jahren könnten viele der Anspielungen verloren gehen. Vom SRF Literaturclub wird das Buch als heutig bezeichnet und das trifft es aus meiner Sicht perfekt.
Mir hat das Lesen unglaublich viel Spaß und ich habe das Buch innerhalb eines Tages beendet.

Allerdings hat der Roman aus meiner Sicht auch Schwächen, aus meiner Sicht ist er nicht völlig auserzählt. Kling lässt viel Potential liegen. Der knappe und pointierte Schreibstil, der beim Känguru 100%ig funktionierte, kommt bei diesem Roman an seine Grenzen. Mir fehlte das letzte Quäntchen zur völligen Begeisterung. Man muss sich aber bewusst sein, dass dies wirklich Meckern auf sehr hohem Niveau ist. „Views“ von Marc-Uwe Kling ist absolut lesenswert!

Bewertung vom 15.06.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


ausgezeichnet

Frie, die eigentlich Friederika heißt, und Robert sind schon seit der Schulzeit Freunde. Doch eigentlich ist Robert schon seit dem ersten Tag 1988, an dem Frie ihm den Weg an der neuen Schule zeigte, verliebt. Nach der Schule trennen sich ihre Wege, doch die alte Verbundenheit bleibt und immer wenn sich ihre Lebenswege wieder kreuzen, stellt sich die Frage „Was ist das eigentlich?“.

Julia Karnick erzählt in „Man sieht sich“ die Geschichte zweier Menschen, deren Wege sich immer wieder kreuzen und deren Freundschaft immer ein bisschen mehr zu sein scheint. Wir starten dabei im Jahr 1988 und enden letztlich im Jahr 2022, als die beiden bereits die Altersmarke 50 geknackt haben.
Ich konnte mich mit der Geschichte der beiden auf eine gewisse Art und Weise identifizieren und mochte beide Hauptfiguren auf ihre eigene Art und Weise. Robert fand ich tatsächlich etwas sympathischer, während Frie ein etwas eigenwilligerer Charakter ist. Trotzdem fand ich auch Fries Parts spannend und bin ihr gerne gefolgt.
Gut gefallen hat mir, dass die Geschichte wirklich aus dem Leben gegriffen war. Man folgt den beiden durch verschiedene Lebensphasen und erlebt dabei auch ihre Entwicklung mit, denn in über 30 Jahren verändern sich Menschen natürlich.

Julia Karnicks Schreibstil lässt sich für mich am ehesten als unaufgeregt beschreiben. Sie erzählt die Geschichte ganz ruhig, aber sehr klar und berührend. Mir hat das Lesen sehr große Freude bereitet und ich hätte gerne auch noch mehr gelesen. Wer allerdings die ganz großen Dramen und Emotionen erwartet, könnte hier enttäuscht werden.

„Man sieht sich“ von Julia Karnick ist ein Roman der ruhigen Töne, der sich total auf die Hauptfiguren und ihre Beziehung zueinander fokussiert.

Bewertung vom 12.06.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


gut

Ende des 19. Jahrhunderts: Zwischen Moskau und Peking verkehrt der sagenumwobene Transsibirien-Express. Er ist das Prestigeobjekt der Kompanie, die alles daran setzt den Ruhm und Mythos rund um den Zug zu bewahren. Er ist die einzige Möglichkeit das Ödland zwischen Russland und China zu durchqueren, doch es gibt Gerüchte, dass bei der letzten Fahrt etwas schief gelaufen ist. Mit einiger Zeit Verspätung beginnt unter diesen Umständen eine neue Fahrt durch das Ödland, die beweisen soll, dass der Zug sicher ist. Doch nicht nur für die Kompanie ist diese Fahrt besonders. An Bord des Zuges sind einige Passagiere, die ein Geheimnis mit sich tragen und ihre wahren Absichten verschleiern.

