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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 878 Bewertungen
Bewertung vom 30.01.2025
Der Weltensammler
Trojanow, Ilija

Der Weltensammler


gut

Vom Clash of Civilizations

Im umfangreichen Œuvre des bulgarisch-stämmigen Schriftstellers Ilija Trojanow ist sein zweiter Roman «Der Weltensammler» auch gleich sein bekanntester geworden. Er wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und in den Feuilletons teils euphorisch gefeiert als ein Abenteuer-Roman, der aufzeigt, wie wenig die westliche Welt von den Geheimnissen des Orients versteht. Der Plot orientiert sich an drei Phasen im Leben des authentischen, englischen Abenteurers Richard Burton, ein wagemutiger Exzentriker, der im neunzehnten Jahrhundert in den britischen Kolonien Asiens herumgereist ist, um unter Hintanstellung der eigenen Lebensgewohnheiten wissbegierig Land und Leute kennen zu lernen. Sein besonderes Augenmerk lag dabei auf den Sprachen der Einheimischen, die er eifrig studiert hat und die ihm als wichtige Voraussetzung galten, die Kulturen und Religionen jener Länder zu begreifen. Vor allem aber sollten sie auch helfen, die allfälligen Missverständnisse zwischen den unterschiedlichen Kulturen zu vermeiden, insbesondere im Verhältnis zur äußerst überheblich agierenden Kolonialmacht jener Zeit, dem British Empire. Derartige Gegensätze sind begrifflich als «The Clash of Civilizations» 1996 in die Politik-Wissenschaft eingegangenen.

Es sind drei markante, biografisch wesentliche Episoden, denen sich der Autor in den drei Teilen seines Romans widmet: Richard Burtons Jahre auf dem indischen Subkontinent, seine Reise nach Mekka und die Expedition auf der Suche nach den Quellen des Nils in Ostafrika. Ingesamt decken sie einen Zeitraum von etwa sechzehn Jahren ab, der damit beginnt, dass der 21Jährige als Angestellter der Ostindien-Kompanie die Nähe zu den Einheimischen sucht, oft lebt er wochenlang mitten unter ihnen. Bei seinem privaten Sprachlehrer lernt er eifrig diverse Landessprachen. Er findet eine einheimische Geliebte und lernt mit dem Sanskrit auch das Kamasutra kennen, das er später ins Englische übersetzen wird.

Während seine Jahre in Indien neben dem Studium der Sitten und Gebräuche dort vor allem dem Aufbau seiner Karriere dienen, sucht er durch die Wallfahrt nach Mekka, durch den Haddsch, als christlich geprägter Mensch Glaubengewissheit zu erlangen. Als indischer Moslem verkleidet bricht er zu seiner Pilgerfahrt nach Mekka und Medina auf, die letztendlich für ihn die Frage aufwirft, ob er nicht innerlich bereits längst zum Islam konvertiert ist. Als Forschungs-Reisender nimmt er an der Seite von J. H. Speke die Suche nach den Nilquellen auf, die er 1858 im Tanganjikasee gefunden zu haben glaubt. Trotz seiner Erfolge erreicht er nicht alle seine hochgesteckten Ziele, viele Hoffnungen und Erwartungen erfüllen sich nicht, er scheitert an seiner abendländischen Gesinnung. Und er muss auch erkennen, dass er sich rein menschlich immer mehr von seiner Umgebung entfremdet hat, bei seinem Tod in Triest erklärt ihn der Bischof mangels klarer religiöser Orientierung kurzerhand zum ‹Katholiken ehrenhalber›. Und seine niemandem mehr nützlich erscheinenden, persönlichen Notizen landen im Feuer.

Durch die Beschränkung auf sehr wenige, wirklich markante Lebensdaten seines realen historischen Vorbildes Richard Burton gelingt es Ilija Trojanow, einen Protagonisten zu erschaffen, dem er als literarischer Figur alles andichten kann, was ihm seine überreiche Phantasie eingibt. Diese aus wechselnden Perspektiven erzählte Geschichte vom Scheitern ist in einem flüssig zu lesenden, den Handlungsorten und Figuren entsprechenden Stil geschrieben. Nicht immer aber ist es gelungen, die innere Zerrissenheit des Romanhelden wirklich glaubhaft darzustellen, zumal häufig auch ein in der Jetztzeit gründendes, politisches und soziales Bewusstsein erkennbar wird, welches hier als wesensfremd der historischen Figur im wahrsten Sinne des Wortes regelrecht angedichtet wird. Und auch die arabeskenreiche Sprache lenkt eher ab, ja sie stört zuweilen sogar den Lesegenuss, den diese bereichernden Geschichten aus fernen Ländern und vergangenen Zeiten so manchem Leser ansonsten zu bieten vermögen.

Bewertung vom 27.01.2025
Unmöglicher Abschied
Kang, Han

Unmöglicher Abschied


weniger gut

Unterhaltsam schon gar nicht

Der Nobelpreis für Literatur des Jahres 2024 wurde jüngst der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang verliehen, fast zeitgleich erschien ihr neuester Roman «Unmöglicher Abschied» in deutscher Übersetzung. Die Grundprinzipien ihres Schreibens seien «Liebe und Schmerz», hat sie in ihrer aufschlussreichen Stockholmer Rede bei der Preisverleihung erklärt. Wie für ihre Erzählerin am Anfang dieses Romans sei ein Traum auch für sie selbst die Initialzündung für den Beginn ihrer Arbeit an diesem Buch gewesen, hat sie hinzugefügt. Das Traumbild eines mit schwarzen Baumstämmen bewachsenen Berges, das ihrer Protagonistin Gyeongha wie ein mit Grabsteinen übersäter Friedhof erschienen ist, dient im Roman als Metapher für das jahrzehntelang tabuisierte Jeju-Massaker von 1948. Sie beschwört mit dieser bedrückenden Thematik auf sehr subtile Weise die Geister einer fürchterlichen Vergangenheit herauf.

