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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 859 Bewertungen
Bewertung vom 19.11.2024
Die Projektoren
Meyer, Clemens

Die Projektoren


weniger gut

Masse und Komplexität als Manko

Der mit einigem Abstand ‹gewichtigste›, für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominierte Roman ist «Die Projektoren» von Clemens Meyer, acht Jahre habe er daran gearbeitet, lies er verlauten. Dass Masse nicht vor Klasse steht konstatierten die Juroren überdeutlich, indem sie Martina Hefters vergleichsweise «schmalbrüstigen» Roman gegenüber den 1041 Seiten von Meyers Epos literarisch höher bewertet und folglich auch mit dem Preis bedacht haben. Was dann zum Eklat bei der feierlichen Preisverleihung im Frankfurter Römer führte, wo Meyer lautstark den Preis für sich reklamierte, eine höchst peinliche Szene von Unbescheidenheit, die bei ihm aber nicht ganz ungewöhnlich ist. Schade, denn die Feuilletons sind sich im Lob einig wie selten. Man konnte lesen, dass der Roman «Die Projektoren» das Zeug zum Klassiker habe, ja sogar eine Wegmarke der deutschen Literatur dieses Jahrzehnts darstelle. Ist er darin gar dem «Zauberberg» vergleichbar, wie ein Kritiker euphorisch geschrieben hat?

Der Roman umfasst die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die Jetztzeit hinein. Örtlich ist er im Balkan angesiedelt, in Novi Sad im damaligen Jugoslawien, in dessen Kino sich die titelgebenden Projektoren befinden, die erzählerisch wiederum zu den dort gezeigten Filmen und deren Darstellern hinleiten. Die Eingangs-Szene bildet ein Gespräch in einer Leipziger Irrenanstalt, an dem ein Patient namens Dr. May beteiligt ist, dessen Romane und Verfilmungen wiederum auf die deutsch-jugoslawischen Western verweisen, die an dortigen Schauplätzen gedreht wurden, Winnetou lässt grüßen! Dazu passt denn auch, dass sich der Haupt-Erzählstrang um die Figur eines immer nur «Cowboy» genannten, ehemaligen Partisanen dreht, der den Widerstands-Truppen des späteren Präsidenten Josip Broz Tito angehört hat. Zusammenfassend geht es in diesem ungewöhnlich vielschichtigen Roman um das Thema Gewalt, um deren Kontinuität vor allem. Erkennbar ist dies auch in Ostdeutschland, wo sie mit dem beängstigenden Erstarken der politischen Rechten eine Rolle spielt, und brutaler noch auch im Irak zur Zeit des Islamischen Staates.

Alles greift ineinander in diesem ungewöhnlichen, immer für Überraschungen sorgenden Roman, der alle Dimensionen des Schreibens zu sprengen scheint. Zeiten und Orte überlappen sich ständig, Figuren tauchen unerwartet wieder auf, sorgen für neue Impulse in dem turbulenten Plot und verschwinden dann ebenso unerwartet wieder, geben Raum für neue Akteure. Das Figuren-Ensemble des Autors besteht zum Teil aus sehr skurrilen Typen wie den geistig zurück gebliebenen Schäfer, bei dem der Cowboy sich ungefragt einquartiert. In seiner Komplexität übertrifft dieser Roman so ziemlich alles, was derzeit im Fokus des lesenden Publikums steht. Und er überfordert es unübersehbar, Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzend, vor allem aber in seiner immer wieder verblüffenden Rätselhaftigkeit.

«Die Projektoren» ist ein herausfordernd erzähltes, fast grenzenloses Epos voller Sprachgewalt, voller Lust am Fabulieren, narrativ unbekümmert hin und her springend, aber virtuos auch wieder aneinander anknüpfend. Sehr beeindruckend ist natürlich der Recherchefleiß des Autors, der noch in den kleinsten Verästelungen seines Plots mit vielen Details aufwartet und dadurch sehr bereichernd wirkt. Entspannt zu lesende Lektüre kann man angesichts der Themenfülle und der akribischen Detailverliebtheit des Autors natürlich nicht erwarten, man muss sich geduldig einlassen auf dieses Epos, in dem häufig auch psychologische Aspekte behandelt werden. Sprachlich originär, oft leichtfüßig, ebenso oft amüsant, zuweilen ins Irreale abgleitend, ist dies ein unbeirrt eigenwilliger Text eines großen Erzählertalents. Mit der schieren Textmasse und deren Komplexität hat sich Clemens Meyer allerdings selbst ein Bein gestellt, was sich nicht nur im Urteil der Buchpreisjury niedergeschlagen hat, sondern durchaus erwartbar auch im geringen Interesse und den auffallend vielen negativen Kommentaren des Lesepublikums!

Bewertung vom 16.11.2024
Die Passagierin
Friedrich, Franz

Die Passagierin


schlecht

Dystopische Zeitreise

Nach zehn Jahren hat der Schriftsteller Franz Friedrich seinen zweiten Roman veröffentlicht, der dann, wie schon sein Debüt, ebenfalls für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 ausgewählt wurde. Es ist die ebenso originelle wie gewagte Kombination einer Dystopie mit einer sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft springenden Zeitreise für ausgesuchte Menschen. Ort der Handlung ist eine nach der antiken Landschaft Kolchis benannte, kleine Gemeinde am Meer, quasi ein Kurort für Zeitreisende. In dem befinden sich viele mit wunderlichen Namen benannte Sanatorien, die den, aus ihrer jeweils persönlich erlebten Zeit dorthin evakuierten Menschen eine neue Heimstatt bieten. Sie sind durch ihre Zeitreise ihrem historischen Schicksal entkommen und sollen jetzt auf ihr neues, besseres Leben vorbereitet werden. «Es ist ein großer Wartesaal, abgeschirmt wie unter einer Glocke, seiner Zeit entrückt», hat der Autor dazu erklärt.

