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Leserin

Bewertungen

Insgesamt 168 Bewertungen
Bewertung vom 26.06.2024
Zuckerbrot
Balli, Kaur Jaswal

Zuckerbrot


ausgezeichnet

Lesenswert

Bei den Begriffen „NRI“ oder „PIO“ denkt man zuerst an die Inder Großbritanniens oder an diejenigen, die in die USA ausgewandert sind.
Doch es gibt auch eine indischstämmige community in Singapur.
In „Zuckerbrot“ erzählt Pin, die in die fünfte Klasse geht, vom Leben ihrer Familie im asiatischen Vorzeigestaat. Ich muss sagen, dass die kindliche Erzählperspektive nicht immer stimmig war, unheimlich interessant fand ich aber die Story vom Vielvölkerstaat Singapur und die mühelose Erklärung des nation building Konzepts. En passant kann man viel lernen!
Parveens Eltern sind aus dem Punjab stammende Sikhs, damit ecken sie in der Mehrheitsgesellschaft oft an. Der Roman kritisiert Dogmatik und scheinbar überkommene religiöse Vorstellungen, es geht auch um familiäre Konflikte, Kindheitstraumata und patriarchale Vorstellungen. Es wird der in der Gesellschaft bestehende Rassismus kritisiert, so werden die Inder von den anderen Asiaten schlimm als „Mungalee“ beschimpft, es wird aber auch der Colourism innerhalb der indischen Gemeinde thematisiert: Ein dunkler Südinder, der womöglich noch zur falschen Kaste gehört, geht gar nicht?!
Es gefällt mir gut, dass hier kein Bollywood – Kitsch präsentiert wird; erst recht kein upper - class – Märchen.
Kochen als Stimmungsbarometer, Zuckerbrot als Soulfood: Pins Mutter kommt aus einfachen Verhältnissen, ihr Vater jobbt in einem Hotel und träumt von einem Lottogewinn. Die strenge Großmutter und die gierige Tante bedrohen Pins Familienglück. Erst recht, als die kranke Oma einzieht und Pin ihr Zimmer räumen muss. Im Verlauf der Handlung kommt es jedoch zur Emanzipation.
Die Figurenzeichnung ist gelungen, ich konnte das Buch trotz gewisser Längen bald nicht mehr beiseitelegen, weil ich die einzelnen Elemente so interessant fand, auch den Einsatz nichtenglischer Termini (obwohl ich die deutsche Übersetzung las). Besonders gefreut habe ich mich über die Karte und das Glossar am Ende.
Gerne spreche ich eine Empfehlung aus.

Bewertung vom 02.06.2024
Mord stand nicht im Drehbuch
Horowitz, Anthony

Mord stand nicht im Drehbuch


ausgezeichnet

The Twist of a Knife

„Ich habe keine Lust, drei Schritt hinter ihnen herzudackeln wie der Prinzgemahl hinter der Königin.“
Die Serie rund um Hawthorne & Horowitz gehört zu meinen Lieblingskrimireihen, ich habe alle bisher erschienenen Bände regelrecht „verschlungen“. Ich liebe Intertextualität & Metafiktion! Nun legt Horowitz den vierten Teil der Erfolgsserie vor.
Daher ist „Mord stand nicht im Drehbuch“ genau das Richtige für mich (Der englische Originaltitel „The Twist of a Knife“ gefällt mir aber besser). Wird der Privatdetektiv (und Expolizist) Daniel Hawthorne wieder ermitteln? Erzählt wird das Ganze (wie gehabt) vom real existierenden (Drehbuch) Autor Anthony Horowitz.