Als dreiteiliger Roman beginnt die Geschichte in nicht chronologischer Reihenfolge mit dem dringlichen Wunsch von Inseon, der besten Freundin der Ich-Erzählerin, die nach einem Unfall im Krankenhaus von Seoul liegt, ganz schnell zu ihr zu kommen. Die allein in einem abgelegenen Bergdorf auf der südkoreanischen Insel Jeju wohnende Freundin bittet sie dringend, zu ihrem Haus zu fahren und dort ihren innig geliebten Papagei zu versorgen, den sie nach dem eiligen Abtransport mit dem Rettungswagen allein zurücklassen musste. Ohne Wasser und Nahrung könne er dort maximal drei Tage überleben. Gyeongha macht sich bei beginnendem Schneegestöber spontan und völlig ohne Gepäck auf den Weg, ihr Flug auf die Insel ist wetterbedingt der letzte an diesem Tage. Auch die Weiterfahrt mit dem Bus zu dem kleinen Bergdorf ist schwierig, alle Straßen sind menschenleer, nirgendwo ist noch ein Geschäft geöffnet, wo sie sich mit dem Nötigsten eindecken könnte. Nach einem odysseeartigen Fußmarsch durch Wald und Flur trifft sie schließlich spätnachts in völliger Dunkelheit an dem einsam gelegenen Haus der Freundin ein, - zu spät allerdings, der Vogel liegt tot in seinem Bauer.

Schnee ist allgegenwärtig in diesem bedrückenden Roman einer Freundschaft zwischen zwei Frauen, der Schriftstellerin Gyeongha und ihrer langjährigen Freundin, der Fotografin Inseon. Beide hatten beschlossen, das Traumbild von Gyeongha in einem gemeinsamen Projekt als Installation bildlich umzusetzen und dafür einen Hang in der Nähe ausgesucht, mehr als hundert schwarze Baumstämme sind neben Inseons Haus dafür schon eingelagert. Im Haus trifft Gyeongha schließlich ganz unvermutet auf Iseon, die ihr von dem Insel-Aufstand erzählt, der als Jeju-Massaker auch die leidvolle Geschichte ihrer eigenen Familie widerspiegelt. Zwischen Traum und Wirklichkeit mäandernd verwischen hier die Grenzen. Realität und Imagination, aber auch Lebende und Tote stehen erzählerisch kaum noch unterscheidbar völlig gleichberechtigt nebeneinander. Wie ein Menetekel schwebt in diesem Roman die düstere Vergangenheit drohend über dem Erzählten, und all das kommt hier dann nur sehr zögerlich und nur nach und nach ans Licht.

Im Stil des magischen Realismus geschrieben, bestimmt der Schnee als omnipräsente, letztendlich aber auch kaum zu deutende Metapher diesen poetischen Roman, in dem sich oft unvermittelt verschiedene Realitätsebenen miteinander vermischen, was zu erhöhter Aufmerksamkeit beim Lesen zwingt. Neben den irgendwann lästig werdenden Schnee-Passagen, die durch ihre ständigen Wiederholungen schon bald ermüden, sind auch die geradezu fantastisch wirkenden Passagen über die eherne Freundschaft der beiden Frauen irgendwann nur noch lästig. Sprachlich zum Teil etwas holprig, für eine Nobelpreis-Trägerin also wenig überzeugend, ist dieser depressiv machende Roman, der so ziemlich alles offen lässt am Ende, weder wirklich bereichernd noch gar erfreulich, - und unterhaltsam schon gar nicht!

Bewertung vom 21.01.2025
Handy
Schulze, Ingo

Handy


weniger gut

Vom Risiko profaner Abschweifung

Mit dem Erzählband «Handy» deutet Ingo Schulze schon in dem bemerkenswerten Untertitel «Dreizehn Geschichten in alter Manier» auch gleich sein Stilmittel des einfachen Erzählens an. Der kleinen Form der Belletristik, dem Sammelband «33 Augenblicke des Glücks», verdankte er 1995 auch seinen Durchbruch als Schriftsteller. Und mit dem vorangestellten Zitat von Friederike Mayröcker weist er zudem recht deutlich auf den Geist des vorliegenden Buches hin, auf das dominante Prinzip der Beiläufigkeit: «Dann folgte ein Tag dem anderen ohne dasz die Grundfragen des Lebens gelöst worden wären.» Als ein in der DDR sozialisierter Schriftsteller, hat er im Interview erklärt, empfinde er seinen Blick auf die Gesellschaft zumindest teilweise immer noch als den eines Außenstehenden, und das sei auch prägend für dieses Werk gewesen.

Für viele der Geschichten habe er die Ideen lange mit sich herumgetragen, ohne zu wissen, was daraus werden könnte beim Schreiben. Im Vordergrund seiner autofiktional inspirierten Erzählungen steht dabei die Anmutung von Unmittelbarkeit, die Illusion des wahrhaftig Erlebten, auch wenn das meiste davon der Phantasie entsprungen ist. Eine eigenwillige Umkehr des vorherrschenden Prinzips, das Faktische des Lebens in erzählende Literatur umzusetzen. Hier steht also die Literarizität obenan, der literarische Grad eines Werkes also, dem Ingo Schulze dann seinen fiktionalen Erzählstoff überstülpt. Er tut das in einer so allgemein gehaltenen Weise, dass seine Geschichten oft unverständlich bleiben und meist auch völlig belanglos sind, weil scheinbar Realität und Fiktion anders für ihn nicht in Einklang zu bringen sind.