Protagonistin und Ich-Erzählerin der Geschichte ist Heather, eine Frau aus der ehemaligen DDR, die dort groß geworden ist und dann 1989 die «Wende» miterlebt hat. Als Teenager war sie schon mal nach einer Zeitreise in Kolchis, nun kehrt sie als Erwachsene zurück. Heather leidet seit damals an «Phantom-Erinnerungen» und hofft, ihre innere Ruhe wiederzufinden und dem Schmerz der Einsamkeit zu entfliehen. Nun will sie nach etlichen Jahren ein paar Tage dort verbringen, - aber aus den Tagen werden Wochen. Ihr ehemaliges «Sanatorium 9» ist verfallen, nur wenige Räume sind noch bewohnbar, und das gilt auch für all die anderen Sanatorien und Gebäude in Kolchis, wie sie feststellen muss, alles ist scheinbar verlassen und dem langsamen Verfall anheim gegeben. Die Bewohner, die dort noch leben, stammen alle aus einer anderen historischen Epoche, dem Spätmittelalter zum Beispiel, der Zeit der Kolonialreiche, der Weltkriege, bis hinein in unsere Gegenwart. Sie alle warten auf eine Evakuierung, die sie aus Kolchis wieder wegbringen soll. Was aber niemand von ihnen ahnt: Die Rettungs-Missionen des Evakuierungs-Programms gibt es gar nicht mehr!

In täglichen Sitzungen mit wechselnder Besetzung diskutieren die Bewohner ‹über Gott und die Welt›, meist aber über ihre ganz persönlichen Geschichten. Es werden dabei natürlich auch die großen philosophischen Fragen verhandelt, speziell die nach der persönlichen Schuld. Dabei freundet sich Heather mit Matthias an, einem aus dem Mittelalter stammenden, verbitterten Landsknecht, der als ehemaliger Söldner hier offenbar den idealen Platz für sich gefunden hat. Im Interview hat der Autor sein ungewöhnliches narratives Konzept erklärt: «Die Idee treibt mich schon lange um: die Vorstellung einer Flucht aus der einen Zeit, der Rettung in eine andere. Sobald man länger darüber nachdenkt, wird man merken, dass es nicht reicht, Einzelne zu holen, aber alle? Als besonders tragisch erschien mir immer das Konzept einer nicht mehr veränderbaren Vergangenheit, einer Geschichte, die man zwar bereisen kann, aber einfach geschehen lassen muss, so grausam sie auch ist. Was würde das mit einer Gesellschaft machen, würde sie das hinnehmen? Oder würde sie nicht trotzdem versuchen, ihre historischen Katastrophen zu verhindern, so gering die Chancen auf einen Erfolg auch wären.»

Aus dem Gesagten kann man unschwer erkennen, dass man von diesem Roman Plausibilität nicht erwarten kann. Seine Figuren sind durch tragische Schicksale gekennzeichnet, wie vergessene Selbstmörder zum Beispiel oder Opfer kollektiver Gewalt. Nicht jeder wird dem in diesem Roman zum Ausdruck kommenden eigenwilligen Humanismus des Autors folgen können und wollen. Bei alledem verzichtet der Autor nämlich auch noch auf eine konkrete Beschreibung seiner kafkaesken Welt. Er setzt damit für eine bereichernde Lektüre eine allzu große Fantasie voraus, deutlich zu viele, naheliegende Fragen bleiben einfach offen. Das Gros seiner Leser dürfte, erheblich überfordert, daran kläglich scheitern, - einige wenige Distopie-Fans ausgenommen!

Bewertung vom 13.11.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


weniger gut

Eine gute Idee?

Der neue Roman von Iris Wolff ist auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 gewählt worden, ihr jüngstes Werk heißt «Lichtungen». Der kryptisch erscheinende Titel kommt im Romantext nur einmal vor, das Wort fällt eher beiläufig, in einem der vielen erzählten Gedankengänge des Protagonisten: «Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie ‹Lichtungen›. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand». Nur das Vergessen, sinniert er weiter, bleibe einem wirklich allein, alles sonst bleibe nur durch andere gegenwärtig. Thema des Romans ist die Liebe in Zeiten eines politischen Umbruchs, beginnend in der Ceaușescu-Ära über deren Ende hinaus bis in die Gegenwart. Das Besondere dieses Romans ist die Umkehr der Chronologie, erzählt wird von der Jetztzeit rückwärts bis zur Kindheit des Protagonisten. Ist das eine gute Idee, fragt man sich als Leser.

Der nicht-chronologischen Erzählweise entsprechend beginnt der Roman mit dem Kapitel neun in der Jetztzeit. Dabei lernen wir den Protagonisten Leonhard kennen, im Roman nur Lev genannt (rumänisch Löwe), er entstammt einer rumänisch-deutschen Familie. Als Enddreißiger trifft er in Zürich nach intensiver Suche Kato wieder, seine Freundin aus Kindheitstagen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den Westen gegangen ist. Sie arbeitet dort als Straßenmalerin und verdient gut dabei, lebt in einem schönen Wohnmobil und führt ein ungebundenes, freies Leben, eine Prägung, die sich schon in ihrer Kindheit abgezeichnet hat. In den mittleren Kapiteln wird erzählt, wie Lev nach der Schule im Sägewerk arbeitet und 1989, nach dem Ende der Ceauşescu-Ära, in einem Trupp von Waldarbeitern landet. Eine körperlich harte Arbeit, die ihn schließlich überfordert. Lev ist, erfährt man in den letzten Kapiteln, das einzige Kind seines früh verstorbenen Vaters aus zweiter Ehe. Er ist zu Hause ein krasser Außenseiter, der Verlust des Vaters ist eine sehr frühe Verlusterfahrung, die ihn lebenslang prägt. Nach einem Unfall ist er mit gelähmten Beinen lange ans Bett gefesselt. Ausgerechnet Kato, eine von allen gemiedene, eigenwillige Klassenkameradin, wird damit beauftragt, ihn täglich so gut es geht über den Lehrstoff zu informieren. Nach anfänglicher Skepsis verliebt er sich schließlich in sie. Bei einem Kuraufenthalt mit seinem Großvater Ferry, der später als einer der Ersten in den Westen gegangen ist, hat Lev als Kind ein ihn prägendes, traumatisches Erlebnis. Und es wird ihm auch prophezeit: «Irgendwann, davon war Ferry überzeugt, würde es eine Frau in Levs Leben geben, die er nicht gehen lassen dürfe. Für die sich das Warten lohne, jedes Wagnis, jede Zeit».

