Die schwangere Ruth verlässt nach dem Verschwinden ihres Partners Ende der 1960er Jahre Ostberlin, weil ihr Vater das fordert. Sie findet in dem kleinen mecklenburgischen Dorf eine neue Heimat, freundet sich mit Hannah an. Ihre Kinder Jule und Andi wachsen zusammen auf, sind beste Freunde und verlieben sich ineinander. Die Handlung begleitet die Figuren des Dorfes, vor allem Jule und Andi, über mehr als dreißig Jahre hinweg, vom Aufwachsen im ländlichen Osten bis in die Zeit nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Jules Drang, die Welt zu sehen ist deutlich größer als Andis, und nach dem Mauerfall verlässt sie die Region, begibt sich auf Spurensuche zum Familiengeheimnis, während Andi in ihrem Dorf verharrt.
Begeistert hat mich, mit wie viel Warmherzigkeit es Laura Maaß zu Beginn des Buches gelingt, ihre Figuren zu zeichnen - ihre Verschrobenheiten und Widersprüche machen sie liebenswert, ich habe fast alle ins Herz geschlossen. Das ist mir bei einem Roman so noch nicht passiert. Dieser Anfang ist für mich deshalb die große Stärke des Buchs.
Dieser liebevolle (und natürlich auch nicht wirkliche realitätstreue) Umgang mit der Handlung, der für mich die besondere Schönheit der Erzählung ausmacht, kippt aber leider ab dem Punkt, an dem Jule in die Welt zieht, ins völlig Unglaubwürdige (aus allen möglichen Gründen, die ich hier nicht ausführe, weil ich sonst den Fortgang der Geschichte spoilern würde. Nur so viel zu einem der Aspekte: Echt jetzt - x Jahre? Das Festnetztelefon als Rechercheinstrument war ja vor der Jahrtausendwende durchaus schon erfunden), was ich dann zunehmend unerfreulich fand. Im Ergebnis lässt das Buch mich daher ein bisschen zwiegespalten zurück. Wegen des wirklich tollen Leseerlebnisses im ersten Teil bleibe ich trotzdem bei 4 Sternen.
„Adlergestell“ erzählt von drei Mädchen – Lenka, Chaline und der namenlosen Erzählerin – die in den frühen 1990er-Jahren an der Ausfallstraße Adlergestell in Ost-Berlin aufwachsen. Im Mittelpunkt stehen ihre Kindheitserfahrungen in der unmittelbaren Nachwendezeit: Die Mädchen und ihre Angehörigen müssen sich in einer Welt voller Umbrüche orientieren. Die meisten Protagonist:innen in Laura Laabs Geschichte stehen der „Wende“ kritisch gegenüber. Das hebt die Erzählung aus dem Einheitsbrei heraus. Nach einer Zeit des Zusammenwachsens werden die Freundinnen getrennt. Alle entwickeln sich unterschiedlich, aber zeitgemäß. Die Erzählerin blickt auch darauf, was aus ihnen geworden ist. Manches deutet darauf hin, dass das Buch zum Teil autofiktionale Züge haben könnte. Deshalb macht es mir nicht so große Sorgen, dass die Figur der Erzählerin zum Schluss politisch ziemlich nach rechts-egal abdriftet.
Die Erzählung hat mir insgesamt gut gefallen – insbesondere die guten Beobachtungen aus vorgeblich kindlich naiver Sicht zu sozialen und politischen Verhältnissen und Veränderungen in der Wendezeit. Die Autorin schafft es, die Verunsicherung vieler Menschen und das Sich-Arrangieren in dieser Zeit authentisch einzufangen. Auch der sehr pointierte, etwas lakonische Schreibstil gefällt mir sehr.