Damit geht der Autor bewusst unter das eigene wie auch unter das Milieu seiner Leser, er biedert sich also volkstümlich an mit Hilfe des Profanen. Sein literarisches Mittel dafür ist die Beiläufigkeit, in der da erzählt wird, ein sprachlicher Stil, der schnell Gefahr läuft, langweilig zu werden. Den Leser beschleicht nämlich schon bald das Gefühl, scheinbar grotesk unterfordert zu sein. Hinzu kommt, dass all das Banale in den Erzählungen stilistisch adäquat in anspruchsloser Umgangs-Sprache geschildert wird, der Leser wird also auch hiermit intellektuell nicht gefordert. Es wird allerdings, ob man will oder nicht, ein Gefühl der Vertrautheit erzeugt, man wird also fast zwangsläufig in eine zeitgemäße Lebenswirklichkeit hineinversetzt.

Bei aller literarischen Schlichtheit versteht es Ingo Schulze in diesen Erzählungen, alles sehr detailliert zu beschreiben und seine Themen zudem in stimmigen Dialogen zu artikulieren. Die politische Wende in Deutschland hat natürlich mentale Veränderungen der Menschen bewirkt, die auch soziale Auswirkungen haben und den Erzählstoff mitprägen. Das «Handy» steht als Metapher sinnbildlich für die Ausweitung des eigenen Lebensbereiches, es wirkt einer engbemessenen Abschottung der Lebenswirklichkeit des Individuums entgegen, mit für nahezu jedermann spürbaren Auswirkungen, denn man kann sich nun der äußeren Welt kaum noch entziehen. Mit diesem literarischen Unterbau und mit einem solch bunten Sortiment an Themen bleibt es nicht aus, dass recht inhomogene Texte entstanden sind, die qualitativ ziemlich unterschiedlich ausgefallen sind und natürlich auch nicht alle wirklich zu überzeugen vermögen. Der Reiz der Lektüre liegt sicherlich bei der scheinbar zufälligen Kombination unterschiedlichster Motive und Szenerien, die erst durch ihre Beziehungen zueinander an Gehalt gewinnen und Zusammenhänge verdeutlichen. Wer so unkonventionell und, immer wieder weit abschweifend, profan zum Thema der menschlichen Glückssuche schreibt, der läuft Gefahr, nicht verstanden zu werden und die potentielle Leserschaft zu verschrecken. Ingo Schulze hat dieses Risiko sehr beherzt und offensichtlich auch recht selbstbewusst auf sich genommen. In wieweit er damit eine individuell wirklich bereichernde und unterhaltsame Lektüre geschaffen hat, kann jeder Leser nur ganz allein für sich entscheiden!

Bewertung vom 18.01.2025
Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes
Setz, Clemens J.

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes


gut

Überambitioniert, aber gekonnt geschrieben

Mit seinem 18 Geschichten enthaltenden Erzählband unter dem altmodisch klingenden Titel «Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes» hat der damals 29jährige, österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz den Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik des Jahres 2011 erhalten. Den Ausschlag für die Entscheidung der Jury gab, wie es in ihrer Begründung hieß, «die Eigenwilligkeit der Sprache, die Kühnheit der Konstruktion und die Konsequenz des Konzepts, das zu originellen wie unheimlichen Geschichten führte». Es sind, ganz im Stil der Postmoderne geschrieben und damit entfernt an David Foster Wallace erinnernd, nicht nur unterschiedlich lange, sondern auch thematisch völlig inhomogene literarische Vignetten voller Tristesse und existenzieller Verlorenheit.

Gleich zu Beginn weist Clemens J. Setz sich in der ersten Geschichte unter dem Titel «Milchglas» als präziser Beobachter aus, der voller Empathie einen jugendlichen Ich-Erzähler die fatalsten Begebenheiten an den trostlosesten Orten einfühlsam schildern lässt. Ganz ähnlich geht es in der zweiten Geschichte zu, wo unter dem Titel «Die Waage» von einer Hausgemeinschaft erzählt wird, deren diffizile Verbindungen untereinander der Autor ganz ohne Häme mit psychologischem Feinsinn offenlegt. In der nächsten Geschichte ist von einer unheimlichen Seuche die Rede, die anfangs nur die Visitenkarten einer Angestellten mit ekligen Blasen befällt und später epidemieartig weiter um sich greift. Ziemlich grausig ist die vierte Geschichte, in der die «Eltern von Hänsel und Gretel» nachts genüsslich Sex haben, bevor sie dann endgültig beschließen, ihre Kinder am nächsten Morgen im finsteren Wald auszusetzen.

Psychologisch skurril wird es, wenn junge Männer sich in der Geschichte «Mütter» hausfraulich verkleidete Nutten gegen Entgelt als biedere Muttis ins Haus holen, um wenigstens gegen Bezahlung durch sie ein Gefühl der Geborgenheit zu bekommen. Ähnlich einsam ist auch eine Frau, die an Sozialphobie leidet, in der Kabine eines Riesenrades wohnt und dort partout nicht mehr heraus kommen will. In der Mitte des Erzählbandes taucht in postmoderner Manier unter dem Titel «Das Herzstück der Sammlung» in einem Literaturarchiv überraschend ein weißhaariger, greiser Schriftsteller namens Clemens J. Setz auf, der in einem Gitterbett liegt. Und dort befindet sich auch, hört, hört, ein ganzes Regal voller später Werke von ihm. Bezeichnend für die Motivwahl des Autors ist vor allem die im Buch als letzte erzählte, titelgebende Geschichte von der Skulptur eines großen Kindes, die eines Tages plötzlich am Ende einer Sackgasse steht. Unvollendet, geformt aus weichem, immer feuchtem Lehm, hat der Künstler sein plastisches Werk dem kunstbegeisterten Publikum zur Vollendung überlassen. Während es zunächst gebührend gefeiert wird, verlieren die Bewohner später jede Kontrolle über sich und prügeln voller Wut auf das «Mahlstädter Kind» ein, sie verlieren dabei sogar fast ihren Verstand.