Typisch für den Erzählkosmos von Iris Wolff ist an erster Stelle das Erzählen selbst, der virtuose Umgang mit der Sprache. Ferner sind es menschliche Erfahrungen, die es gilt, dem stets drohenden Vergessen zu entreißen. Außerdem seien ihre Figuren, wie sie im Interview erklärt hat, durch Erfahrungen ihrer eigenen Familie geprägt. Und so ist auch diese Geschichte in den immer wieder mitreißend geschilderten, rumänischen Landschaften ihrer eigenen Kindheit angesiedelt, Siebenbürgen, Banat und Maramuresch. Die einzelnen Episoden des kapitelweise rückwärts springenden Plots decken einen Zeitraum von fast vierzig Jahren ab, ohne dass die rumänische Revolution selbst thematisiert wird. Jedem der von neun bis eins herunter gezählten, unbetitelten Kapitel ist, wie ein Motto, ein literarisches Zitat in einer jeweils anderen Sprache vorangestellt, deren Wortlaut und Quelle im Nachwort erläutert wird.

Die Liebe zwischen Lev und Kato ist seltsam unterkühlt und distanziert. «Manches war zwischen ihnen nie zur Sprache gekommen. Worüber man nicht sprach, war nie geschehen.» In einer oft poetischen Sprache chronologisch rückwärts erzählt, verlangt dieser Roman viel Geduld vom Leser. Ob das Experiment mit dem zeitlich umgekehrten Plot wirklich eine gute Idee war, ist zweifelhaft, kann also letztendlich von jedem Leser nur für sich selbst beantwortet werden!

Bewertung vom 08.11.2024
Der Distelfink
Tartt, Donna

Der Distelfink


weniger gut

Vom Problem der dicken Wälzer

An ihrem dritten Roman hat die bei uns kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin Donna Tartt zehn Jahre lang gearbeitet. Was sich wohl auch gelohnt hat, denn ihr Opus magnum wurde von der dortigen Kritik euphorisch besprochen und erhielt den Pulitzer Prize des Jahres 2014. Die Idee zu der Explosion, mit der die Coming-of-Age-Geschichte des anfangs 13jährigen Theodore Decker beginnt, habe die Autorin unter dem Eindruck der Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan entwickelt, heißt es. Ebenso zufällig wäre es auch gewesen, dass die Autorin das titelgebende Gemälde des niederländischen Malers Carel Fabritius entdeckt und in ihre Geschichte eingebaut hat.

Bei einem von seiner kunstbegeisterten Mutter vorgeschlagenen, spontanen Besuch des berühmten Metropolitan Museum in New York wird ein Bombenanschlag verübt, den Theo leicht verletzt überlebt. Als er nach kurzer Ohnmacht in den Trümmern des Gebäudes erwacht, ist seine Mutter nicht zu finden. Er bemerkt aber in der Nähe einen sterbenden alten Mann, dessen hübsche Nichte ihm kurz vor der Explosion in dem Raum, wo er das Gemälde «Der Distelfink» betrachtet hat, aufgefallen war. Auf Drängen des sterbenden Welton Blackwell, der ihm seinen karneolbesetzten Fingerring geradezu aufdrängt, nimmt er auch das unbeschädigt gebliebene, kleine Gemälde in seiner Tasche mit, als er sich durch die Trümmer ins Freie durchkämpft. Es braucht über hundert Buchseiten, bis der völlig aus der Bahn geworfene Theo endlich begreift und akzeptiert, dass seine Mutter nicht überlebt hat. Er wird vom Sozialdienst vorerst bei den wohlhabenden Eltern seines besten Freundes Andy untergebracht und nimmt später Kontakt auf zu Hobart, dem ehemaligen Kompagnon des verstorbenen Blackwell, die Beiden hatten zusammen eine Antiquitätenwerkstatt betrieben. Dort trifft er nicht nur Pippa wieder, die Hübsche aus dem Museum, in die er sich verliebt, er lernt in der Werkstatt auch einiges über Möbelrestaurierung. Plötzlich aber meldet sich Theos Vater, ein alkoholkranker und spielsüchtiger, erfolgloser Filmschauspieler, der Frau und Sohn schon vor einiger Zeit verlassen hat. Der Vater nimmt Theo mit nach Las Vegas. Dort gerät Theo zunehmend auf die schiefe Bahn, rutscht zusammen mit seinem neuen Freund Boris ins kleinkriminelle Milieu ab, ihr Leben ist geprägt von Alkohol und Drogen. Als Theos Vater bei einem Autounfall stirbt, verschwindet der inzwischen 15Jährige aus Las Vegas, um nicht wieder vom sozialen Dienst zu einer Pflegefamilie gegeben zu werden. In New York wird er dann wieder von Hobart aufgenommen.

Donna Tartt erzählt in diesem dickleibigen Roman eine äußerst wechselhafte Geschichte voller Überraschungen, in der auch das titelgebende Gemälde immer wieder eine gewichtige Rolle spielt. Die Odyssee ihres zweifelhaften jungen Helden und Ich-Erzählers gerät nebenbei zu einer moralischen Wertediskussion, in der es zudem um psychologische Fragestellungen geht. Die Figur des Protagonisten Theo ist wenig einnehmend gezeichnet, er wird als ziemlich trotteliger, langweiliger und vor allem emotionsloser Mensch beschrieben, dem man nicht näher zu kommen vermag als Leser. Schon ganz am Anfang tritt er als Versager auf, denn seine Mutter und er waren auf dem Weg zu einer Besprechung mit der Schulleitung wegen seiner Versetzung. Sie hatten aber noch reichlich Zeit und sind nur deshalb noch kurz ins Museum gegangen!