Sarah Brooks Debütroman „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Ankündigungen sind dabei etwas unklar und lassen nicht genau erahnen, was einen erwartet. Ich hatte mir einen Roman erhofft, indem die Dynamik zwischen Passagieren und der Kompanie im Mittelpunkt steht, wir langsam die Geheimnisse und Verstrickungen lüften und die besondere Mystik des Ödlands vermittelt bekommen. Tatsächlich kam es etwas anders.
Zu Beginn werden die Reisenden und der Zug selbst recht ausführlich vorgestellt. Diesen Part fand ich noch gut, das ging zunächst in die Richtung, die ich erwartet hatte. Im Mittelpunkt der Erzählung steht dabei das „Zugmädchen“ Weiwei, die eine Art Bindeglied zwischen Zug und Passagieren darstellt. Der Einstieg war wirklich gelungen und durch den Schreibstil der Autorin auch sehr besonders.
Eingeleitet werden die Kapitel durch passende Ausschnitte aus dem titelgebenden Handbuch. Das war alles ganz nett, es wurde aber schon klar, das fantastische Elemente eine nicht ganz unwichtige Rolle spielen werden. Und tatsächlich verliert sich die Erzählung im Folgenden. Während die Geschichten der Reisenden in den Hintergrund treten, gewinnt das Ödland und dessen Einfluss auf den Zug an Bedeutung. Das umfasst auch sehr ausführliche Beschreibungen, bei denen meine Aufmerksamkeit recht schnell flöten ging. Die Geschichte bietet viel Potential für Gesellschaftskritik, im Fokus stehen aber die Mystik/fantastische Elemente. Mir persönlich war das viel zu viel. Aus meiner Sicht sollte man das im Rahmen der Ankündigungen deutlicher machen, ich hätte das Buch dann vermutlich nicht gelesen.

Nichtsdestotrotz gibt es von mir drei Sterne, denn Sarah Brooks „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ ist definitiv kein schlechtes Buch, allerdings eben überhaupt nicht mein Fall. Wer gerne in „Zwischenwelten“ abtaucht und viel Fantasie besitzt, der wird an der Geschichte vermutlich seinen Spaß haben. Ich war einfach das falsche Publikum.

Bewertung vom 12.05.2024
Das Licht in den Birken
Fölck, Romy

Das Licht in den Birken


sehr gut

Vor über 20 Jahren ist Thea völlig planlos aus ihrer Heimat in Norddeutschland geflüchtet und hat sich seitdem ein unkonventionelles Leben in Portugal aufgebaut. Doch für sie ist nun die Zeit gekommen, in ihre alte Heimat zurückzukehren und sich der Vergangenheit zu stellen. Mit Mitte 50 muss sie nun neu anfangen und landet auf einem Hof in der Lüneburger Heide. Ihr Vermieter Benno führt dort einen Gnadenhof und muss, obwohl er eigentlich lieber alleine ist, die Wohnung vermieten um den Hof am Leben zu halten. Für die beiden beginnt eine herausfordernde Zeit, denn ihre Lebensentwürfe könnten eigentlich nicht unterschiedlicher sein. Als dann plötzlich auch noch Juli auftaucht, die eigentlich nach Amsterdam wandern möchte, aber von einer Verletzung ausgebremst wird, entsteht auf dem Hof eine neue Gemeinschaft. Trotz aller Unterschiede werden aus drei Fremden Freunde.

„Das Licht in den Birken“ von Romy Fölck ist ein Roman, der den Leserinnen und Lesern einige schöne Lesestunden beschert.
Insgesamt hat mir der Roman gut gefallen, der Schreibstil ist sehr eingängig und die Hauptfiguren sind sehr sympathisch und man fühlt mit ihnen mit, denn jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen. Obwohl man es hier mit problembeladenen Protagonistinnen und Protagonisten zu tun hat, die sich in einer scheinbar recht ausweglosen Situation zusammenfinden, war das Buch für mich „Feel Good“-Lektüre, denn irgendwie fügt sich immer doch alles.
Und da liegt dann auch der Grund, warum ich nur vier Sterne vergebe. Es macht zwar Spaß das Buch zu lesen, aber es geht dann doch immer alles recht schnell. Es gibt wirklich außerordentlich viele Probleme, deren Lösung aus meiner Sicht nicht unbedingt realitätsnah geschildert wird. Aus meiner Sicht, hätte man hier etwas reduzieren können oder eben dem Buch noch ein paar mehr Seiten gönnen dürfen. Dann hätte man die Geschichte auserzählen können.