Neben derart vergleichsweise Harmlosem finden sich allerdings auch recht drastische Beschreibungen von sexueller Gewalt, die in abstoßenden, eiskalt ausgemalten Gewaltszenen zuweilen sogar pathologische Züge annimmt. Äußerst brutal wird da ein Mädchen entjungfert, werden Kinder misshandelt und Männer sexuell gedemütigt, wird eine Prostituierte von einem sadistischen Ehepaar gequält oder eine Frau von ihrem Freund in einen Käfig gesperrt. Mit seinen vielen intertextuellen Bezügen ist dieser Sammelband auch ein Buch über Literatur, ein gelungenes Protokoll der Gegenwart zudem und eine Satire über den Wissenschafts-Betrieb. Nicht Alles aber ist überzeugend, und Etliches ist belanglos. Vieles auch wirkt allzu konstruiert und motivisch überfrachtet, vom Elefantenmensch über das Napalm-Mädchen in Vietnam und den Lampenschirm aus Buchenwald bis hin zur musikalischen Hölle von Hieronymus Bosch. Kurzum: überambitioniert, teilweise schwerverdaulich, aber gekonnt geschrieben!

Bewertung vom 11.01.2025
Roman unserer Kindheit
Klein, Georg

Roman unserer Kindheit


schlecht

Allenfalls für Splatter-Fans

Der dritte Roman im Œuvre der Schriftstellers Georg Klein mit dem Titel «Roman unserer Kindheit» wurde im Jahre 2010 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Erzählt wird darin eine autobiografisch inspirierte, aber auch eine surreale, phantastische Geschichte von einer Gruppe von Kindern. Dabei verändern sich zunehmend die realen und irrealen Verflechtungen des Plots, und ebenso wird auch der kindlich geprägte Erzählstoff von den Grausamkeiten der Erwachsenenwelt überschattet und schließlich dominiert. Zeitlich ist diese Coming-of-Age-Geschichte in den frühen sechziger Jahren angesiedelt, örtlich spielt sie sich im Ruhrpott am Rande von Oberhausen ab, in einer Neubausiedlung mit vier Wohnblöcken. Dort tummelt sich während der großen Ferien, einen scheinbar ewig dauernden Sommer lang, eine wahrhaft illustre Schar von fast dreißig Kindern in einem immer düsterer erscheinenden ‹Sommernachts-Traum›, der zum Albtraum wird.

Die Hauptrollen in diesem Roman spielen acht Kinder, die im «erbsengrünen, kanariengelben, türkisen und knochenbleichen weißen» Wohnblock leben und immer nur mit ihren Spitznamen genannt werden: «Der große Bruder, der Schniefer, der Ami-Michi, der Wolfskopf, die schicke Sybille, die Schwester der schicken Sybille, die winzigen Zwillinge». Das zugrunde liegende narrative Prinzip des Romans ist eine Schwarz/Weiß-Teilung mit Tag- und Nachtseite bzw. profan/realer Oberwelt und schaurig/schöner Unterwelt. Das findet sich dann auch in den die Stimmung anzeigenden Kapitel-Überschriften Sonnen-/Regentag wieder, die zum Ende hin, mit Ausnahme des Schlusskapitels, nur noch Sommernacht heißen. Es beginnt mit einem Fahrradunfall, bei dem sich der «Große Bruder» eine schmerzhafte Verletzung am Bein zuzieht. Um weiter mit den Spielkameraden zusammen sein zu können, die an den schönen Sommertagen im Freien herumziehen, baut seine Mutter einen alten Kinderwagen so um, dass er darin sitzen kann. Die Freunde können ihn nun überall hin mitnehmen bei ihren ausgedehnten Streifzügen durch die Umgebung, zu der auch eine amerikanische Kaserne gehört. Aber auch der alte Braukeller übt eine magische Anziehungskraft auf die Clique der Siedlungskinder aus.

In einer stilistisch seinen jugendlichen Figuren angepassten Sprache schildert der Autor aus den Perspektiven wechselnder Ich-Erzähler deren kindliche Erlebnisse und die Ereignisse in der Siedlung. Auf einer metaphysischen Ebene wird vom taubstummer «Kiki-Mann» der Mord eines der Kinder prophezeit, es bleibt aber offen, von welchem. Weitere Gestalten in dieser mysteriösen Zwischenwelt sind Kriegsveteranen wie der «Mann ohne Gesicht», der «Fehlharmoniker» oder der «Kommandant Silber», deren Bedeutung vom Autor ganz bewusst im Unklaren gelassen wird, er belässt es bei Andeutungen. Sein Erzählkosmos ist bevölkert von Monstern, bedrohlichen Tieren, es gibt eine «gefledderte Leiche», ein «blutendes Architekturmodell», eine «fremdzüngelnde Sterbende» und anderes Skurrile mehr. Am Ende rutscht der Roman vollends ins Splatter-Genre ab, in ein blutrünstiges Horrorszenario mit exzessiver Gewalt.

Man fragt sich als vom Buchtitel überrumpelter und vom Inhalt entsetzter Leser, was Georg Klein mit seinen ominösen Andeutungen, die sich letztendlich allesamt als großer Bluff herausstellen, denn nun wirklich bezweckt. Allein schon mit seinem göttlichen Ich-Erzähler treibt er literarisch den Spuk auf die Spitze. Durch eine grenzenlos angeheizte Phantasie des Autors wird ein extremer Grad von Suggestion erreicht, die aber ihr Versprechen unerfüllt lässt, weil man ihr nicht folgen kann, allenfalls als Splatter-Fan. Nimmt man als Maßstab den Grad der Verunsicherung, die beim Leser erzeugt wird, ist dieser Roman ein literarisches Meisterwerk. Gemessen aber an den legitimen Erwartungen nach einer bereichernden und erfreulichen Lektüre, ist man geradezu entsetzt über diesen mit einem Buchpreis gekrönten Roman!