Der mehr als tausend Seiten dicke Wälzer voller erzählerischer Kapriolen verliert sich selbstvergessen in üppigen Arabesken. Anders als bei anderen Schwergewichten der Romanliteratur aber bietet die Sprache selbst hier keinen Lesegenus, sie ist amerikanisch einfach und nüchtern, eine Lektüre ganz ohne Suchtpotential. Der komplette Plot hätte gut auch auf dreihundert Seiten erzählt werden können, ohne dass die Intention der Autorin dadurch Schaden genommen hätte. Und dann wären, nebenbei gesagt, auch nicht volle zehn Jahre nötig gewesen, um dieses Buch zu schreiben!

Bewertung vom 03.11.2024
Mister Weniger
Greer, Andrew Sean

Mister Weniger


sehr gut

Literarisch hochstehender Schwulenroman

Der Roman «Mister Weniger» des US-amerikanischen Schriftstellers Andrew Sean Greer wurde 2018 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. «Ein großzügiges Buch, musikalisch in seiner Sprache und weit ausgreifend in seiner Struktur. Es handelt vom Älterwerden und von Wesen und Natur der Liebe» heißt es in der Begründung der Jury. Der Roman zählt zum Genre der autofiktionalen Erzählungen, bei dem Protagonist und Autor nicht immer klar zu trennen sind, eine sich bei heutigen Schriftstellern wachsender Beliebtheit erfreuende Erzählform. In deutschen Kommentaren zu diesem hierzulande «weniger» erfolgreichen Buch wurde als Gattung der Begriff «Schwulenroman» geprägt, andere schreiben von einem Liebesroman. Im Schwulsein, im Alter von Anfang fünfzig und im Beruf des Schriftstellers ähnelt Arthur Weniger, der Protagonist des Romans, seinem Schöpfer mehr als deutlich. Nur dass Greer mit dem Pulitzerpreis für den vorliegenden Roman in den Olymp der amerikanischen Belletristik aufgestiegen ist, sein Held aber, nomen est omen, im Mittelmaß stecken blieb. Er hat letztendlich in Allem «weniger», auch im literarischen Erfolg.

Es beginnt damit, dass der Don Quichotte-artige Arthur Weniger eine schriftliche Einladung zur Hochzeit seines langjährigen, jüngeren Geliebten erhält, von dem er sich vor fünf Jahren getrennt hat. Ein Dilemma für ihn! Denn wenn er teilnimmt, werden alle hinter seinem Rücken über ihn tuscheln, bleibt er aber fern, ist das für sein Image äußerst schlecht. Dort werden sich nämlich alle wichtigen Leute aus der Branche versammeln, man muss also auch dabei sein, sonst droht das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit. Als Arthur seinen chaotischen Schreibtisch aufräumt, findet er etliche Einladungen zu verschiedenen anderen Events. Er soll für seinen Verlag eine Lesereise absolvieren, an einer Podiumsdiskussion mit einem berühmten Kollegen teilnehmen, als Gastdozent antreten, auf einer Preisverleihung die Laudatio halten und andere literaturbezogene Aktivitäten mehr. Damit wäre er auf längere Zeit beschäftigt, was ihm gleichzeitig auch als zweifelsfrei wichtige Begründung für sein Fernbleiben bei der Hochzeit dienen würde. Und weil er sich damit auch vor seinem drohenden 50. Geburtstag drücken, sein sinkendes literarisches Image aufpolieren und zudem auch noch sein bedenklich leeres Bankkonto schonen könnte, sagt er kurz entschlossen überall zu. Denn so kann er vielleicht, ‹last but not least›, auch seinen immer noch anhaltenden Liebeskummer überwinden!

Arthur Weniger tritt also wohlgemut seine fluchtartige Reise an, die ihn von Los Angeles über Italien nach Frankreich, Deutschland, Marokko und Japan führt. Dabei tritt er in alle Fettnäpfchen, die da irgendwo aufgestellt sind, er blamiert sich oft bis auf die Knochen. So zum Beispiel in Berlin, wo er als vermeintlich perfekt deutsch Sprechender an der Universität in einem stümperhaften Deutsch doziert, oder in Japan, wo er sich mit japanischem Essen beschäftigen soll, von dem er rein gar nichts versteht. Auf allen seinen Stationen hat er kurze Affären mit oft jüngeren Männern, und dadurch beschäftigt er sich auch immer wieder mit der Frage, ob man als Fünfzigjähriger denn überhaupt noch schwul sein kann, oder ob man sich nur noch blamiert mit seinem vom Alter deutlich gezeichneten Körper. Einzig dass er von Aids verschont geblieben ist, das verbucht er als positiv in seiner Lebensbilanz.

Als Tollpatsch und Hypochonder ist «Weniger» eine sympathische Figur, die der Autor stilistisch brillant, stets spöttelnd und humorvoll beschreibt. Als zunehmend rätselhafter werdender Erzähler bleibt Greer seiner literarischen Figur eng verbunden, bis hin zum überraschenden Ende dieser an Metaphern reichen und kontemplativ anregenden Geschichte, zu der auch die immer wieder ironischen Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb gehören. Dezidiert homophob veranlagten Lesern sei abgeraten, für andere ist «Mister Weniger» eine durchaus empfehlenswerte, weil literarisch hochstehende und amüsante Lektüre.

