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Benutzername: 
Morten
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 13.11.2024
Earhart
Kuhlmann, Torben

Earhart


sehr gut

Vielleicht ist es wichtig: „Earhart“ ist unser erstes Mausabenteuer. Der Stil daher erst einmal ein bisschen ungewohnt. Kurze Kapitel mit einer halben Seite wechseln sich mit Abschnitten über zwei, drei Seiten ab. Manches passiert Comic-artig mit großen, schönen Bildern ohne Text zwischendurch. Eine Art des Erzählens, an die man sich erst einmal gewöhnen muss. Als Vorlesender und Zuhörende. Ist man dann mal drin, macht es größtenteils Spaß.

„Earhart“ erzählt aus den Augen einer kleinen Wühlmaus die Geschichte der Pilotin Amelia Earhart nach. Die kleine Maus entdeckt eine Briefmarke und so, dass die Welt größer ist als der rechteckige Heimatgarten. Und sie macht sich auf Entdeckungsreise, baut sich ein Flugzeug, umrundet die Welt und …

Wer die Geschichte von Amelia Earhart kennt, der weiß, dass sie mit allerlei Widerständen zu kämpfen hatte. Pilotinnen gab es zu ihrer Zeit nicht viele, das Fliegen war wie vieles eine Männerdomäne und Pionierinnen wie Earhart wurden kritisch beäugt, verspottet und angefeindet. So wie die kleine Wühlmaus es erlebt als ihre Wühlmauskamerad:innen von ihren Flugplänen erfahren. Und dennoch hat sich Earhart durchgesetzt und mit einem Flugzeug die Welt fast umrundet bis sie auf mysteriöse Weise kurz vor dem Ziel verschwand. Ist sie abgestürzt? Hat sie sich versteckt? Bis heute ungeklärt, das Flugzeug wurde nie gefunden. Und auch das Buch von Torben Kuhlmann endet mit einem gewissen Interpretationsspielraum.

Es ist schön, dass eine Biografie wie die von Amelia Earhart auf eine solch erzählerische Weise für Kinder aufbereitet wird. Das Buch hat zwar ein paar Längen, gerade in der ersten Hälfte, und der Stil ist ein bisschen anders als der anderer Kinderbücher, aber sobald man sich daran gewöhnt hat, entwickelt sich ein schönes Abenteuer über das Ausbrechen aus Konventionen und die Entdeckung der Welt. Die Reise selbst nimmt zwar wenig (Text-)Platz ein, aber mit schönen Bildern bietet sie den Vorlesenden Spielraum, die Geschichte selbst auszuschmücken.

Aber was ist das Wichtigste? Genau, die Meinung des Kindes. Und das fragte: Gibt’s noch mehr Bücher davon? Holen wir uns die auch? Es hat also gefallen. Auf ins nächste Mausabenteuer!

Bewertung vom 18.10.2024
Intermezzo
Rooney, Sally

Intermezzo


gut

Sally Rooney hat ein erwachsenes Buch geschrieben, heißt es. Und ja, es stimmt, größtenteils. Zwei der Hauptfiguren sind zwar immer noch im Alter vergangener Rooney-Romane, drei andere aber Mid-30s. Im Alter der Autorin also. Und das Hauptthema neben Trauer ist eben die Liebe mit Altersunterschied. Klingt eigentlich vielversprechend. Ist aber leider, zumindest in der ersten Hälfte des Buchs, furchtbar zäh.

Kann man natürlich auch positiv betrachten. Rooney nimmt sich Zeit, ihre Figuren vorzustellen. Ivan und Peter, zwei Brüder, gut zehn Jahre Altersunterschied. Der Ältere ist Jurist, der Jüngere Noch-Student und Schachspieler. Und beide trauern auf ihre Weise um den jüngst an Krebs verstorbenen Vater. Bei einem Schachturnier lernt Ivan die 36-jährige Margaret kennen und trotz des Altersunterschieds funkt es zwischen dem jungen Mann und der in Scheidung lebenden Frau. Peter findet das kritisch, obwohl er selbst eine Freundin in Peters Alter hat, was zu einem weiteren Streit zwischen den Brüdern führt. Und dann ist da noch Sylvia, Peters frühere Beziehung, die nach einem Autounfall zerbrach und sich in Freundschaft auflöste, auf ihren Wunsch.

Nur: Sie nimmt sich zu viel Zeit. In kurzen Sätzen, mit vielen Dialogen ohne wörtliche Rede, eigentlich kein Problem für meinen Lesefluss, hier eher anstrengend. Peter und Ivan lamentieren, schweigen, schmeißen ihr Kopfkino an oder kotzen sich aus. Die Nebenfiguren performen dabei höchst unterschiedlich: Margaret bleibt trotz eigener Hintergrundgeschichte (Ex-Mann ist Alkoholiker, die Beziehung zu ihrer Mutter ist gestört) und ihrer Bedeutung für Ivan erschreckend blass. Sylvia ist eine interessante Figur, doch erfährt man relativ wenig über ihr Leben und den Autounfall, der eben jenes auf den Kopf gestellt hat. Am spannendsten ist dann doch die eher im typischen Alter einer Rooney-Figur gezeichnete Naomi, Studentin, Drogendealerin und, vermutlich, Onlyfans-Model. Mit ihrer kühlen Art, Peter zu betrachten, ihr Spiel zu spielen, dabei aber auch souverän mit Sylvia und Ivan umzugehen, ist sie trotz ihrer Probleme die einzige irgendwie positive Figur in Intermezzo.