Bewertung vom 08.01.2025
Alle Tage
Mora, Terézia

Alle Tage


sehr gut

Exzentrischer Migrations-Roman

Der Debütroman von Theresia Mora mit dem Titel «Alle Tage» hat mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2005 auf Anhieb viel Anerkennung gefunden. Auch in den Feuilletons wurde das Buch überwiegend positiv besprochen, während die Laienkritiken erkennen ließen, dass viele der Leser ziemlich verständnislos auf diesen ungewöhnlichen Roman reagiert haben. Die aus Ungarn stammende Autorin hat sich nämlich stilistisch über alle Konventionen hinweg gesetzt, was die Lektüre deutlich erschwert und volle Konzentration erfordert, will man der teils wirren Handlung folgen und all die versteckten Hinweise und Gedankensprünge des Plots verstehen.

Abel Nema, der Protagonist des Romans, flieht, alles zurück lassend, vor der Einberufung, als in seinem Land auf dem Balkan ein Krieg ausbricht. Was ihm umso leichter fällt, weil sein Freund Ilia ihn nach der Abiturfeier empört abgewiesen hat, als er ihm seine Liebe gestanden hatte. In dem nicht genannten westlichen Land, das ihn aufnimmt, bleibt er ein Fremder. Er hat aber Glück im Unglück, weil er nach einem Gasunfall ungeahnte Sprachfähigkeiten entwickelt. In einem Sprachlabor lernt er, zehn Sprachen fließend und akzentfrei zu sprechen, er kann nun als Übersetzer arbeiten, gibt Sprachunterricht und findet Aufnahme in akademische Kreise. Ohne aber ganz persönlich davon profitieren zu können, denn kontaktarm, wie er ist, gehört er einfach nicht dazu in seinem Gastland. Mercedes, eine Mitarbeiterin des Sprachlabors, geht eine Scheinehe mit Abel ein, um ihn vor der drohenden Ausweisung zu bewahren. Als sie aber seine homoerotische und pädophile Neigung erkennt und besorgt ist wegen ihrem Sohn, lässt sie sich, vier Jahre später, wieder von ihm scheiden, nachdem sein Aufenthaltsrecht gesichert ist.

Immer wieder zieht es Abel zu den gesellschaftlichen Randgruppen hin, zu den Gestrandeten der Wohlstandsgesellschaft. Er lebt in verschiedenen WGs chaotisch mit Studenten und Künstlern zusammen, geht gern in obskure Nachtclubs und verkehrt im Drogenmilieu. Abel ergeht sich in Halluzinationen, verliert sich in endlosen Selbst-Reflektionen, sinniert häufig gedankenverloren vor sich hin. All diese Erinnerungsfetzen, Gedankensplitter und Phantasien vermischen sich zu einem mentalen Chaos, das ihn oft seelisch völlig aus der Bahn wirft. Er hat permanent Probleme, Reales und Metaphysisches klar von einander zu trennen. Als er schließlich einen Strichjungen bei sich aufnimmt, wird er von dem dann auch prompt bestohlen. Eine Gruppe Jugendlicher, die sein Zusammenleben mit dem Strichjungen wütend macht, dringen in seine Wohnung ein und verwüsten sie, verprügeln ihn und hängen ihn kopfüber an einem Klettergerüst auf. Durch die Verletzungen, die er dabei erleidet, verliert er schlagartig sein phänomenales Sprachvermögen. Am Ende des Romans findet sich ein Epilog unter dem Titel «Letzte Wendung», in dem der wortkarge Protagonist plötzlich in Ich-Form einen Ausblick gibt. «Es ist so einiges zusammen gekommen, und wenigsten einen Bruchteil davon muss ich erzählen», heißt es da überraschender Weise. Das passt so gar nicht zu der Sprachlosigkeit, die im gesamten Buch bisher kennzeichnend gewesen ist für diese ebenso wortkarge wie mysteriöse Romanfigur.

Über ihr stilistisches Konzept für den Roman hat die Autorin im Interview erklärt, dass sie hier grundsätzlich vom Ende her erzähle. Außerdem versuche sie, in Sprache und Plot ein Äquivalent für die Kompliziertheit des Lebens zu finden. Ihre individuellen Geschichten spiegelten immer einen Teil des größeren Zusammenhangs. Und was die Leerstellen im Narrativ anbelangt, verweist sie auf Faust, wir müssten sehen, «dass wir nichts wissen können». Ihre sprachliche Form spiegle im Übrigen die Komplexität der Welt wider, und Wirklichkeit sei letztendlich nur in der Sprache zu finden. Ohne Zweifel literarisch hochstehend, dürfte sich dieser exzentrische Migrations-Roman wohl kaum größeren, Konventionelles erwartenden Leserkreisen erschließen.

Bewertung vom 06.01.2025
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Ein politischer Weckruf ohnegleichen

Der irische Schriftsteller Paul Lynch hat für seinen jüngsten Roman mit dem bibelbezogenen Titel «Das Lied des Propheten» den Booker Prize des Jahres 2023 gewonnen. Inspiriert dazu sei er vom Bürgerkrieg in Syrien, von der Flüchtlingskrise sowie von den auch in Europa zu verzeichnenden Tendenzen zu anti-demokratischen Regierungs-Formen, »Dieses Buch war nicht leicht zu schreiben», hat er erklärt, inspirierend dazu sei für ihn ein Gefühl des fortschreitenden Abgleitens in totalitäre Staatsformen. Mit der genialen Idee, seinen politisch-dystopischen Roman ausgerechnet in Europa spielen zu lassen, in seiner Heimat Irland nämlich, hat er seine Leser radikal aus ihrer politischen Komfortzone heraus gescheucht. Niemand in Europa könne sicher sein, so sein Credo, totalitäre Regime seien nur ein Phänomen fernab, auf anderen Kontinenten dieser Welt.