Bewertung vom 01.11.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


schlecht

Literarisch ein Zwitter

Das Memoir «Seinetwegen» der Schriftstellerin Zora del Buono befasst sich mit der Leerstelle in ihrem Leben, welche sich aus dem Unfalltod ihres Vaters ergeben hat. Ihr Buch wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert und in den Feuilletons positiv kommentiert. Der 33 Jahre alte Radiologe am Kantonsspital in Zürich, Dr. med. Manfredi del Buono, starb am 18. August 1963 im Alter von 33 Jahren und hinterließ seine Frau und Zora, seine acht Monate alte Tochter. In ihrem erzählenden Sachbuch berichtet die inzwischen sechzigjährige Autorin reportageartig im Präsenz von ihren Recherchen über den Unfall-Verursacher und über die Veränderungen, die gleichzeitig dabei mit ihr geschehen.

Die Mutter wie auch die Tochter haben kaum je über den Vater gesprochen. Und nun ist es zu spät, die demente Mutter ist in einem Pflegeheim und erkennt oft nicht mal mehr die eigene Tochter. Außer einem kritischen, ziemlich umfangreichen Leserbrief, der sich über das unglaublich geringe Strafmaß empört, findet sie bei ihrer Mutter nichts Schriftliches, das sie weiterbringen könnte. Der 28jährige Unfallverursacher, den die Autorin anfangs mit E. T. umschreibt, hatte in einem billig erworbenen, alten Chevrolet auf einer Landstrasse in der Nähe der Schweizer Kantons-Hauptstadt Glarus einen Heuwagen überholt. Dabei hatte er den entgegen kommenden VW-Käfer übersehen, in dem ihr Onkel am Steuer saß und ihr Vater als Beifahrer. Der «Töter», wie Zora den Unfallverursacher bezeichnet, war voll geständig, er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren auf Bewährung und zu 200 Franken Geldstrafe verurteilt.

Was ist aus E. T. geworden, fragt sich die Ich-Erzählerin. Lebt er noch, inzwischen 88jährig? Hat er je Kontakt zu seinem «Opfer» gesucht? Wie ist er ein Leben lang mit dieser schweren Schuld umgegangen? Je mehr sie über den «Töter» erfährt, desto erschreckender wird ihr bewusst, dass sie herzlich wenig über ihren Vater weiß. Von ihm existieren zwar einige auch im Buch abgedruckte Fotos, aber was für ein Mensch er war über das rein Berufliche hinaus, das bleibt für immer im Dunkeln. Aber auch die Fakten geben Rätsel auf. Der alte Chevrolet hatte 2200 Franken gekostet und war kurz vor dem Unfall für über 4600 Franken in der Werkstatt, woher hatte der junge Mann so viel Geld? Und warum waren trotz Werkstattbesuch die Reifen völlig abgefahren und die Bremsbeläge bis auf die Nieten herunter verbraucht? Der überholte Heuwagen erwies sich im Nachhinein als von einem Kind gelenkter Milchwagen, der im Gegensatz zu einem hoch aufgetürmten Heuwagen dem Unfall-Verursacher volle Sicht auf die Gegenspur ermöglicht hat? Besonders erfolgreich erwies sich neben allerlei eigenen Recherche-Ergebnissen schließlich ein Historiker, der Einblicke in viele Archive hat und Zora weitere Details auch über ihre Familie liefert.

In eine Liste der «Deformationen» hat die Autorin unter anderem ihre immer dann aufkommenden Irritationen eingereiht, wenn irgendwo von «schweren Schicksalsschlägen» die Rede ist. Ebenso in dieser Liste findet sich auch ihr «Befremden über intakte Familien». Sie enthält zudem die Probleme der unverheiratet gebliebenen, lesbischen Zora mit «Zweierbeziehungen». In ihren wilden Jahren habe sie aber immerhin zwei Jahre mit einem schwulen Mann zusammen gelebt, fügt sie keck hinzu. In gelegentlichen, durchnummerierten Einschüben unter dem Titel «Im Kaffeehaus» diskutiert die Autorin in kleinem Kreis mit wechselnder Besetzung über verschiedenste, ihr Leben prägende Aspekte psychologischer Art, zum Beispiel über «frühe Bindungen». Der in einer sachlich kühlen Sprache geschriebene Text aus essayartigen Kapiteln und Einschüben mit soziologischen und psychologischen Fragestellungen ist ein freies Spiel mit Assoziationen. All das aber ist als Lektüre keineswegs überzeugend, weder als unterhaltsame Erzählung noch als wirklich ernst zu nehmendes Sachbuch. Ein misslungenes Memoir eben, und literarisch ein Zwitter!

Bewertung vom 29.10.2024
Underground Railroad
Whitehead, Colson

Underground Railroad


sehr gut

Magisch-realistischer Sklavenroman

Mit seinem Roman «Underground Railroad» hat der farbige US-amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead 2017 den Pulitzerpreis gewonnen und einen riesigen medialen Wirbel ausgelöst. «Ich mag es, mir seltsame Dinge auszudenken» hat er im FAZ-Interview erklärt, und dazu gehörte für ihn dann auch die Frage: «Was, wenn es die Underground Railroad wirklich gegeben hätte»? Er habe dann fünfzehn Jahre gebraucht, um endlich dieses Buch zu schreiben. Der Titel steht metaphorisch für die Bewegung des Abolitionismus, einem Netzwerk zur Abschaffung der Sklaverei mit schwarzen und weißen Aktivisten, die im frühen 19ten Jahrhundert unter Lebensgefahr als Fluchhelfer und Schleuser entlaufenen Sklaven zur Freiheit verholfen haben. Ähnlich wie die Ausrottung der indigenen Bevölkerung ist auch der Begriff «Underground Railroad» eine jedem Schulkind geläufige ‹Great American Story› des Unrechts.