Der Roman ist ein gelungener Genremix. Besonders gut gefallen mir die satirischen Anteile, der Literaturbetrieb (oder allgemein der Kulturbetrieb) wird durch den Kakao gezogen. Die selbstironische Charakterisierung der Personen – der Autor ist zugleich Erzähler und Hauptfigur – macht Spaß. Horowitz und Hawthornes Beziehung ist eine Art Hassliebe, sie liefern sich witzige Wortgefechte und wirken manchmal wie ein altes Ehepaar (die deutsche Übersetzung ist recht gelungen, ich würde aber statt „man wusste nie, wo man bei ihm dran war […]“ eine andere Formulierung wählen).
Als Hawthorne Horowitz um eine Verlängerung der Zusammenarbeit bittet, lehnt der Erfolgsautor kategorisch ab, schließlich hat er bereits drei Romane verfasst (ein herrlicher Seitenhieb auf sogenannte three - book deals) und keine Lust mehr auf Hawthornes Kapriolen. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, dass er dringend auf die Hilfe des Exzentrikers angewiesen sein wird – als die Theaterkritikerin Margaret Throsby einen bösen Verriss über sein Stück „Mindgame“ publiziert und kurz darauf ermordet aufgefunden wird, ist guter Rat teuer, da sich Horowitz‘ Fingerabdrücke auf der Mordwaffe befinden. Der Autor ist gezwungen, seinen Erzfeind um Hilfe zu bitten, doch nun verweigert der Expolizist die Zusammenarbeit. Anthony Horowitz‘ Schicksal scheint besiegelt …
„Mord stand nicht im Drehbuch“ ist eine Hommage an den klassischen britischen Kriminalroman - das kammerspielartige Setting erinnert an ein Whodunit à la Agatha Christie, ich musste beim Lesen unweigerlich an Hercule Poirot und Co denken. Aber es ist in gewisser Weise auch eine Gesellschaftskritik – der Zeitgeist spielt natürlich eine Rolle. Der Kulturbetrieb wird augenzwinkernd als Jahrmarkt der Eitelkeiten (oder als Schlangengrube) beschrieben, die Krimihandlung kommt aber nicht zu kurz – es gibt überraschende Wendungen und falsche Fährten, das Ende macht aber Sinn.

Fazit:

Auch der vierte Band der Reihe rund um ein ungleiches Paar kann überzeugen. Das Gebaren der Protagonisten brachte mich nicht selten zum Lachen – wenn etwa der Ich – Erzähler behauptet, Rezensionen „nie“ zu lesen, um im nächsten Atemzug eine Besprechung dem richtigen Medium zuzuordnen, finde ich das lustig. Die Lektüre hat mir großen Spaß gemacht, da die Geschichte unterhaltsam und spannend ist. Ich freue mich schon auf den nächsten Teil!

Bewertung vom 21.05.2024
Funny Story
Henry, Emily

Funny Story


gut

Die Liebe ist ein seltsames Spiel

„Jahrzehnte, in denen ich der Welt gepanzert gegenübergetreten bin, und jetzt finde ich dieses Gefühl nicht mehr, diese Trennwand zwischen mir und allen anderen, und das ist beängstigend und befreiend und intensiv.“

Das blaue Cover (und überhaupt die verspielte Umschlaggestaltung) von Emily Henrys “Funny Story“ versprach gute Unterhaltung. Ich stellte mich auf eine witzige und heitere Lektüre à la Sophie Kinsella ein. Manchmal muss es eben Chicklit sein!
Worum geht’s?
Die Ich-Erzählerin Daphne führt durch das Geschehen. Nachdem sie von ihrem Liebsten verlassen wurde, macht sie aus der Not eine Tugend – sie gründet mit Miles, der von Petra verlassen wurde, eine WG. Daphnes Ex Peter und Petra lieben sich nämlich neuerdings. Wie der Zufall es will, sind Miles & Daphne bald gezwungen, ein glückliches Paar zu mimen – in einer Kleinstadt ist das nicht eben leicht …
Emily Henry präsentiert in „Funny Story” eine Kombination aus beliebten Stilmitteln des NA – bzw. Liebesromangenres:
Fake Dating trifft auf Kleinstadtromantik (kann man von Slow Burn sprechen, wenn die Hauptpersonen relativ schnell fast im Bett landen?). Die Charakterisierung der Figuren ist vor allem zu Beginn etwas klischeehaft geraten. Daphne ist rational und zugeknöpft (Berufsrisiko?), Miles ein liebenswerter Chaot; die Protagonisten entwickeln sich jedoch im Verlauf der Geschichte. Da ich bereits „Happy Place“ und „Book Lovers“ gelesen habe, war mir klar, dass die amerikanische Autorin versucht, Frauenliteratur mit Anspruch zu produzieren. Stilistisch kann man Henry daher am ehesten mit Mhairi McFarlane vergleichen, obwohl es bei Henry ernstere Untertöne als bei der schottischen Autorin gibt. Schon in ihrem Roman „Book Lovers“ schickte Emily Henry „Büchermenschen“ ins Rennen – die Lektorin Nora war Teil einer Small Town Romance. In „Funny Story“ kämpft die Kinderbuchbibliothekarin Daphne um ihr Glück. Anfangs ist die Geschichte noch ganz unterhaltsam. Ungefähr ab der Mitte kommt es leider zu Längen in der Erzählung, und der Handlungsverlauf ist auch nicht unbedingt unvorhersehbar. Wie in allen Romanen der Autorin (die übrigens kreatives Schreiben studierte) spielen Kindheitstraumata und ihre Auswirkungen auf das Beziehungsverhalten eine Rolle. Der Grundgedanke hinter den Geschichten der Amerikanerin ist klasse, die Umsetzung gefällt mir persönlich eher weniger. Henrys Romane finde ich insgesamt ausbaufähig; ich hatte mir von „Funny Story“ jedoch eine Steigerung versprochen, ein routiniertes Ausmerzen vorheriger Schwächen. Die Autorin schien jedoch Schwierigkeiten mit der Strukturierung der sperrigen Story zu haben. Ich hätte den Plot definitiv gestrafft; stellenweise musste ich mich zum Weiterlesen regelrecht motivieren. Für einen lockerflockigen Sommerroman gibt es zu viel Drama, vielleicht ist es einfach Geschmackssache – wenn ich problemorientierte Literatur lesen will, greife ich nicht zu Chicklit. Obwohl es ein paar nette Passagen gibt, konnte mich „Funny Story“ insgesamt nicht so richtig „abholen“.