Bei Familie Stack in Dublin klingelt es eines abends an der Haustür, und als die Protagonistin des Romans und vierfache Mutter Eilish öffnet, stehen zwei Männer von der Geheimpolizei vor ihr, die Larry Stack sprechen wollen, ihren Mann. Eine geradezu klassische Urszene in allen faschistischen Diktaturen! Und da er nicht zuhause ist, solle der Generalsekretär der Lehrer-Gewerkschaft sich baldmöglichst bei ihnen melden. Was Larry nach einigem Zögern dann auch tut, seither ist er spurlos verschwunden. Mit der Machtübernahme etabliert die «National Alliance» als rechtsradikale Partei Irlands eine politische Tyrannei, vor der niemand mehr sicher ist. fast jeder ist dem Staat verdächtig, Menschen werden willkürlich aus aberwitzigen Gründen verhaftet, und die Justiz ist per Notstands-Verordnung praktisch außer Kraft gesetzt. Es gelten strenge Ausgangssperren, Schulen werden geschlossen, Hamsterkäufe machen die Regale in den Geschäften leer. Die promovierte Molekular-Biologin Eilish wird das Opfer von Sippenhaft, sie verliert aus fadenscheinigen Gründen ihren Job, das Haus wird verwüstet, ihr Auto demoliert. Der älteste Sohn schließt sich den Rebellen an, die militärisch das Terror-Regime bekämpfen, - und auch ihn sieht sie niemals wieder. Als ihr jüngerer Sohn bei einer Detonation durch Splitter verletzt ins Krankenhaus eingelieret wird, verschwindet er dort spurlos. Bis sie ihn schließlich, nach hartnäckiger Suche, in einem Plastiksack liegend in einem militärischen Leichen-Schauhaus findet, der Körper übersäht von Folterspuren. Der Schwester von Eilish in Kanada gelingt es schließlich, sie mit ihren verbliebenen zwei jüngsten Kindern zur illegalen Ausreise zu bewegen. Ihren demente Vater muss sie notgedrungen zurücklassen, er lehnt die Emigration strikt ab.

Politischer Extremismus mit den toxischen Begleit-Erscheinungen einer polarisierten, sich unversöhnlich gegenüber stehenden und zunehmend gewalttätiger werdenden Gesellschaft bildet das narrative Gerüst für diese düstere, deprimierende Geschichte, die aufrüttelnd wirkt. Die Hoffnung der Protagonistin, Derartiges könne ja in einem EU-Land niemals passieren, erweist sich als trügerisch. Gerade heute wurde ja in Österreich ein politisch stramm Rechter mit der Regierungs-Bildung betraut, wer an die Geschichte des National-Sozialismus zurückdenkt, ahnt, wohin die Reise dort gehen könnte. Und wenn der vergleichbaren deutschen Partei eine Mitgliedschaft in der rechtsgerichteten Fraktions-Gemeinschaft des EU-Parlaments verwehrt wird, spricht ja auch das Bände!

Die erzählerische Eskalation am Ende des Romans, als die Menschen verachtende, gefährliche Flucht aus Irland geschildert wird, beleuchtet nach all den Schrecken auf eindringliche Weise dann auch noch die Flüchtlings-Problematik, man ist dafür kaum mehr aufnahmefähig. Andererseits lässt der Autor die Entstehung seiner politischen Szenerie im Dunklen, obwohl die Historie dafür ja einige Vorlagen anbietet, auch aus «diesem unseren Lande» übrigens! Dieser Roman ist über das rein Literarische hinaus ein politischer Weckruf ohnegleichen für eine unbedarfte Wählerschaft.

Bewertung vom 03.01.2025
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


gut

Altpapier, Sex und Poetik

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger beschreibt in seiner autobiografischen Erzählung «Das glückliche Geheimnis», wie er in fünfundzwanzig Jahren als Altpapier-Sammler in Wien auf der Suche war nach literarischen Schätzen. Beginnend in seiner Zeit als Student, brachte ihm das Stöbern im Altpapier-Container damals so manchen Fund ein, der sich in bare Münze verwandeln lies und ihn eine Zeit lang sogar finanziell ‹über Wasser hielt›. Denn was ihm da an Zufallsfunden in die Hände fiel, waren teilweise wertvolle Antiquitäten, die von ahnungslosen Erben bei der Wohnungs-Auflösung verstorbener Angehöriger achtlos weggeworfen wurden. So berichtet er von einer «Gründlichen Violinschule» aus der Feder von Leopold Mozart, dem Vater des berühmten Wolfgang Amadeus, die etwa aus dem Jahre 1770 stammen dürfte. Eine echte Trouvaille, denn für derart Rares zahlen Sammler hohe Summen, die dem damals noch ‹armen Poeten› als Student den Lebensunterhalt für ein halbes Jahr gesichert haben. Wie er die vielen Bücher an den Mann gebracht hat, welche Abnehmer er dafür hatte, verschweigt er allerdings.

Nun sind Müllsammler in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten angesiedelt, zumeist ja Nichtsesshafte, die Pfand-Flaschen oder –Dosen sammeln, um sie zu Bargeld zu machen bei der Rückgabe. Deshalb war es Arno Geiger sehr peinlich, was er da tat, und er hielt es streng geheim. Niemand wusste davon außer seiner Freundin und späteren Ehefrau, es war für sie beide «Das glückliche Geheimnis». Denn durch die Konvolute von Briefen oder Tagebüchern, die er außer den literarischen Büchern auch oft fand, erhielt er einen tiefen Einblick in das intim Menschliche. Er erfuhr, ohne die Person leibhaftig zu kennen, deren Gedanken und Empfindungen quasi in Reinform, also ohne störendes Wissen über deren Körperlichkeit. Das würde ja nur ablenken, und zwar über alle Standesgrenzen und intellektuellen Unterschiede hinweg. Für seine persönliche Entwicklung als Schriftsteller seien diese sehr speziellen ‹Studien› äußerst segensreich gewesen. Er sei dadurch im wahrsten Sinne des Wortes ‹geerdet› worden, was sich thematisch und stilistisch in seinem Werk niedergeschlagen habe.