Protagonistin dieses Romans ist die junge Sklavin Cora, die auf einer Baumwoll-Plantage in Georgia arbeitet, deren sadistischer Eigentümer seine Sklaven wie Tiere behandelt. Als ein Mann ihr anbietet, mit ihm zusammen zu fliehen, zögert sie zunächst, weil bisher alle Fluchtversuche gescheitert sind. Die aufgegriffenen Sklaven werden zu Abschreckung in einer Zeremonie vor den versammelten Arbeitern unsäglich grausam bestraft und halbtot dann an einem Baum erhängt. Zum Anfang des Romans wird ausführlich von all der Pein berichtet, denen die afrikanischen Sklaven ausgesetzt sind. Sie werden völlig hilflos als vom Staat sanktionierter, rechtloser Besitz behandelt, als Arbeitstiere gehalten, nach Belieben weiterverkauft und eben auch willkürlich getötet, wenn der Plantagen-Besitzer es als Strafe anordnet. Cora wagt das Undenkbare, sie entschließt sich doch, trotz der drohenden fürchterlichen Strafe, zur Flucht.

Die bisher realistische Erzählung dreht sich nach einem Viertel des Romans mit Coras Flucht ins Fantastische, indem der Autor die nur als Metapher gedachte «Underground Railroad» als tatsächlich existierende Untergrund-Eisenbahn in seine Geschichte einfügt. Und so steigt Cora in einem geheimen, unter einer Scheune versteckten Bahnhof dann auch in den offenen Wagon eines Zugs mit einer Dampflock, der sie eine Etappe weit in Sicherheit bringen soll. Ihre Flucht erweist sich als wahrer Albtraum, immer wieder steht sie vor gefährlichen Situationen und neuen Hindernissen. In South Carolina ist sie vermeintlich frei, doch sie erkennt, dass Schwarze anders behandelt werden und man Frauen dazu bringen will, sich sterilisieren zu lassen. In North Carolina, ihrer nächsten Etappe, gibt es keine Sklaverei mehr, aber es soll dort auch keine Schwarzen mehr geben. Man macht Jagd auf sie und erhängt sie jeden Freitag vor Publikum auf dem Marktplatz, was Cora aus ihren Versteck auf einem Dachboden beobachten kann. Ein Sklavenjäger ist ihr hartnäckig auf den Fersen, sie ist nirgendwo sicher und ständig auf der Flucht. Als er sie schließlich entdeckt, wird das Ehepaar, das ihr Unterschlupf gewährt hat, sofort gehängt. Die realistische, aktionsreiche Geschichte von Coras Flucht mit den immer wieder überraschenden Wendungen wird durch die fantastischen Momente konterkariert, historisch Verbürgtes unbekümmert mit imaginierten Albträumen vermischt.

Gleichwohl ermöglicht der magische Realismus dieses Romans mit seiner Schonungslosigkeit, die Unbesaitete ziemlich verschrecken dürfte, tiefe Einblicke in historische Strömungen und hilft, die politische Gemengelage in jenen turbulenten Zeiten der Vereinigten Staaten von Amerika zu begreifen. Colson Whitehead hat sich wohlweislich aller Anspielungen auf Gegenwart und jüngste Vergangenheit enthalten. Obwohl ja, wie er in dem zitierten Interview gesagt hat, «Diskriminierung gegenwärtig» sei in den USA und «ihr Wesen heimtückisch». Ein magisch angereicherter Sklavenroman also, dessen Lektüre niemanden unverändert lassen dürfte.

Bewertung vom 25.10.2024
Vom Ende der Einsamkeit
Wells, Benedict

Vom Ende der Einsamkeit


sehr gut

Die Macht des Schicksals

Der Roman «Vom Ende der Einsamkeit» des Schriftstellers Benedict Wells widmet sich dem Thema Verlusterfahrungen und der daraus resultierenden Einsamkeit am Beispiel dreier Geschwister, die durch den frühen Unfalltod ihrer Eltern zu Waisenkindern werden. Der ursprünglich wohl als Opus magnum gedachte, mit 800 Seiten sehr üppige Roman wurde schließlich auf knapp 360 Seiten gekürzt, was ihm zweifellos gut getan hat. Über einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren hinweg schildert der deutsch/schweizerische Autor, wie die plötzlich aus ihrer familiären Mitte heraus gerissenen, ungleichen Geschwister, weitgehend allein gestellt bis auf eine Tante als einzigem familiären Anker, von Verlust und Einsamkeit geformt werden.

Der anfangs zehnjährige Ich-Erzähler Jules, sein älterer Bruder Marty und Liz, die Älteste, kommen in ein staatliches Waisenhaus, wo sie getrennt nach Alter und Geschlecht untergebracht werden. Die Familie als gemeinsamer Rückzugsort existiert plötzlich nicht mehr. Die Drei könnten im Charakter nicht unterschiedlicher sein. Jules ist der eher realitätsferne, melancholische Träumer, der sein Jurastudium abbricht und mit Hilfe von Liz glücklich einen Job bei einem Musikverlag findet, wo er für die Vertragsabschlüsse mit den Musikern verantwortlich ist. Mit seiner geheimnisvollen Schulfreundin Alva verbindet ihn eine kumpelhafte Freundschaft weit über die Schulzeit hinaus. Die Beiden verstehen sich bestens, lieben die gleiche Musik, führen intensive Gespräche und unternehmen viel miteinander, - mehr ist da nicht! Als Jules sie eines Tages zu einer Feier pünktlich zu Hause abholen kommt, steht sie nicht, wie sonst immer, schon vor der Haustüre. Die Mutter lässt ihn herein, und als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnet, liegt sie nackt mit einem fremden Mann im Bett und starrt ihn provozierend an. Er flüchtet entsetzt! Als sie sich vor dem mündlichen Abitur noch einmal kurz sehen, reden sie kein Wort über Alvas unglaublichen Affront, und sie sehen sich dann auch über als ein Jahrzehnt lang nicht mehr wieder. Marty ist ein introvertierter Eigenbrödler, der später zum Nerd mutiert und als Internet-Pionier derart erfolgreich ist, dass er seine Firma für einen hohen siebenstelligen Betrag verkaufen kann. Die quirlige Liz, die Älteste, ist eine äußerst attraktive Frau, die immer von Männern umschwärmt wird, denen sie dann nach kurzer Zeit den Laufpass gibt. Sie taucht schon früh in die Drogenszene ein, ist extrem lebenshungrig und stürzt sich immer wieder in neue Affären.