Bewertung vom 07.05.2024
Lebenslang beweglich und kraftvoll mit Tigerfeeling
Cantieni, Benita

Lebenslang beweglich und kraftvoll mit Tigerfeeling


sehr gut

„Sie haben ein wichtiges Date - mit sich selbst!“

Vorab: Die optische Aufmachung der Publikation kann auf ganzer Linie überzeugen. Das Buch ist hochwertig verarbeitet, die Schriftgröße ist prima, die Illustrationen gelungen.
„Lebenslang beweglich und kraftvoll mit Tigerfeeling. CANTIENICA ® Körper in Evolution - Das Original.“ von Benita Cantieni ist ein Sachbuch, welches sich an ‚Best Ager‘ wendet. Die Autorin präsentiert in ihrem Programm Übungen, die Beweglichkeit, Koordination und Kraft von Senioren fördern sollen. Auch Sturzprophylaxe ist ein Faktor. Der Name der Autorin kam mir vage bekannt vor – mit einem Buch über Beckenbodengymnastik („Tigerfeeling“) hatte sie bereits in der Vergangenheit einen Bestseller publiziert.
Benitas Credo:
„Trage deinem Körper Sorge. Pflege ihn, und er bleibt herrlich geschmeidig.“
Cantieni spricht über eigene Erfahrungen, etwa über ihre Skoliose und „Arthrosen". Sie selbst „turnt“ die Übungen vor – die Fotos sind ansprechend, da auf eine affige Hochglanzästhetik verzichtet wird. Der Ton der Autorin soll motivieren und die Eigenverantwortung stärken . Es gibt kurze und lange Einheiten; eine Sequenz von sechzig Minuten erscheint jedoch (zu) lang und setzt eine gewisse Grundfitness voraus. Tägliche Übungen von zwölf Minuten Dauer sind meines Erachtens aber gut machbar. Die Bilder, Laute und Metaphern („ng,ng,ng“) mit denen Benita Cantieni arbeitet, gefallen sehr gut. Visualisierungstechniken kennt man vielleicht schon aus der Physiotherapie; dass in diesem Selbsthilfebuch der Klient (m/f) dazu angehalten wird, mit allen Sinnen zu üben , spricht für den ganzheitlichen Ansatz der Cantienica-Trainingsphilosophie (der Begriff ist wohl markenrechtlich geschützt). Es ist toll, dass man für die Gymnastik keine überteuerten Hilfsmittel benötigt – einen Hocker bzw. Stuhl hat wohl jeder Mensch zuhause. Man muss jedoch ein wenig Geduld mitbringen, auch bereit sein, im Buch zu blättern, leider gibt es keine QR-Codes oder unterstützende Onlinevideos, kein Glossar oder Stichwortverzeichnis, dafür aber weiterführende Links zu Cantienica- Workshops und -Ausbildungen.
Fazit:
„Lebenslang beweglich mit Tigerfeeling“ lädt zum Mitmachen und Dranbleiben ein!