Nichtsdestotrotz habe ich Romy Fölcks „Das Licht in den Birken“ wirklich gerne gelesen und würde es für kurzweilige Lesestunden auch weiterempfehlen.

Bewertung vom 02.05.2024
Happy Hour
Granados, Marlowe

Happy Hour


weniger gut

Isa und Gala sind relativ planlos in New York angekommen. Ihr Leben besteht hauptsächlich daraus, Geld aufzutreiben und sich von einer Party zur nächsten treiben zu lassen - natürlich im Idealfall ohne selbst zahlen zu müssen.

Damit ist der Inhalt von Marlowe Granados‘ Debütroman „Happy Hour“ im Prinzip erschöpfend erzählt. Viel mehr passiert nicht. Auf dem Klappentext wird angekündigt, dass es sich um eine „wilde Spritztour“ handele, die „mit untrüglicher Genauigkeit und Witz […] den hohlen Kern unserer Klassengesellschaft frei [legt]“. Das war der Grund, warum ich mich für dieses Buch entschieden habe. Leider fehlte mir genau das fast vollständig. An manchen Stellen wird für einen kurzen Bruchteil ein Ansatz von Gesellschaftskritik deutlich, um dann aber direkt wieder in eine episodenhafte Aneinanderreihung abzugleiten. Den beiden Protagonistinnen fehlt es total an Tiefe. Erst im letzten Drittel gibt es ein kurzes Kapitel, das einen tieferen Einblick in die Protagonistin Isa ermöglicht. Aber auch dieser Moment ist sehr schnell wieder vorbei.

Am Anfang hatte ich den Eindruck, dass die Autorin mehr Wert auf Vibes, statt den Plot gelegt hat. Ehrlich gesagt kamen aber auch recht schnell die Vibes nicht mehr bei mir an. Das Buch hat mit mir einfach emotional gar nichts gemacht. Es war mir im Prinzip vollkommen egal und ich musste mich wirklich zum Weiterlesen zwingen.

Ich hatte an viele Stellen das Gefühl, dass man gerne einen intellektuellen Touch vermitteln möchte, es aber halt nicht wirklich hinbekommt.

Für mich war „Happy Hour“ von Marlowe Granados leider bisher eines der schlechtesten Bücher des Jahres und ich war wirklich froh, als ich es endlich beenden konnte.

Bewertung vom 29.04.2024
Mühlensommer
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


ausgezeichnet

Eigentlich hatte Maria geplant gemeinsam mit ihren Töchtern und einer befreundeten Familie ein Wochenende in den Bergen zu verbringen. Dort wollten alle eine Auszeit vom hektischen städtischen Leben nehmen und neue Kraft tanken. Doch wie so häufig kommt alles anders als geplant. Maria erreicht ein Anruf ihrer Mutter. Der Vater hatte einen Unfall und auf dem elterlichen Bauernhof wird dringend Marias Hilfe benötigt. Sie bricht das geplante Wochenende ab und fährt in die Heimat. Dort angekommen wird schnell klar, dass Maria sich in einem inneren Dilemma befindet. Sie ist gefangen zwischen ihren Kindheitserinnerungen und den vielen unausgesprochenen Themen, die zwischen den Familienmitgliedern stehen. Diese werden spätestens dann deutlich, als ihr Bruder Thomas aus dem Urlaub zurückkehrt und alte Verletzungen wieder offensichtlich werden.