Leider führt der Verlagstext ein bisschen in die Irre: Wer hofft, im Roman mehr über die Entwicklung der drei Mädchen zu erfahren, wie sie zu den Erwachsenen wurden, die sie letztlich sind, wird von der Erzählweise und Struktur des Romans enttäuscht. Die Kindheitserinnerungen und Impressionen bleiben oft fragmentarisch – die Biografien der drei stehen nur punktuell im Mittelpunkt. Was die Freundinnen verbunden hat und warum sie wurden, wer sie heute sind, wird nicht geklärt, allenfalls angedeutet. Der Fokus wandert immer wieder auf Zeitgeschichte als Gesamtbild und die Randfiguren (was sehr interessant ist), aber auch auf vielschichtige Paarbeziehungen der erwachsenen Erzählerin, die selbstverständlich einen Bezugspunkt im Aufwachsen am Adlergestell haben, deren Relevanz für die Geschichte sich mir aber nur in Bruchteilen erschließt.
Dennoch ein Buch, das bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlässt und wichtige Fragen nach Identität, Veränderung sowie zum ebenfalls thematisierten gesellschaftlichen Umbruch der „Wende“ stellt.
Tolle Frau
Jacqueline Kornmüller erzählt vom Leben ihrer Großmutter Lina und von ihrer sehr engen Beziehung zu dieser. Lina hat sich aus ärmlichsten Verhältnissen zur Hoteleigentümerin hochgearbeitet. Die Erzählung beginnt wirklich interessant und facettenreich, mit der harten Jugend der Großmutter. Lina wird als ganz außergewöhnliche, anziehende Persönlichkeit herausgestellt. Der sozialkritisch daherkommende Einstieg mit Linas Aussage "So eine Armut, wie ich sie als Kind erlebt habe, gehört verboten" wird allerdings nicht weiter verfolgt. Die kurzen lakonischen Sätze gefallen mir gut, es gibt aber fuer meinen Bedarf zu häufig knapp aufeinander folgende Begriffsdopplungen. Das Buch liest sich schnell weg. Die Geschichte hat sehr viel Potential - Lina war offenbar eine beeindruckende Frau. Das von Kat Menschik gestaltete Cover ist (wieder einmal) großartig.
Kraftvoll
„Wohin du auch gehst“ von Christina Fonthes hat mich tief bewegt. Das Buch erzählt sehr authentisch von Bijoux und ihrer Tante, die zwischen Kinshasa und London zerrissen sind – zwischen familiären Erwartungen, religiöser Prägung und der Suche nach der eigenen Identität. Besonders beeindruckt hat mich, wie facettenreich und lebendig Fonthes das Leben in Kinshasa schildert. Ich habe viel über den Alltag dort, die gesellschaftlichen Zwänge und die Rolle politischer Unsicherheit gelernt. Die Themen Migration, Queerness und Familie werden sehr klischeefrei behandelt. Die Figuren fühlen sich echt an, ihre Sehnsüchte und Konflikte haben mich berührt. Der Roman lässt außerdem Kinshasa sehr nah und greifbar werden.
Ein ruhiges Buch legt Annett Gröschner hier vor - aber absolut kein langweiliges. Ein Buch über ein typisches und auch nicht nur typisches Frauenleben in den 1930er bis 1990er Jahren. Typisch an Hanna ist, dass sie sich als Mädchen aus kleinen Verhältnissen durchschlagen muss, viel Arbeit, Sorge und Härten erlebt, sechs Kinder zur Welt bringt und noch öfter schwanger wird, ohne das zu wollen. Ihre Schwestern konnten sich ihre Leben etwas dadurch erleichtern, dass sie Ehemänner wählten, die ihnen einen sozialen Aufstieg ermöglichten. Hanna wurde direkt nach der ersten gemeinsamen Nacht mit ihrem Verehrer Karl schwanger, deshalb mussten die beiden heiraten. Und Karl verlor schon kurz nach der Heirat seine Arbeit - die wirtschaftlich schwierigen 30er Jahre. Auch politisch schwierig ist die Zeit - aber da versucht Hanna sich durchzulavieren, den Mund zu halten, möglichst nicht aufzufallen. Wie auch später in der DDR und nach dem Mauerfall.