Bewertung vom 29.04.2024
Stark gegen Ängste
Hillert, Andreas

Stark gegen Ängste


sehr gut

Kompakter Ratgeber

Zum Thema „Umgang mit Panikattacken und Ängsten“ habe ich bereits das Buch
„Frei von Angst durch die Heilung der Mitte. Das Beste aus westlicher Medizin, TCM und Yoga“ von Dr. Georg Weidinger gelesen, außerdem einen Ratgeber aus Sicht einer Betroffenen – „Liebe Angst, Zeit, dass Du gehst“ von der Ex-Fernsehfrau Annett Möller (sie arbeitet als Coach). Daher war ich auch auf den kompakten Ratgeber „Stark gegen Ängste“ von Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert gespannt; das Stiftung – Warentest – Sachbuch wirbt mit dem Slogan „Wirksame Strategien gegen Ängste, Phobien und Panikattacken.“

Erster Eindruck:

Das grasgrüne Cover finde ich nicht unbedingt ansprechend, die Farbgebung ist mir zu unruhig, aber man erhält bereits auf den ersten Blick relevante Informationen – der Autor ist Chefarzt und Psychotherapeut. Es ist wichtig, dass es sich hier tatsächlich um einen Fachmann handelt, da der Markt derzeit von Coaches „überschwemmt“ wird, die mehr oder weniger qualifiziert sind. Meines Erachtens kann nur ein Arzt die neurologische Dimension einer Angststörung richtig einordnen.
Besonders gut gefällt mir die Gliederung des Buches, es besteht aus sieben Kapiteln, dabei ist die Auswahlliteratur am Ende ein Ausdruck von wissenschaftlicher Redlichkeit, das Register ist sehr hilfreich, wenn es darum geht, schnell eine Information zu finden.
Der Text ist angereichert mit Symbolen (die eingangs erklärt werden) und passenden Illustrationen. Es gibt die Möglichkeit, in vorgedruckten Feldern eigene Erfahrungen (etwa zu Vermeidungsstrategien) einzutragen. Mit dem Buch kann man also arbeiten, der Satz „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist hier keine leere Phrase.

Zum Inhalt:

Die Quintessenz des Ratgebers wird schon im ersten Kapitel benannt: ‚Keine Angst vor der Angst!‘
Der Text ist gut lesbar, da der Autor einerseits zwar auf Fachchinesisch verzichtet, andererseits aber auch nicht in einen flapsigen Jargon verfällt.
Sehr wichtig ist auch der Rat, dass man „Vermeidung vermeiden“ möge, und dass es möglich ist, „Ängsten ganz neu [zu] begegnen.“ Das Sachbuch endet mit einem motivierenden Mantra – „Geben Sie nicht auf!“, wobei Hillert allgemein auch auf das Vorhandensein von Apps eingeht, die seit der Pandemie Hochkonjunktur haben.

Meine Meinung:

Vorab: Auf unseriöse Heilsversprechen wird komplett verzichtet.

„Stark gegen Ängste“ ist ein kompakter Ratgeber, in welchem in konziser Form Hilfestellung geboten wird. Hier wird mit Sinn und Verstand agiert („Freunden Sie sich mit ihrer Angst an!“). In knappen Kapiteln werden die Begleiterscheinungen und Ursachen von Angststörungen erörtert, wobei es glücklicherweise kein esoterisches Blabla oder gar Coachingkauderwelsch gibt. Es wird auf die sozialen und körperlichen Aspekte von Panikattacken hingewiesen, so kann etwa die Schilddrüse eine Rolle spielen. Ich hätte mir jedoch eine noch ausführlichere Einordnung gewünscht vor allem bei der neurologischen Dimension von Angsterkrankungen. Welche Rolle spielen etwaige Hirnschäden genau bei der Entstehung einer ängstlichen Persönlichkeit? Insgesamt werden diverse Hilfsangebote vorgestellt, auch Medikamente werden nicht ausgespart, aber auch nicht zum Allheilmittel verklärt.
Andreas Hillerts Publikation will vor allem ein praktischer Leitfaden sein, daher sollte man keinen medizinhistorischen Abriss erwarten.

Fazit:

„Stark gegen Ängste“ ist ein empfehlenswertes Sachbuch. Der Leser erhält wissenschaftlich fundierte Informationen und zugleich eine Hilfestellung auf Augenhöhe.

