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Benutzername: 
Rudolf Preyer
Wohnort: 
1050 Wien

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Bewertung vom 08.03.2011
Europas neuer
Teltscher, Rudolf

Europas neuer "Osten"


ausgezeichnet

Schon seit 1975 ist der Autor Rudolf Teltscher im sogenannten „Osten“ tätig. Nicht umsonst setzt er in seinem Buch „Europas neuer ,Osten‘“ diesen geographisch schwammigen Begriff in Klammern – kann doch dieser Raum vielfältiger gar nicht sein. Zweierlei macht diesen historischen Überblick höchstspannend: Teltschers Expertise und sein geisteswissenschaftlicher Background. Mühelos schafft er es, die historischen Umwälzungen im Gefolge von 1989 ff. eindrucksvoll zu schildern, gleichzeitig bringt er es zu Wege, die hohle ideologische Basis des Kommunismus zu decouvrieren. Denn dass der Kapitalismus dereinst an sich selbst zu Grunde gehen würde – ein berühmtes Diktum von Karl Marx – ist vielmehr dem Kommunismus als System und seinen je lokalen Ausprägungen „passiert“. Dass es nicht zufällig dazu kam, schildert Teltscher sehr luzide.

Teltscher studierte Philosophie - er denkt im Bezugsrahmen der abendländischen Geistesgeschichte. Der Autor schafft es, den Bogen von Thomas Morus' Insel "Utopia" zur gescheiterten Ideologie des Kommunismus zu spannen. Dass selbst ein Gorbatschow diese Regierungsform nicht mehr retten konnte, erklärt Teltscher, wenn er ausführt, wie die „schleichende und verdeckte Privatisierung von Staatseigentum“ das System von Innen aushöhlte: „Mit dem Beschreiten dieses Entwicklungspfades war natürlich der Korruption Tür und Tor geöffnet. Der Sozialismus wurde still und heimlich, unter Aufbietung eines Maximums an Heuchelei, zu Grabe getragen.“ Teltscher geht ins Detail: „Korruption hat zwar in Russland eine alte Tradition, die auch im Kommunismus keine Unterbrechung gefunden hatte. Jetzt aber stieß sie in eine neue Dimension vor …“ Sehr schön formuliert Teltscher auch, wenn er Korruption und mangelnder gesellschaftlicher Zusammenhalt als „russische Erbübel“ auf den Punkt bringt.

Teltscher möge mir verzeihen, dass ich die prägnanten Ausführungen des Autors stark verkürze. Wie treffend er diese große Transformation schildert, möge dieser Absatz unterstreichen: „Dem Hauptinteresse breitester Bevölkerungsschichten in den postsozialistischen Ländern entsprachen westliche Unternehmen nur zu gerne, bot sich doch ein weites Expansionsfeld für viele Banken, Handels- und Industrieunternehmen. So folgte eine Bankübernahme auf die andere, so schossen neue Einkaufszentren aus dem Boden, so ließen sich produzierende Unternehmen in großer Zahl mit Tochterfirmen in den betreffenden Ländern nieder und trugen durch die damit geschaffenen Arbeitsplätze zum Gelingen des Übergangs vom Sozialismus zur Marktwirtschaft, zum wirtschaftlichen Aufschwung und zur Steigerung der Konsumkraft der Bewohner wesentlich bei, zur Freude der Konsumtempel-Betreiber.“

Dass diese Transformation auch Schattenseiten hat – heute sprechen Soziologen vielerorts von den „Modernisierungsverlierern“ –, bringt Teltscher folgendermaßen zum Ausdruck: “Das sind die Reformverlierer, die dem System der eigenen Initiative als Voraussetzung für den Konsumismus nicht genügen können.“

Insgesamt eignet sich dieses Buch hervorragend als Nachlese zur historischen Verirrung des Kommunismus. Teltscher vergisst aber auch nicht darauf hinzuweisen, dass uns eine Beschäftigung mit dem „Osten“ nicht nur aufgrund historischer Tangenten und ökonomischer Interessen gut zu Gesichte stünde: Der Osten könnte auch unsere Zukunft sein.