Martina Bogdahn erzählt in „Mühlensommer“ die Geschichte einer Bauernfamilie aus der Perspektive der Tochter, die sich vom Landleben eigentlich abgewandt hat. Die Autorin springt dabei immer wieder zwischen der Vergangenheit und dem Hier und Jetzt hin und her. Auch wenn die Zeitenwechsel nicht gekennzeichnet sind, war für mich immer schnell klar, wo wir uns gerade befinden. Insgesamt nimmt die Vergangenheit einen deutlich größeren Raum ein, was aber aus meiner Sicht auch wichtig ist, um die Gegenwart zu verstehen.

Mir hat der Schreibstil der Autorin sehr gut gefallen, man konnte sich sehr gut in die Situation hineinversetzen und ich hab das Landleben total gefühlt. Allerdings darf man beim Lesen kein zu schwaches Gemüt haben. Martina Bogdahn schildert das Leben auf dem Bauernhof sehr realistisch und lässt dabei die damit auch verbundenen Grausamkeiten nicht außen vor. Wer also nur auf die Schilderung eines idyllischen Landlebens eingestellt ist, wird hier schockiert sein. Allerdings vermittelt die Autorin so ein sehr gutes Bild davon, wie hart und entbehrungsreich ein Leben in der Landwirtschaft auch ist. Trotzdem gibt es auch viele Szenen, die das idyllische Leben oder auch lustige Anekdoten zeigen. Insgesamt zeichnet die Autorin damit aus meiner Sicht ein sehr realistisches Bild, man muss sich einfach bewusst sein, dass es sich nicht um einen „Wohlfühlroman“ handelt.

Man hat an vielen Stellen den Eindruck, dass die Autorin viele Episoden aneinanderreiht, die nicht alle auserzählt werden. Normalerweise bin ich großer Fan von abgeschlossenen Handlungen und mag es nicht, wenn zu viele Fragen offen bleiben. Hier hat mich das Fragmentarische gar nicht wirklich gestört. Ich fand es gut, mir über verschiedene Ereignisse Gedanken zu machen, die häufig auch einen gesellschaftskritischen Charakter haben. Es entspricht auch dem Naturell der Familie, dass vieles ungesagt bleibt. Letztlich ist die Botschaft aber klar, nämlich dass Heimat etwas ist, dass man trotz aller Bemühungen, Verdrängungsversuchen und vielleicht auch Verletzungen, nicht einfach abschütteln kann. Heimat Urschreis, das bleibt und einen auch maßgeblich zu dem Menschen gemacht hat, der man letztlich geworden ist.

Da im Buch Marias Perspektive dominiert, erfahren wir über die anderen Figuren natürlich immer nur das, was Maria für relevant hält. So hat man nie ein ganz objektives (Gesamt)Bild der anderen Figuren. Für mich war aber auch das stimmig.

Martina Bogdahn hat mir mit ihrem Debüt „Mühlensommer“ einige angeregte Lesestunden beschert, indem sie das Landleben sehr realistisch, aber auch mit einem gesellschaftskritischen Ansatz dargestellt hat. Neben der schonungslosen Direktheit, kommt auch der Humor nicht zu kurz, sodass ich nicht nur nachdenklich, sondern auch gut unterhalten war. Wer einen „Wohlfühlroman“ sucht, der greift aber bitte lieber zu einem anderen Buch.

Bewertung vom 20.04.2024
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


ausgezeichnet

Ida fühlt nur noch einen dicken Klumpen aus Wut, Trauer und Schuld. Den Tod ihrer alkoholabhängigen Mutter konnte sie nicht verhindern und mit ihrer großen Schwester Tilda kann sie gerade auch nicht sprechen. So vegetiert sie in der Wohnung, in der sie ihre Mutter gefunden hat, bis sie schließlich die Flucht ergreift. Statt nach Hamburg zu ihrer Schwester, zieht sie es allerdings intuitiv nach Rügen. Dort verausgabt sie sich völlig beim Schwimmen in der Ostsee und trifft zufällig auf Knut und Marianne, die sie bei sich aufnehmen und sich um sie kümmern. Noch dazu tritt Leif in ihr Leben und langsam beginnt Ida gegen den Klumpen in ihrem Bauch zu kämpfen. Doch schon bald bekommt ihre Angst wieder Nahrung und sie muss sich entscheiden, wie sie damit umgeht.