Bewertung vom 19.04.2024
Happy Hour
Granados, Marlowe

Happy Hour


gut

Summer in the city

„Der amerikanische Barkeeper entpuppte sich als doch ziemlich skrupellos und suchte am Ende doch bloß wieder eine Frau mit einer Wohnung. Ich wiederum suchte Zerstreuung, doch dafür erinnerte er mich zu sehr an mich selbst. “

Isa & Gala wollen das pralle Leben genießen, daher reisen die beiden Twens von London nach New York. Da sie kein Arbeitsvisum erhalten, müssen sie allerlei dubiose Jobs annehmen; etwa als Aktmodell. Außerdem verkaufen sie Waren auf dem Markt. Einer ihrer Mitbewohner verkündet, weißen Frauen könne man nicht trauen, woraufhin die einundzwanzigjährige Ich-Erzählerin Isa (es wird auf ihre Herkunft/Hautfarbe angespielt) kontert, dass Gala für eine Weiße ziemlich leiderprobt sei (die Critical Race Theory lässt grüßen), da gebürtig aus „Ex-Jugoslawien“ stammend. Ein Roman über junge Menschen, für junge Menschen? Einen Sommer lang wollen sich die Mädels die Drinks finanzieren lassen und einfach Spaß haben. Hedonismus pur!
Doch unter der Oberfläche brodelt eine große Unsicherheit, außerdem gibt es im 21. Jahrhundert immer noch so etwas wie Klassenschranken und soziale Ungerechtigkeit, da ist die Ansage, dass die Welt ein Dorf sei, eigentlich nur das hohle Geschwätz der Privilegierten. Vordergründig ist „Happy Hour“ ein spritziger Sommerroman. Wenn man zwischen den Zeilen liest, ist er aber auch eine Milieustudie, ein Gesellschaftsroman & ein sozialkritischer Kommentar. Es werden auch psychologische Profile entworfen, da die Geschichte eher character – driven als plot – driven ist, wirkt die Haupthandlung wie eine Aneinanderreihung von oberflächlichen Ereignissen, eine Party jagt die nächste; die Erzählung will aber gar keine Chronik der Begebenheiten sein. Ist alles mehr Schein als Sein? „Es ist so viel einfacher, sich albern und leichtfertig zu geben, als wirklich die Summe der eigenen Erfahrungen zu sein.“ Stil und Sprache in „Happy Hour“ passen zum Sujet, ich hätte mir stellenweise jedoch ein wenig mehr Abwechslung gewünscht, da sich die Szenen wiederholen, der episodenhafte Charakter der Erzählung legt nahe, dass die story als Film womöglich besser funktioniert, die Handlung erstreckt sich von Mai bis September.
Jammern auf hohem Niveau?
Ob „Happy Hour“ gelungene Weltschmerz - Literatur ist, muss jeder Leser für sich entscheiden. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche wird meines Erachtens in Emma Clines „Die Einladung“ pointierter dargestellt, insofern ist der Sommerroman („Happy Hour“ findet wie Emmas Roman, in welchem die Heldin um jeden Preis ein Ticket für die Hamptons lösen will, auch vor dem Hintergrund einer Hitzewelle statt) Clines die bessere Kapitalismuskritik. Marlowe Granados versucht komplexe Figuren zu erschaffen, weswegen sie die Freundschaft von Gala & Isa als eine Art Hassliebe präsentiert. Diese mehr oder weniger toxische Beziehung erinnerte mich an die Verbindung der Protagonistinnen in Lana Bastašićs „Fang den Hasen“, insofern ist Granados‘ Ansatz so innovativ auch wieder nicht, die Autorin hätte insgesamt mehr aus der Geschichte machen können.

Bewertung vom 21.02.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

"Wäre ich dann noch ich?"

„Das haute mich ziemlich um. […] Das Einzige, worauf ich mich hatte verlassen können, war, dass ich ein Idiot war. Und jetzt sollte ich das bisschen, das von Demon noch übrig war, wegschmeißen und intelligent sein? Wäre ich dann noch ich?“

Ein Blick in den Klappentext des Romans „Demon Copperhead“ ließ mich sofort an J.D. Vances „Hillbilly – Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise.“ denken, da es thematisch durchaus Überschneidungen gibt. (Die Verfilmung der „Hillbilly - Elegie“ ist übrigens sehenswert, Glenn Close verkörpert ganz großartig eine streitbare Matriarchin.) Auch „Befreit: Wie Bildung mir die Welt erschloss“ (“Educated: A Memoir“) von Tara Westover könnte man mit dem Roman vergleichen, da die Wichtigkeit einer guten (Aus)Bildung betont wird, als Schlüssel zur Emanzipation. Natürlich kam mir der Film „Forrest Gump“ ebenfalls in den Sinn.

