Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Leserpost

Bewertungen

Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 19.09.2018
Was unsere Kinder wissen müssen
Kerstan, Thomas

Was unsere Kinder wissen müssen


ausgezeichnet

Eine pluralistisch-multikulturelle, multiethnische, multireligiöse Individualistengesellschaft kann etwas sehr Schönes, Spannendes, Befruchtendes sein – wenn es etwas gibt, das alle über alle Unterschiede hinweg miteinander verbindet. Ich könnte nicht sagen, dass es dieses Verbindende bei uns gibt. Es wird auch nicht von selbst entstehen. Dafür muss man etwas tun, vor allem in den Schulen und Universitäten. Die Kinder und Jugendlichen aller Nationen, Religionen und Kulturen brauchen gemeinsame Texte, Filme, Lieder, Bücher, Werte und natürlich auch Erlebnisse – nur so kann das gemeinsam Verbindende entstehen.
Das Erste, was es also bräuchte, wäre ein Kanon, ein gemeinsamer Vorrat an Bildungsgütern, an dem wirklich jedes hier geborene Kind teilhat.
Wer es aber wagte, so einen Kanon vorzulegen, würde von 100.000 individualistischen Besserwissern sofort in der Luft zerrissen und beschimpft, dass er sich anmaße, allen anderen seine eigenen subjektiven Wertvorstellungen aufzupfropfen. Darum wagt es keiner, kein Philosoph, kein Pädagoge, keine Wissenschaftlerkommission, keine Kultusministerkonferenz zu sagen: Diese 100 – oder meinetwegen 140, 200, 250 – Texte, Lieder, Filme, Grundwissensbestände muss jedes Kind im Lauf seiner Entwicklung kennen, ehe es die Schule und die Uni verlässt.
Einer hat’s nun doch riskiert: Thomas Kerstan, Ressortleiter „Bildung und Chancen“ in der ZEIT, hat kürzlich so einen Kanon für das 21. Jahrhundert“ vorgelegt. Die ZEI T sprach von einem „Kanon aus hundert Meisterwerken, über den eine zerstrittene Gesellschaft wieder ins Gespräch kommen könnte“.
Natürlich sind ihm sofort 900 Namen, Titel und Werke um die Ohren gehauen worden, die bei ihm fehlen, aber unbedingt hineingehört hätten. Natürlich ist ihm Anmaßung, Subjektivität und Willkür vorgeworfen worden. Und natürlich nörgelten die politisch Korrekten: zu wenig Frauen, kaum Schwule, kaum Schwarze, Queer kommt überhaupt nicht vor und so weiter und so weiter.
Nur: Wenn es um Wissen und Werke aus drei Jahrtausenden geht, muss naturgemäß ein Männerüberschuss und ein Mangel an lange unterdrückten Minderheiten herrschen, denn diese haben halt erst spät die Bühne der Weltgeschichte betreten und Kunst- oder Meisterwerke geschaffen.
Egal. Alle Einwände können das Argument nicht entkräften, dass unsere pluralistisch-multikulturelle-multi-ethnische-multi-religiöse Individualistengesellschaft nichts dringender braucht als neue Kanonisierungen in einer Zeit, in der uns "alternative Wahrheiten" untergejubelt werden.
Man kann den Versuch von Kanonisierungen natürlich bleiben lassen. Dann wird sich halt unsere zersplitterte Gesellschaft immer weiter zersplittern, in der man einander immer fremder wird. Die Folge wird sein, dass das Misstrauen untereinander wächst, alte Vorurteile zementiert werden und neue entstehen. Man wird sich voneinander abschotten, als Monade in der Anonymität leben, sich in gated communities verschanzen und dort von irgendwelchen Mächten und Interessen manipuliert, gesteuert und gegeneinander ausgespielt werden, während in die Parlamente immer mehr kompromiss-unfähige Parteien einziehen, die sich auf immer weniger einigen können und daher das weitere Schicksal der Welt dem Recht des Stärkeren überlassen.
Darum: Gut, dass einer den Mut hat, sich der unlösbaren Aufgabe eines Kanons zustellen und einen Versuch abgeliefert hat, über den man diskutieren kann, ja muss.