Arno Geiger beschreibt also in diesem Buch seine durch die Lektüre der gefundenen Bücher geförderte Entwicklung als Schriftsteller, er gewährt dem literarisch interessierten Leser somit einen aufschlussreichen Einblick in seine Schreibwerkstatt. Für den Roman «Es geht uns gut» erhielt er schließlich im Jahre 2005 überraschend als Erster den damals neu gegründeten Deutschen Buchpreis, was seiner Karriere als Schriftsteller einen raketenartigen Auftrieb gab, verbunden mit einer traumhaft hohen Auflage. Seine bisher parallel verlaufenden beiden Leben, als literarischer Schatzsammler und als Schriftsteller, «entfernten sich immer weiter voneinander», schreibt er dazu. Und so beendet er schließlich seine Rundfahrten durch Wien als, Altpapiersammler, weil sie zur bloßen Gewohnheit geworden waren, ohne jeden Zuwachs an Erkenntnis.

Seinen Werdegang als Autor ergänzt Arno Geiger immer wieder durch private Episoden aus seinem Leben. Er erzählt von seinen Eltern und, recht freimütig, auch von den Frauen, die er vorsichtshalber jeweils durch einen Buchstaben anonymisiert, und zu denen gehört mit K. auch die Liebe seines Lebens. Mit vielen literarischen Verweisen und die selbstbezogenen Reflektionen seines Autors versehen, ist dieses Buch für wissbegierige Leser durchaus bereichernd. So bewundert er Philipp Roth, der sich nach «Nemesis», seinem letzten Roman, 2012 vom Schreiben zurückgezogen hat. Was Arno Geigers Buch «Das glückliche Geheimnis» anbelangt, habe er sich radikal dazu entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, er wolle nämlich ebenfalls, wie sein amerikanischer Kollege, sein Leben nicht am Schreibtisch beenden. Man ist verblüfft als Leser, wie hier nonchalant aus Altpapier, Sex und Poetik Literatur entsteht. Auch wenn nicht jede der reichlich eingestreuten Aphorismen zu Leben und Literatur gelungen ist und die vielen Wiederholungen irgendwann doch ziemlich nerven, ist diese Lektüre gleichwohl bereichernd.

Bewertung vom 30.12.2024
Das Siebte
Garcia, Tristan

Das Siebte


weniger gut

Mangel an Inspiration und Substanz

Mit dem Titel «Das Siebte» hat der französische Schriftsteller Tristan Garcia seinen siebenteiligen Romanzyklus abgeschlossen, und nicht zuletzt hat er auch die mystische Bedeutung der Zahl sieben mit einbezogen in seine Geschichte von Einem, der sieben mal lebt. Ein philosophisches Experiment, das als narratives Gerüst fungiert für allerlei Gedankenspiele zum Thema Tod. Und dabei wird dann auch die uralte Frage gestellt: Was wäre denn, wenn es nach dem Sterben ein Wiedererwachen gäbe? Wenn man also, anders als bei Jesus, der ja zu seinem ‹Vater› in den Himmel aufgestiegen ist, im gleichen Körper wiedergeboren wird, mit dem bereits vorhandenen Bewusstsein allerdings aus dem vorhergehenden Leben. Der Autor lässt seinen namenlosen Romanhelden also sechs Mal wieder auferstehen, ehe er nach seinem siebten Leben dann endgültig tot ist.

In den sieben Kapiteln des Romans werden nacheinander die sieben Leben des Ich-Erzählers geschildert, beginnend jeweils mit der Geburt, die der Protagonist bei vollem Bewusstsein miterlebt, und jedes Mal schneidet sein Vater wieder höchstpersönlich die Nabelschnur durch. Er wächst heran, und als Siebenjähriger überfällt ihn erstmals ein heftiges, nicht stillbares Nasenbluten, welches seine Mutter zwingt, mit ihm in eine Spezialklinik nach Paris zu fahren. Dort nimmt sich ein Arzt seiner an, der ihn mit «Hallo, alter Junge» begrüßt und ihm die Hand hinstreckt. «Ich heiße François, aber alle nennen mich Fran.» Gegen das Nasenbluten gibt Fran ihm eine winzige Phiole mit einer stinkenden Flüssigkeit, die er tief einatmen soll, - und die denn auch sofort hilft. Sein Nasenbluten sei eine genetische Anomalie, erklärt der Arzt. Und im weiteren Gespräch prophezeit er ihm schließlich: «Du wirst nicht sterben», was beim Ich-Erzähler auf völliges Unverständnis stößt. Neben Fran, der ihn auch künftig durch alle seine Leben hindurch begleiten wird, ist es vor allem die schöne Hardy, die als Freundin, Geliebte, Kumpanin, Revolutionärin, Ärztin und Ehefrau eine wichtige Rolle in seinen sieben Leben spielt. Eine so tolle Frau, dass ihn ein Bekannter bittet: «Rufen Sie mich an, wenn sie sich je scheiden lassen wollen!» Neben diesen beiden Wegbegleitern trifft er auch immer wieder auf die gleichen Dorfjungen oder den Hausarzt mit dem Dodge, und er erlebt Situationen, die er genau so schon mal erlebt hat. Den silberfarbene, verletzten Vogel zum Beispiel, den er immer pflegt, oder den herum streunenden schwarzen Hund, der den Vogel immer frisst.

Gleich im ersten Leben lernt er die Gitarre spielende Hardy in einem Park kennen, wo er sich ganz vorne hingesetzt hat und sie ihn anschnauzt: «Hey, glaubst du, du bist durchsichtig?» Diese Szene wiederholt sich auch in den anderen Leben, die sich von Leben zu Leben weiterentwickeln, jeweils auf sein Vorleben und Vorwissen aufbauend. Mal ist er durch Protektion seines Vaters Beamter, dann wird er Nobelpreisträger, Börsenspekulant, wird als jesusähnlicher Heilsbringer verehrt, ist als Revolutionär an Straßenkämpfen in Paris beteiligt und wird im letzten Leben schließlich zum Schriftsteller. Im Aufbau der Biografien auf dem jeweils bereits Erlebten offenbart sich die Problematik dieses gedanklichen Experiments, denn einen wirklichen Nutzen kann der untote Romanheld daraus nicht ziehen. Nicht mal dann, wenn es zum Beispiel um Wetten geht, deren Ergebnisse er vom Vorleben her ja im Voraus schon genau kennt, bei denen sich letztendlich dann aber doch immer alles anders entwickelt.