Doch zurück zu „Demon Copperhead“, das in Kern ein David-Copperfield- Retelling ist:

Ein Ich-Erzähler führt durch das Geschehen. Damon („Demon“) Fields wird als Kind einer drogenabhängigen Mutter in West Virginia geboren (der Vater ist tot), in einem Trailerpark. Als er elf Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Die verarmten Bewohner, die man auch an den Rändern der Appalachen findet, werden oft abschätzig als „White Trash“ oder „Hillbillies“ bezeichnet, obwohl diese Menschen nicht selten einen starken Familiensinn und eine große Hilfsbereitschaft aufweisen. Die abfällige Rede von “flyover states“ ist da nicht hilfreich. Außerdem – sind diese Angehörigen der Arbeiterklasse schuld daran, dass ganze Industrien weggebrochen sind (man denke nur an die ehemalige ‚Motor City‘ Detroit oder den Niedergang der Kohleindustrie)? Nicht jeder kann sich ein kostspieliges Studium leisten, wenn Jobs nach Fernost abwandern, ist die Arbeitslosigkeit vorprogrammiert und das Abrutschen in die Sucht nicht weit - dennoch wird in „Demon Copperhead“ auch die Eigenverantwortung betont, aber eben auch die Schwäche des Turbokapitalismus aufgezeigt, die Gier der Pharmaindustrie, die für die Opioid-Krise in den USA mitverantwortlich ist. Man sollte jedoch nicht den Fehler machen, das Ganze als amerikanisches Problem abzutun. Soziale Ungerechtigkeit gibt es auch in Europa.
Ist Demons Lebensweg vorgezeichnet? Er durchläuft die klassischen Stationen eines Kindes aus der Unterschicht, wechselnde Pflegefamilien und Armut prägen seinen Alltag, natürlich bleibt auch die Drogensucht nicht aus. Aber es gibt auch schöne Momente, bei aller Tragik auch Komik und ein Fünkchen Hoffnung. Das Besondere an „Demon Copperhead“ ist die sprachlich – stilistische Ausarbeitung durch die Autorin Barbara Kingsolver.
Nie driftet die Erzählung ins Kitschige ab, und es ist auch kein Inspirationsklischee, das präsentiert wird. Das Stilmittel des zunächst kindlichen Erzählers, dessen Weltsicht naturgemäß eingeschränkt ist, hat sich in Film und Literatur natürlich bewährt. Trotzdem wirkt es in „Demon Copperhead“ nicht wie ein abgedroschenes Erzählinstrument, und im Coming of Age - Genre bietet es sich natürlich an, nicht einen allwissenden Betrachter sprechen zu lassen.

Fazit: „Demon Copperhead“ ist ein lesenswerter Roman. Komik trifft auf Tragik; daher empfehle ich die berührende Geschichte gern zur Lektüre.

Bewertung vom 07.01.2024
Zero Days
Ware, Ruth

Zero Days


gut

Jack gegen den Rest der Welt

„Mein Magen verkrampfte sich. Ich nahm das Handy.“
Wenn ich Lust auf gute Unterhaltung habe, greife ich gerne zu den Krimis von Ruth Ware. In jedem ihrer Romane kombiniert die Autorin bewährte Stilmittel mit modernen Komponenten. Ich habe bereits „Das Chalet“ gelesen. In diesem Roman ging es um Mord in einem abgelegenen Skiresort – das kammerspielartige Setting versprach Spannung. Auch „Hinter diesen Türen“ ist ein Krimi, der mein Interesse wecken konnte. In diesem Roman gab es eine unzuverlässige Erzählerin, das Spukhaus – Motiv wurde durch Smart Home Gadgets aufgepeppt. In „Zero Days“ ist die Protagonistin Jägerin und Gejagte zugleich – auch dieses Erzählelement hat sich in der Kriminalliteratur bewährt, vor dem Hintergrund der Cyberkriminalität erhält dieses altbekannte Stilmittel jedoch einen modernen Anstrich.
Worum geht’s?
Die Ich-Erzählerin Jacintha (Jack) Cross führt durch das Geschehen. Zusammen mit ihrem Ehemann Gabe testet sie die Sicherheitssysteme großer Unternehmen. Doch eines Tages kommt es zur Katastrophe – Jack findet ihre große Liebe ermordet am Schreibtisch vor, der jungen Frau bleibt nur die Flucht durch London. Wer ist Freund, wer Feind? Eins ist klar – die Protagonistin muss den Mörder ihres Mannes finden, zu diesem Zweck kontaktiert sie Gabes besten Freund Cole. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, der Countdown läuft – auch formal …
Wares Erzählweise ist durchaus fesselnd – die Autorin entwirft routiniert ein interessantes Szenario, sie benötigt jedoch Zeit, um die Geschichte zu gliedern, daher bleiben Längen leider nicht aus. Sprachlich und stilistisch ist das Ganze (wie so oft in diesem Genre) aber eher simpel; stellenweise liest sich „Zero Days“ wie ein Actionfilm in Buchform, manche Szenen wirken etwas übertrieben. Am besten gefiel mir die gesellschaftskritische Dimension der Geschichte, insgesamt war mir die story aber nicht raffiniert genug und das Ende der Erzählung lässt mich etwas unbefriedigt zurück.