Caroline Wahl hat mit „Windstärke 17“ eine Art Fortsetzung zu „22 Bahnen“ vorgelegt. Während „22 Bahnen“ einige Jahre früher spielt und aus der Sicht der großen Schwester Tilda geschrieben ist, bekommen wir jetzt einen Einblick in das Leben der jüngeren Schwester Ida, die nach Tildas Auszug nun allein mit der Mutter klar kommen muss. Aus dem kleinen Mädchen ist eine junge Frau geworden, die ihre eigenen Träume, Rituale und Bewältigungsstrategien entwickelt hat. Auch wenn es sich um eine Art Fortsetzung handelt, kann man beide Romane völlig eigenständig lesen.

„22 Bahnen“ war im letzten Jahr mein absolutes Highlight, daher bin ich mit viel Vorfreude und großen Erwartungen an dieses Buch herangetreten. Und was soll ich sagen, Caroline Wahl hat all diese Erwartungen erfüllt. Ich wollte mich selbst disziplinieren, um länger etwas von diesem hervorragenden Buch zu haben, allerdings hat das gar nicht funktioniert und ich habe es innerhalb eines Tages ausgelesen.

Der Schreibstil ist wieder sehr modern und speziell. Es macht einfach unglaublich viel Spaß zu lesen. Ich fand es interessant, was die Jahre allein mit der Mutter aus dem vernünftigen, nachdenklichen und witzigen kleinen Mädchen, das ich aus „22 Bahnen“ kannte, gemacht haben. Man merkt, dass diese junge Frau durch Wut und Schuld beinahe fremdgesteuert ist und ihr eigentlicher Charakter gar nicht mehr zum Vorschein kommt. Caroline Wahl bleibt in ihrer Schilderung auch sehr realistisch und lässt Ida keine unrealistische „Heilung“ angedeihen. Trotzdem findet sie in kleinen Schritten wieder zurück in ein geordneteres Leben.

Ich konnte mich zwar mit der größeren Schwester Tilda etwas besser identifizieren, fand aber die Perspektive des jüngeren Geschwisterparts sehr bereichernd und bewegend.

Der Personenkreis im Buch ist relativ übersichtlich gehalten und zeigt, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat.
Man könnte denken, dass die Schwestern den Tod der Mutter, die ihnen das Leben nur schwer gemacht hat, als Erleichterung empfinden. Doch Idas Wutklumpen zeigt, wie stark die emotionale Bindung trotzdem war und wie viel Verantwortung sie schon früh für ihre Mutter übernommen hat.

„Windstärke 17“ von Caroline Wahl wird ganz sicher wieder zu den Jahreshighlights zählen, wenn nicht sogar wieder DAS Highlight 2024 werden. Das Buch hat mich emotional tief berührt und nachhaltig beeindruckt. Für dieses Buch kann ich nur eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen. Ich freue mich jetzt schon auf den Moment, wenn ich beide Bücher erneut lesen darf.

Bewertung vom 20.04.2024
James
Everett, Percival

James


sehr gut

In „James“ erzählt Percival Everett eine Geschichte, die viele aus der Perspektive des Huckleberry Finn kennen, neu und gibt dem Sklaven Jim eine Stimme, indem er seine Sicht darstellt. Schon gleich zu Beginn wird dabei klar, dass diese Geschichte anders ist. Obwohl die Geschichte an sich tragisch ist, denn Jim soll nach New Orleans verkauft werden und flieht, erzählt Percival Everett mit viel Humor.

Mir hat besonders gut gefallen, dass die Geschichte wirklich umgedreht wird und deutlich wird, dass Jim sich nur dumm stellt, um die Weißen in Sicherheit zu wiegen. Etwas schwierig war es allerdings teilweise dem Slang zu folgen, den die Sklaven dazu nutzen.