Der womöglich untypischer erscheinende Teil von Hannas Leben hängt damit zusammen, dass sie den Lebensunterhalt der Familie sichern muss. Untypisch erscheint das allerdings nur, wenn das 50er-60er-Jahre-Westdeutschland als Maßstab genommen wird.
Zuerst hilft Hanna ihre Liebe zu Blumen - und dass sie ein Händchen dafür hat, außergewöhnliche Sträuße zu entwerfen. Sie führt ihren eigenen Blumenladen. Später muss sie als Putzfrau arbeiten, bevor sie letztlich Kranführerin werden kann.
Die Liebe zu Blumen zieht sich durchs Buch. Auch indem alle Kapitel Blumen (und Tieren) aus einem Gemälde von Bosschaert zugeordnet sind.
Hannas Geschichte ist nicht spektakulär, aber interessant.
Sarah Lorenz hat mit ihrem Debütroman kein leichtes, sondern ein ergreifendes und fesselndes Buch vorgelegt. Ihre Protagonistin Elisa bewundert die Dichterin Mascha Kaleko, die wie z. B. Irmgard Keun der Neuen Sachlichkeit zugerechnet wird. Die Abschnitte ihres Romans leitet Sarah Lorenz mit Gedichten von Mascha Kaleko ein. Elisas Ideenwelt wird stark von Mascha bestimmt, und sie richtet sich daher auch in ihrer gedanklichen Auseinandersetzung an sie. Elisa selbst hat harte Zeiten durchlebt und ist davon geprägt – die Triggerwarnung im Buch weist gleich schon darauf hin, dass der Roman um diese Härten kreist. Deshalb will ich hier auch keine Details vorwegnehmen. Das Buch hat mir mit all seinen bzw. Elisas Höhen und Tiefen gut gefallen.
Nora Blum hat nach ihrem Psychologiestudium zunächst mit Freundinnen eine Online-Therapieplattform aufgebaut und vermarktet, die schnell Anerkennung fand (nicht zuletzt wegen des großen Mangels an zeitnah verfügbaren Therapieplätzen). Mit Anfang 30 ist sie dann aus ihrem aufreibenden CEO-Leben erst einmal ausgestiegen und hat sich der „Radikalen Freundlichkeit“ verschrieben, die sie auch in einem Podcast propagiert. Ihr Buch dazu ist ausdrücklich Berlin gewidmet – der Stadt, in der sie lebt, und die mehr als nur ein bisschen Freundlichkeit im Umgang der Menschen miteinander sehr gut brauchen kann. Nora Blum erläutert nicht nur ausführlich, worum es ihr geht und was sie unter Radikaler Freundlichkeit versteht: Denn Radikale Freundlichkeit bedeutet für Nora Blum nicht „immer nur Lächeln“ und Zurückstecken, sondern empathische Authentizität und liebevolles Für-sich-selbst-einstehen. Sie analysiert aber nicht nur, sondern gibt auch Tips, zum freundlich zu sich selbst sein, wie sich freundlich Nein sagen lässt, wie Konflikte freundlich auszutragen sind etc. All das ein Ansatz, der so alltäglich klingt, dass wir auch selbst schon hätten drauf kommen können. Sind wir aber häufig genug nicht.
Lara und Ingo sind mit ihren Kindern von Hamburg aufs Land gezogen. Das große Glücksgefühl hat sich daraus aber für sie nicht ergeben. Lara hatte auf Anschluss und unkomplizierte Zugehörigkeit in der ländlichen, dörflichen Gemeinschaft gehofft. Das war aber kein Selbstläufer. Ingo macht die weite Pendelstrecke nach Hamburg zu schaffen. Mit dem ersehnten Idyll hapert es ganz deutlich. Alle – auch die Dorfbewohner, die nach und nach vorgestellt werden – kämpfen und hadern, mal mehr mal weniger, mit ihren Leben. Und dann läuft Ingo noch eine weiße Hirschkuh vors Auto. Ob die Dorfbewohner daran glauben, dass das den Tod innerhalb eines Jahres für die Person, die die Hirschkuh getötet hat bedeutet (und: Ingos Tod? Oder Uwes Tod?), oder überzeugt sind, dass das nur Aberglaube ist – der Vorfall wirkt wie ein Katalysator, das Gefüge wankt. Martina Behm erzählt in ihrem Romandebut nicht nur von den zugezogenen Städtern, sondern auch so einiges über die Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen. Allen zieht sie ein Stück weit die Maske vom Gesicht und zeigt die Doppelbödigkeiten ihrer Leben. Ihr gelingt es, die Befindlichkeiten der handelnden Personen - die Diskrepanz zwischen Sein und Schein - im Detail auszuleuchten. Ein ruhiger, aber wegen der Genauigkeit des Blicks wirklich interessanter Roman.