Bewertung vom 08.12.2023
Book Lovers - Die Liebe steckt zwischen den Zeilen
Henry, Emily

Book Lovers - Die Liebe steckt zwischen den Zeilen


gut

Auf der Plattform Goodreads.com wurde Emily Henrys „Book Lovers - Die Liebe steckt zwischen den Zeilen” als bester Liebesroman des Jahres 2022 ausgezeichnet. Daher wollte ich den Roman unbedingt lesen, et voilà, er ist endlich auf Deutsch erschienen.

Worum geht’s:

Die New Yorker Literaturagentin Nora Stephens macht mit ihrer schwangeren Schwester Libby notgedrungen einen Mädelsurlaub in Sunshine Falls. Die Kleinstadt ist der Schauplatz von Libbys Lieblingsroman (sie ist seit ihrer Kindheit eine ebenso große Leseratte wie Nora, liest aber anders als ihre Schwester nicht das Ende zuerst). Es gibt nichts, was die zynische Nora nicht für ihre kleine Schwester tun würde, sie hätte allerdings nie damit gerechnet, den smarten Lektor Charlie Lastra (bei einem Arbeitstreffen wirkte er auf die Protagonistin sehr unnahbar) dort zu treffen. Das Credo lautet: Keine Liebesbeziehung unter Kollegen, Nora ist sowieso ein gebranntes Kind in Herzensdingen. Und doch funkt es ganz gewaltig zwischen Nora und Charlie…

Ich habe mich sehr auf die Lektüre gefreut und ich hoffte, eine unterhaltsame RomCom à la Kinsella oder Evanovich lesen zu dürfen. Stilistisch kann man Henry aber am ehesten mit McFarlane vergleichen, obwohl es bei Henry ernstere Untertöne als bei der schottischen Autorin gibt. Mit „Book Lovers“ will Emily Henry die klischeehaften Erzählelemente von Liebesromanen karikieren und Erwartungen ad absurdum führen, was ihr bedingt gelingt. Seit der Lektüre von „Much Ado About Nothing“ liebe ich witzige Wortgefechte und banter. Hier wurde ich jedoch enttäuscht, da sich Nora auch mit ihrer Schwester verbal kabbelt, daher verpufft das Dialogfeuerwerk mit Charlie. Meinen Humor trifft Emily Henry auch nicht, die Witze waren für meinen Geschmack nicht geistreich genug. Als ich las, dass die Protagonistin Nora heißt, war mein erster Gedanke „Nora Ephron“, was von der Heldin auch bestätigt wird. Ich hätte mir mehr literarische Anspielungen gewünscht, da die Lovestory eine Geschichte für Buchnerds sein will, auch die metafiktionale Ebene ist ausbaufähig. Am nervigsten fand ich aber die melodramatischen Handlungsaspekte, obwohl das Ansinnen der Autorin, toxische Beziehungen und Selbstsabotage sozialkritisch zu beleuchten, begrüßenswert ist. Chicklit darf auch ernste Untertöne haben, ich will aber nichts über Kindheitstraumata schon in der Exposition lesen. Noras nervöse Unruhe bezüglich ihrer Schwester hat mich beim Lesen richtig deprimiert. Emily Henrys Versuch, so etwas wie Unterhaltungsliteratur für Frauen mit Anspruch zu schreiben, geht gründlich in die Hose. Sie scheint sich nicht so richtig für ein Genre entscheiden zu können. Ich bin auch kein Fan von Schleichwerbung in Büchern, „Book Lovers“ ist stellenweise eine wandelnde Pelotonbike-Reklame. Der Stil der Autorin ist einigermaßen sperrig, auch die deutsche Übersetzung trägt mit Ausdrücken wie „Fahrradfahrende“ nicht gerade zu einem flüssigen Leseerlebnis bei. Schade!
Ist „Book Lovers“ der Flop des Jahres 2023? Die Grundidee ist gut, insgesamt gefiel mir die Story auch besser als Henrys langatmiges „Happy Place“.