Leider tragen weder das erzählerische Konstrukt noch die ziemlich wirren, philosophischen Streifzüge durch ein uraltes Menschheits-Thema dazu bei, diesen Roman als interessante Lektüre zu empfinden. Sprachlich wenig überzeugend, wird man weder bereichert als Leser noch erfreut. Denn auch als Fantasy ist diese Geschichte nicht tragfähig, fehlt ihr Inspiration und Substanz. Schade, denn Tristan Garcia kann es deutlich besser, was er ja mit «Faber» zum Beispiel sehr überzeugend bewiesen hat!

Bewertung vom 26.12.2024
Tanz des Verrats
Enard, Mathias

Tanz des Verrats


gut

Moralische Desertierung

Seinen neuen Roman mit dem reißerischen Titel «Tanz des Verrats» hat der französische Schriftsteller Mathias Énard im Gespräch als «einen Roman über das 20. Jahrhundert» bezeichnet. Einer der Gründe, ihn zu schreiben, sei der Ukrainekrieg, der von Russland als Kampf gegen die ‹Nazis› begründet wurde. Damit sei der Krieg endgültig nach Europa zurückgekehrt. Es sind eigentlich zwei Romane in einem, die da ohne erkennbare Berührungspunkte in ständigem Wechsel nebeneinander erzählt werden. Einerseits die Geschichte eines berühmten Mathematikers, der Buchenwald überlebt hat und als überzeugter Kommunist in der neu gegründete DDR geblieben ist, während seine Lebensgefährtin und Mutter seiner Tochter es vorgezogen hat, in den Westen zu übersiedeln. Zum zweiten ist es die Geschichte eines namenlosen Deserteurs in einem unbenannten Krieg, der sich unter ständiger Gefahr zu einer ungenannten Grenze durchzuschlagen versucht.

Am 11. September 2001 findet auf einem gegenüber der Pfaueninsel auf dem Berliner Wannsee vertäuten Ausflugsdampfer ein Kongress zu Ehren von Paul Heudeber statt, dem berühmten Mathematiker. Dessen siebzigjährige Tochter Irina, die selbst Mathematik-Historikerin geworden ist, erzählt in Rückblenden von ihrem Vater, der beim Schwimmen im Mittelmeer ertrunken ist. Gerüchte sprechen von Selbstmord, den er begangen habe, weil er als unbeirrbarer Kommunist den sang- und klanglosen Untergang der DDR nicht überwinden konnte. Auch ihre Mutter Maja Scharnhorst ist anwesend, und Irina versucht, so viel wie möglich über ihren Vater in Erfahrung zu bringen, denn unter den Kongress-Teilnehmern befinden sich auch viele seiner Kollegen und Weggefährten. So erfährt sie auch, wie er im KZ Buchenwald Mithäftlingen Mathematik-Unterricht gegeben hat, und dort hat er auch seine «Ettersberger Vermutungen» niedergeschrieben, eine literarisch-mathematische Melange aus Lyrik und Zahlenkunde. Mit dem Einsturz der Twin Towers in New York am gleichen Tage markiert dieser Kongress auf dem Wannsee auch eine Zeitenwende.

Zweitens wird, ständig abwechselnd, in einer Art Selbstgespräch auch von einem Kriegsverbrecher erzählt, der als Deserteur durch eine karge Gebirgslandschaft irrt und dabei unverhofft auf eine junge Frau trifft, die sich mit einem Esel ebenfalls auf der Flucht befindet. Sie ist in ihrem Dorf mit zwei anderen Frauen von Feinden brutal gedemütigt und vergewaltigt worden, konnte sich aber befreien. In einem ersten Reflex will er sie erschießen, sie und ihr Esel stellen ja eine große Gefahr für ihn dar, entdeckt zu werden. Sie kennt ihn als grausamen Kriegsverbrecher und rechnet fest damit, dass er sie vergewaltigen und töten wird. Aber er beginnt sie zu pflegen, als sie bei einem Blitzschlag schwer verletzt wird. Während der Jagd trifft er auf eine Gruppe von drei marodierenden Soldaten, das Schicksal der Frau scheint damit besiegelt zu sein. Er erzählt ihnen lieber von ihrem gemeinsamen Versteck, bevor sie es von selbst finden. Erwartungsgemäß sehen die Drei die Frau denn auch als willkommene Beute an. Aber sie ersticht den ersten Soldaten, als er sie vergewaltigen will, die beiden anderen erschießt der Deserteur blitzschnell in einer völlig ungeplanten, spontanen Reaktion.

Im Roman heißt es an einer Stelle: «Beim Tanz des Verrats entdeckt man, was der andere einem verschwiegen hat. Es gibt nichts mehr zu verbergen, alles kommt ans Licht, alles wird verziehen, ohne dass man etwas gestehen müsste, - das ist das Schöne am Tanz des Verrats.» Mit dem Fokus auf Extremsituationen schreibt der Autor über kriegerische Geschehnisse des 20ten Jahrhunderts, ohne sie zu Ende zu erzählen. Mathias Énard lenkt seinen Fokus auf Extrem-Situationen, in denen der Mensch aus Furcht moralisch desertiert. Ein feinsinniger Roman mithin über Erpressbarkeit und Komplizenschaft, über die kriegerischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der exemplarisch ihre verstörenden moralischen Wirkungen aufdeckt!