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Ouvrier
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Bewertung vom 10.10.2016
Ohne Obdach
Unterwegs, Matthias

Ohne Obdach


ausgezeichnet

Sehr empfehlenswert!
Es gibt kaum Literatur zur Obdachlosigkeit. Das Buch hilft, eine wesentliche Lücke zu füllen. Der erste Teil des Buches ist eine Annäherung über den Weg der Erfahrung, indem der Autor selbst zwei Monate bewusst auf der Straße gelebt hat und seine Erlebnisse dokumentiert. Besonders berührend sind die persönlichen Begegnungen mit anderen Obdachlosen und die Fragmente von deren Lebensgeschichten, die sie erzählt haben. Deutlich wird, dass es den typischen Obdachlosen nicht gibt. Jeder hat sehr eigene Geschichte. Es gibt aber Faktoren, die das Risiko, die Wohnung zu verlieren, erhöhen.
Der zweite Teil ist Sachbuch und stellt viele Informationen zusammen, die man sich bisher allenfalls mit aufwändigen Recherchen zusammensuchen konnte. Das beginnt mit den aktuellen Zahlen. (Der Skandal wird spürbar, dass es seit vielen Jahren in Deutschland keine offizielle Statistik zur Wohnungslosigkeit gibt.) Das Problem der fehlenden Krankenversicherung wird dargestellt. Durch die Versicherungspflicht in Deutschland hat jeder, der Jahre lang nicht versichert war, unwissend einen fünfstelligen Betrag Schulden bei der Krankenkasse, bei der man versuchen würde ihn anzumelden. Das schneidet viele Betroffene von einer regulären Gesundheitsversorgung ab. Man erfährt ebenso etwas über die gängige Praxis der Bestattung von Obdachlosen.
Spannend ist das Kapitel zur Geschichte des Bettelns und insbesondere darin ein Urteil des Verwaltungsgerichtes Baden-Württembergs, das die Rahmenbedingungen absteckt, unter denen unsere Gesellschaft die Anwesenheit bettelnder Menschen hinnehmen muss.
Es gibt eine Art Leitfaden, wie man in guter Weise Betroffenen begegnen kann und was man unbedingt tun sollte, wenn man Obdachlosen in Extremsituationen wie in Frostnächten hilflos antrifft.
Ein exkursartiges Kapitel setzt sich mit der Situation von Sinti- und Roma auseinander, die wir auch oft als mehr oder weniger auf der Straße lebenden Menschen wahrnehmen.
Interessant ist die vom Autor eingebrachte Sichtweise der Prozessorientierten Psychologie, die Phänomene wie Obdachlosigkeit als Symptome einer Gesellschaft versteht und danach fragt, welche Ressourcen marginalisierte Teile eines Systems in sich tragen, die für die Gesundung dieses Systems dringend nötig wären.
„Ohne Obdach“ ist ein spannendes und berührendes Buch, das man allen sehr empfehlen kann, die mehr über die Situation Obdachloser, das Phänomen der Obdachlosigkeit, Möglichkeiten des Engagements und über einige Ansätze, wie von der Seite der Politik und Gesellschaft her etwas zu verändern wäre, wissen wollen.