Fazit:

Don’t believe the hype.

Bewertung vom 19.11.2023
Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen / Die mörderischen Cunninghams Bd.1
Stevenson, Benjamin

Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen / Die mörderischen Cunninghams Bd.1


sehr gut

„Liebe Leser, ich habe selbstverständlich Arthur Conan Doyle gelesen, aber formal betrachtet gehört er nicht in das, was wir das Das Goldene Zeitalter der Kriminalliteratur nennen. Also habe ich darauf verzichtet, über ihn zu schreiben, obwohl meine Ermittlungen sich an seiner Methode orientieren.“

Benjamin Stevensons „Die mörderischen Cunninghams. Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen“ wollte ich unbedingt lesen. Der Verlag verspricht, der Krimi sei eine Mischung aus ‚Knives Out‘, dem ‚Donnerstagsmordclub‘ und den murder mysteries von Agatha Christie. Als großer Fan von von Hercule Poirot (Die Serienadaption „Agatha Christie’s Poirot“ mit dem großartigen David Suchet gehört übrigens zur besten Fernsehunterhaltung ever!) war ich sofort angefixt. Mit Beginn der Lektüre war ich dann angenehm überrascht, da ich Metafiktion liebe. Außerdem gibt es im Roman patchworkartige Anteile, was mir gut gefiel.

Worum geht’s?

Der Ich – Erzähler Ernest “Ernie“ Cunningham führt durch das Geschehen (diese Erzählperspektive mag ich tatsächlich am liebsten). Äußerst ungern nimmt er an einem Familientreffen teil, hatte er doch seinen Bruder Michael wegen Mordes angezeigt und „gesungen.“ Seine Familie sieht in dem Autor, der Anleitungen zum Krimischreiben verfasst, einen Nestbeschmutzer. Blut ist dicker als Wasser? Der berühmt - berüchtigte Cunninghamclan hat sozusagen Leichen im Keller, als jedoch bei einem Meeting in einem eingeschneiten Skiressort eine echte Leiche gefunden wird, sieht Ernest seine Chance gekommen. Kann er den Fall lösen und so seinen Ruf retten?

Der Roman ist mehr als ein Krimi, es handelt sich wie gesagt um Metafiktion mit literaturhistorischen und literaturtheoretischen Hinweisen, ist es gar Satire, eine Persiflage? Bestenfalls eine humorvolle Hommage an große Vorbilder? Manche Passagen ließen mich schmunzeln:

„‚Andernfalls müssen wir ihn mit einem ihrer Hardcover-Bücher erschlagen.‘ ‚Es sind E-Books,‘ sagte ich kläglich. ‚Ich bin Self-Publisher.‘“ (S.151).

Das Whodunit mit dem kammerspielartigen Setting ist ebenso altmodisch wie modern – schon die Tatsache, dass der Held betont, ein zuverlässiger Erzähler zu sein, wirkt schwer verdächtig. Der Protagonist spricht den Leser oder die Leserin nicht selten direkt an, auf manche Rezipienten mag das geschwätzig wirken, ich aber mochte das Stilmittel, allerdings muss ich sagen, dass der hauptberufliche Komiker Benjamin Stevenson nicht ganz an einen Anthony Horowitz heranreicht (auch Horowitz hat eine sehr vergnügliche Krimireihe publiziert, in der ein Autor - Horowitz himself - mittendrin statt nur dabei ist; allerdings ist sein Protagonist kein Sachbuch-Schriftsteller wie Ernest Cunningham). Bis der Fall gelöst ist, muss Ernest richtig ackern, es gibt Wendungen und Twists, und die zahlreichen Handlungsstränge werden am Ende (mehr oder weniger zufriedenstellend) zusammengeführt. Ich denke aber, dass sich der Roman im englischen Roman noch besser liest. Auf den zweiten Band der Reihe bin ich schon gespannt!