Der Zufall bringt Jim und Huckleberry Finn auf der Flucht zusammen und sie erleben so einige Abenteuer. Da ich das Original nicht kenne, kann ich nicht beurteilen, wie nah Everett dabei am Original bleibt. Es ist aber wirklich eine Abenteuergeschichte und es wechselt Schlag auf Schlag. Teilweise ging es mir auch etwas zu schnell und ich hätte mir etwas mehr Ruhe gewünscht.

Zentrales Thema ist natürlich die Sklaverei. Es ist sehr eindrücklich geschildert, wie unterschiedlich die Menschen mit diesem Rassismus umgehen. Es gibt diejenigen die sich arrangieren, diejenigen die versuchen zu fliehen aber auch einige, die das System für den eigenen Vorteil nutzen. Besonders gut gefallen hat mir, dass die Selbstüberhöhung der „weißen Rasse“ komplett persifliert wird. Es finden sich auch immer wieder historische Bezüge. Hier wäre vielleicht an manchen Stellen eine Einordnung hilfreich gewesen, da gerade Leserinnen und Leser vielleicht nicht ganz so tief im Thema sind, wie Everetts amerikanisches Publikum.

„James“ von Percival Everett ist ein Roman über Selbstermächtigung, der das System der Sklaverei schonungslos darstellt und gleichzeitig einen gewissen Humor beinhaltet.

Bewertung vom 07.04.2024
Was das Meer verspricht
Blöchl, Alexandra

Was das Meer verspricht


ausgezeichnet

Vida ist fest verwurzelt auf einer kleinen Insel im Norden. Während ihr Bruder Zander auf das Festland verschwunden ist, hat Vida sich im Leben auf der Insel arrangiert. Sie unterstützt ihre Eltern und plant ihren langjährigen Freund Jannis zu heiraten. Doch als im Nachbarhaus Marie einzieht, eine junge Frau, die nicht von der Insel stammt, ändert sich für Vida alles. Sie lernt ein ganz anderes Leben kennen, fern von den Routinen ihres Alltags. Dann kehrt auch noch ihr Bruder Zander zurück und bald ist auf der Insel nichts mehr, wie es war.

Alexandra Blöchl hat mich mit ihrem Roman „Was das Meer verspricht“ in einen Strudel gezogen, dem ich mich praktisch nicht entziehen konnte. Ihre Art ist die Geschichte zu erzählen ist sehr besonders und lässt einen nicht los. Das wird begünstigt, durch die extrem kurzen Kapitel. Ich habe das Buch innerhalb von wenigen Stunden gelesen und konnte es wirklich kaum aus der Hand legen.

Die Protagonisten sind sehr übersichtlich und man lernt auch gar nicht so viel von ihnen kennen. Am nächsten kommen wir Vida, aus deren Perspektive die Geschehnisse berichtet werden. So hat man wenig Einblick in das Innenleben der anderen Figuren, kann aber Vidas Entwicklung sehr eindrücklich nachvollziehen.

Ich fand es spannend zu sehen, wie Vidas Blick auf ihr Leben sich durch Maries Ankunft vollkommen verändert und sie sich wohl erstmals damit auseinandersetzt, was sie sich eigentlich für ihr Leben wünscht. Dabei fand ich Vida gar nicht unbedingt besonders nahbar oder sympathisch, aber es war einfach interessant ihren „Emanzipationsprozess“ zu beobachten.

Während die namentlich nicht benannte Insel, sie wird immer nur N. genannt, ausschließlich eine Kulisse darstellt, hat das Meer eine besondere und regelrecht aktive Rolle. Für die Zugezogene Marie ist es von Beginn an ganz besonders, während Vida ihre Beziehung zum Meer und dessen rauen Momenten im Verlauf der Geschichte verändert.

„Was das Meer verspricht“ von Alexandra Blöchl ist ein sehr besonderer Roman, der von Beginn an emotional packend ist und eine ganz außergewöhnliche Stimmung vermittelt.