Als Jules nach langer Zeit im Internet nach Alva sucht, sie findet und ihr eine E-Mail schickt, kommen sie wieder ins Gespräch. Sie ist jetzt mit einem bekannten, mehr als zwanzig Jahre älteren Schriftsteller verheiratet und lebt in der Schweiz. Aber Jules und Alva finden nun tatsächlich doch zueinander, diesmal sogar als Liebespaar, denn sie erkennen beide ihre enge Seelen-Verwandtschaft. Marty ist Professor geworden und ist glücklich verheiratet. Und Liz erkennt als fast 42Jährige, dass es ein Fehler war, keine Kinder zu haben. Ein Versäumnis, dass sie nun umgehend nachholen will, an Männern mangelt es ihr ja nicht.

In chronologisch aufeinander folgenden Rückblenden entwickelt der Autor über drei Jahrzehnte hinweg seine Geschichte vom auseinander Driften und wieder zusammen Finden, von Vereinsamung und dem Segen von Freundschaft und Liebe. Es ist die buchstäbliche Macht des Schicksals, die in diesem klug konstruierten Roman stets unvermittelt einwirkt und das bestehende Beziehungsgefüge grausam zerstört. Der sorgfältig aufgebaute Spannungsbogen des Romans wird durch die vielen überraschenden Wendungen des Geschehens immer wieder eindrucksvoll verstärkt. Mit psychologischem Einfühlungs-Vermögen werden die glaubhaften Charaktere präzise geschildert. Man kann verstehen, dass sie sind wie sie sind, und wie sie aus ihren Traumata allmählich zurückfinden zu selbstbewusster Lebensbewältigung.

Bewertung vom 23.10.2024
Stolz und Vorurteil
Austen, Jane

Stolz und Vorurteil


ausgezeichnet

Auch heute noch

Zum Olymp belletristischer Literatur gehört unangefochten der 1813 erschienene Roman «Stolz und Vorurteil» der britischen Schriftstellerin Jane Austen, und das, obwohl inzwischen mehr als 200 Jahre vergangen sind. Lohnt es sich denn, den immer wieder neu aufgelegten und vielfach neu verfilmten Roman heute noch zu lesen? Unbedingt, und zwar weil er sowohl von seiner Thematik her als auch stilistisch ein Klassiker par excellence ist, als Gesellschafts- wie auch als Liebesroman literarisch unerreicht! Und er wirkt erstaunlicher Weise in den modernen deutschen Übersetzungen auch kein wenig altbacken, er liest sich flüssig, folgt einem Plot mit klug konstruiertem Spannungsbogen und strotzt nur so von kontemplativen Anregungen philosophischer Art. Ähnlich wie bei Fontane liefert er zudem historisch präzise Einblicke in Bourgeoisie und Adel jener Zeit, denn er wurde ja Anfang des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben. Er berichtet also authentisch als zeitgenössisches Werk in «damaliger Jetztzeit», und eben nicht in einem geschichtlichen Rückblick aus neueren Zeiten.

Erzählt wird über etwa ein Jahr im Leben einer Familie der gehobenen Gesellschaft auf dem Lande, in der Nähe Londons, deren fünf altersmäßig dicht beieinander liegende Töchter noch unverheiratet sind. Das Landgut des Vaters musste nach damaligem Erbrecht auf ewig ‹ungeteilt› erhalten bleiben, und die finanzielle Nutzung stand auch nur einem ‹männlichen› Erben zu. Die fünf Mädchen und die Mutter würden also, wenn der Vater stirbt, mittellos sein. Eine Ehe jeder der Töchter war deshalb zwingend geboten! Die ziemlich einfältige Mutter lässt in ihrer Panik über dieses drohende Schicksal nichts unversucht, ihre Töchter mit allen infrage kommenden Männern bekannt zu machen. Jane, die Älteste, ist inzwischen – für damalige Begriffe «schon» – einundzwanzig Jahre alt.

Beste Gelegenheit für derlei Eheanbahnungen bieten Dinner-Einladungen und vor allem Bälle, bei denen dann auch eifrig getanzt wird. Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht die ebenso kluge wie schöne Elisabeth Bennet, die zweitälteste der Schwestern, und der verschlossene, hochnäsig wirkende, steinreiche Fitzwilliam Darcy. Als sie auf einem Ball zufällig mit anhört, wie er seinem Freund erklärt, sie sei nicht attraktiv genug, um sie zum Tanz aufzufordern, ist sie zutiefst gekränkt. Ihr Groll wächst weiter, als das Gerücht umgeht, Darcy wäre für die finanzielle Notlage des Offiziers verantwortlich, der ihr schon länger den Hof macht. Überraschend aber hält Darcy später doch um ihre Hand an, was Elisabeth in beleidigender Form strikt zurückweist. Die cholerisch veranlagte Mutter droht, sie rede künftig kein Wort mehr mit ihr, sie lasse das nicht gelten, und läuft mit ihr ins Arbeitszimmer, dem Rückzugsort des immer humorvollen Vaters. «Jetzt hast du ein Problem», sagt er zu Elisabeth, «wenn du ihn ‹nicht› heiratest, redet deine ‹Mutter› kein Wort mehr mit dir, und wenn du ihn ‹doch› heiratest, dann rede ‹ich› kein Wort mehr mit dir!»