Wirklich schön aufgemacht.
Survival Siglinde aka Christine Rauch hilft, wild wachsende Nutzpflanzen in der näheren Umgebung zu entdecken. Sie gibt Infos zu Inhaltsstoffen und Wirkungsweise, Auffindbarkeit, Geschmack der beschriebenen Pflanzen. Am Ende des Buches gibt es sogar einen Rezeptteil, und auch bei den einzelnen Pflanzen sehr viele Hinweise zur Verwendung und Rezepte.
Von Survival Siglinde hatte ich vorher noch nichts gehört. Toll, dass sie die Pflanzenbestimmung vor der Haustür populärer macht. Das Buch ermöglicht durch die verspielte grafische Gestaltung nochmal einen leichteren Zugang.
Am Anfang fand ich die Pflanzenzeichnungen (die hat Ernestine Donnerberg umgesetzt) toll, weil es so auch möglich war, Details gezielt heranzuzoomen. Nachdem ich mir alle Pflanzen angeschaut hab, habe ich aber nicht den Eindruck, dass ich mit dem Buch Pflanzen, die ich nicht ohnehin schon kenne, erkennen und bestimmen kann. Das kann dann auch riskant werden, wenn z. B. Bärlauch mit Maiglöckchen verwechselt wird. Gerade in dem Punkt hätte ich mir im Buch auch noch etwas deutlichere Warnungen gewünscht.
Also: hübsch gemacht, aber letztlich braucht es dann doch zusätzliche Hilfsmittel für eine verlässliche Pflanzenbestimmung.
Florentine Anders zeichnet ein Stück Familiengeschichte der Henselmanns nach. Hermann Henselmann war der von der Bauhaus-Architektur geprägte Architekt, der für einige der bekanntesten repräsentativen Bauten Ost-Berlins und der DDR verantwortlich zeichnete, unter anderem Prachtbauten auf der seinerzeitigen Stalinallee, das großartige Kongresszentrum am Alexanderplatz sowie die Entwurfsidee des Berliner Fernsehturms. Florentine Anders ist die Enkelin von Hermann Henselmann, so dass die biografische Erzählung einigermaßen authentisch sein dürfte. Die Geschichte geht zurück bis in die Jugend von Großmutter Isi und Mutter Isa und begleitet natürlich auch die Entwicklung von Hermann Henselmann ab der Weimarer Republik, durch die Zeit des Nationalsozialismus bis zu seiner Position in der DDR. Henselmann lebte bis 1995. Seine zeitgeschichtliche Rolle blieb mitunter umstritten, und seine Rolle in der Familie ließ einiges zu wünschen übrig. Es verwundert nicht so sehr, dass Florentines Fokus ganz wesentlich auch auf ihrer Mutter Isa liegt. Das Buch gibt also einen sehr interessanten Einblick nicht nur in Leben und Schaffen dieses bedeutenden Architekten, sondern auch in das soziale Umfeld, das ihn prägte und das wiederum er maßgeblich prägte. Ein sehr, sehr spannendes Buch für alle, die bisher schon ein Auge für Henselmanns Werk hatten - und sicher ein interessanter Zugang für alle, die zu diesem Werk erst durch die Erzählung etwas erfahren. Das Buch ist sehr eingängig geschrieben, ich war in Windeseile durch. Und sein Cover ein weiteres Meisterwerk von Kat Menschik - auch das toll!
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