Elisabeth und Darcy sind an ihrem «Stolz» gescheitert, aber auch an so manchem «Vorurteil». Er erkennt später nämlich selbstkritisch, dass er entschieden zu dünkelhaft war, und sie erfährt irgendwann, dass an den Gerüchten über ihn nichts Wahres dran war. Der gesellschaftliche Stand, das Geld und die Liebe sind die entscheidenden Parameter für eine Heirat in jenen Zeiten. Der Plot des Romans lebt in erster Linie von den wortwitzigen, brillant vorgetragenen Dialogen des stimmig dargestellten Figuren-Ensembles. Das Kontemplative wird vorgezeichnet durch die Figur der Elisabeth, die sich oft zum Nachdenken zurückzieht und erzählerisch häufig in der indirekten Rede zitiert wird. Psychologisch tiefgründig, immer hart am Thema bleibend ohne langatmige Umwege, führt die schon mit 41 Jahren allzu früh verstorbene, ledig gebliebene Jane Austen durch ihren klug konstruierten, gesellschaftlichen Kosmos. Auf den Leser wartet also ein ebenso erfreuliches wie bereicherndes Lesevergnügen, - auch heute noch!

Bewertung vom 20.10.2024
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Hefter, Martina

Hey guten Morgen, wie geht es dir?


sehr gut

Love-Scammer vs. Performerin

Die Gewinnerin des diesjährigen Deutschen Buchpreises, die Schriftstellerin und Performerin Martina Hefter, hat mit ihrem Roman «Hey guten Morgen, wie geht es dir» einen zeitgemäßen Text vorgelegt, über den es in der Begründung der Jury heißt: «Auf faszinierende Weise verbindet der Roman zermürbenden Alltag mit mythologischen Figuren und kosmischen Dimensionen, er navigiert zwischen Melancholie und Euphorie, reflektiert über Vertrauen und Täuschung.» Dieser autobiografisch inspirierte Roman ist nicht an einem roten Faden entlang erzählt, er folgt vielmehr einer Choreografie, in der seine vielfältigen Themen wie Tanzfiguren kreativ miteinander verbunden sind in einer mitreißenden Performance. Dabei fungiert die Problematik des Scammer-Unwesens als narratives Gerüst für Motive wie Würde, Nähe, Bedürfnisse, Anerkennung, Identität, Sehnsüchte, Alter und Krankheit, aber auch der Kolonialismus wird thematisiert am Beispiel Nigerias.

Juno Isabella Flock, Freelancerin Mitte fünfzig, lebt in prekären Verhältnissen mit ihrem kranken Mann Jupiter, einem Schriftsteller, in einer kleinen Altbauwohnung in Leipzig. Sie pflegt Jupiter zwar liebevoll, geht dieser Aufgabe aber mit wachsender Unlust nach. Weil sie unter Schlaflosigkeit leidet, hat sie auf ihren Streifzügen durch das Internet die Szene der Love-Scammer entdeckt, die virtuelle Form der Heiratsschwindler. Denen es erstaunlich oft gelingt, ihre unbedarften Opfer finanziell auszubeuten, wie eine Doku in «Spiegel-online» belegt, aus der im Roman berichtet wird. Aus Langeweile, Neugier und zum Trotz hat sie sich auch ein anonymes Profil angelegt, unter dem sie als vermeintlich lohnendes Opfer auftritt. Sie macht sich einen Spaß daraus, die schamlosen Betrüger anzulocken und ihnen dann irgendwann knallhart auf den Kopf zuzusagen, dass sie Scammer sind, und dass sie selbst eine Frau ist mit viel Zeit und wenig Geld. Bis sie auf Benu trifft, den sie zwar ebenso durchschaut, bei dem sie aber zögert, ihn bloßzustellen, weil er nicht so großspurig auftritt und irgendwie immer die richtigen Worte findet. Und der dann auch nicht den Kontakt abbricht, als sie ihm die Wahrheit sagt. Gleichwohl aber bleiben seine Absichten nebulös.

Ihr Chat zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung, immer wieder unterbrochen von Anmerkungen und Rückblenden auf das Leben der Protagonistin. Jupiter weiß natürlich nichts von ihrem nächtlichen Internet-Doppelleben, sie haben wegen Junos Schlaflosigkeit schon lange getrennte Schlafzimmer. Die virtuelle Beziehung zwischen Juno und Benu weist exemplarisch auf die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Europa und Afrika hin, verdeutlicht aber auch die Diskrepanzen zwischen den individuellen Erwartungen und Hoffnungen der Beiden. Die ebenso poetische wie humorvolle Schilderung der Alltagsrealität von Juno wird durch allerlei mythisch gedeutete Begebenheiten ergänzt. Dazu gehört auch das von Jupiter gebastelte Bienen-Hotel auf dem Fensterbrett, wo denn auch prompt zur Freude des Paares eine Wildbiene einzieht. Schon die Namen Juno und Jupiter weisen ja auf die Götterwelt hin, und auch dem Stand der Gestirne gilt immer wieder Junos ungeteilte Aufmerksamkeit. Als Zeichen ihrer Suche nach Identität beginnt sie, sich Tattoos stechen zu lassen, auf die sie sehr stolz ist. Ihr Internet-Spiel mit Benu, diese Täter-Opfer-Umkehrung, hilft ihr beim Aggressionsabbau. Es hilft ihr aber auch, sich ihrer Würde bewusst zu werden, auch wenn die menschliche Existenz hier als permanenter Hindernislauf dargestellt wird in einem unsteten Leben, oft am Existenzminimum.

Ein trotziger Optimismus, frei von Pathos, kennzeichnet die einfach gehaltene Sprache des Romans, mit der die alltägliche Monotonie im Leben von Juno stilistisch gekonnt verdeutlicht wird. Die Charaktere von Benu, aber auch von Jupiter bleiben im Ungefähren, sie sind quasi Nebenfiguren in diesem Roman der Selbstfindung einer Künstlerin in Zeiten von Ukrainekrieg und anderem Ungemach. Mehr ‹heutig› kann ein Roman kaum sein!