Ich bin kein ganz schneller Leser, manchmal fliege ich in zwei, drei, vier Tagen durch ein Buch, manchmal dauert es eine Woche – bei Intermezzo waren es mehr als drei. Die meisten Tage gingen für die erste Hälfte des Buchs drauf, ich kam so gar nicht rein, war oft nach wenigen Zeilen wieder genervt von Peter, aber auch von Ivan, ihrer Lethargie, ihrer Unfähigkeit miteinander zu sprechen, ihrer Art übereinander zu sprechen. Muss man ihnen vielleicht auch nicht zum Vorwurf machen, jeder Mensch trauert anders. Vor allem wenn Machtmenschen wie Peter nicht nur um den Vater, sondern auch um die frühere Beziehung und das Verhältnis zum Bruder trauern, ja, vielleicht auch um das leichte Leben der Jugend- und Studentenzeit. Trauer ist vielschichtig und das aufzuzeigen, ist eine Stärke von Rooneys Roman.

Und tatsächlich, irgendwann, so nach der Hälfte der 500 Seiten, wenn genau das konkreter wird, die Geschichte ins Elternhaus von Peter und Ivan verlagert wird und die beiden ungleichen Brüder aktiv(er) werden, beginnt auch die Geschichte Fahrt aufzunehmen, der Lesefluss wird direkt schneller und Intermezzo wird zu einem, ja, doch recht guten Buch. Wären die ersten 250 Seiten nicht gewesen, wäre es vielleicht sogar ein sehr gutes.

Bewertung vom 07.10.2024
Okaye Tage
Mustard, Jenny

Okaye Tage


sehr gut

Manchmal ertappt man sich ja bei diesen „Was wäre, wenn“-Gedanken. Was wäre, wenn aus einer Jugendfreundschaft mehr geworden wäre. Was wäre, wenn man sich nicht aus den Augen verloren hätte. Oder was wäre, wenn man sich plötzlich, Jahre später, wieder sehen würde?

Jenny Mustard schickt ihre beiden Hauptfiguren Sam(antha) und Luc(as) genau in so eine Situation. Ein halbwildes Partygeknutsche mit 18, bevor sie zurück zu ihrer Familie nach Stockholm musste. Und dann ein Wiedersehen, Jahre später, auf einer Party in London, plötzlich mehr, plötzlich intensiver, plötzlich … ein Bruch.

Late-Twenty-somethings-Beziehungsgeschichten sind kein neues Genre, aber auch wenn fast alle Geschichten erzählt sind, so können sie durch einen Twist, durch eine gute Erzählweise doch spannend sein. Empathie wecken, für das, was zwischen Sam und Luc passiert, wie sie damit umgehen, mit sich, mit dem Bruch, mit ihrer Beziehung, ihrer Freundschaft. Und wo es enden mag.

Die große Stärke von Mustards „Okaye Tage“: Es ist verdammt authentisch. Es gibt ganz viele Momente, die nachvollziehbar sind. Oder die man zumindest verstehen kann. Die nicht Romance-Drama-Fiction sind, sondern aus dem wahren Leben gegriffen. Die man vielleicht erlebt oder zumindest miterlebt oder von ihnen gehört hat. Das gibt dem Roman eine persönliche Ebene, lässt aus den Figuren fast so etwas wie Bekannte werden. Und das macht es fast noch spannender, die Geschichte aus den beiden Perspektiven zu lesen. Wie sie denken, wie sie die Situationen um sich herum wahrnehmen. Wie nah sie sich sind und wie wenig sie sich doch einander öffnen, um den anderen nicht zu verprellen, anfangs, oder ihre verletzliche Seite zu zeigen, später.

Für wen ist das Buch? Leser:innen zwischen 20 und 45, die gerne realistische Beziehungsgeschichten mögen. Die vielleicht „Liebewesen“ von Caroline Schmitt toll fanden, „Klarkommen“ von Ilona Hartmann oder auch Autorinnen wie Chloe Ashby und Sally Rooney. Die, Achtung, Mini-Spoiler und Triggerwarnung, auch Themen wie Drogenkonsum und Abtreibung abkönnen. Die London in ihr Herz geschlossen haben und bestimmt den ein oder anderen Ort wiedererkennen werden. Oder alle, die einfach Lust auf eine gute Geschichte haben. Und sich vielleicht hin und wieder eine „Was wäre, wenn“-Frage stellen.

Bewertung vom 09.09.2024
Winterwölfe
Jones, Dan

Winterwölfe


sehr gut

Dan Jones Essex Dogs-Trilogie scheint vor allem eines zu sein: klassisch. Der erste Teil lässt es erst einmal krachen, führt die Helden ein und am Ende gibt es noch einmal Lärm. Der zweite Teil lässt es ruhiger angehen und legt mehr Fokus auf einzelne Figuren. Der dritte Teil ist gespickt von Drama, von Abschieden und Entscheidungen.

Im ersten Band sind die Essex Dogs, eine Handvoll britischer Söldner, im Hundertjährigen Krieg in Frankreich gelandet, haben Städte erobert und Freunde verloren. Es ist das Jahr 1346, die Truppen von King Edward III haben die des französischen Königs in der verlustreichen Schlacht um Crecy geschlagen. Während die Dogs hoffen, endlich zurück nach England zu kommen, nehmen die Truppen Kurs auf Calais.

So viel zur Vorgeschichte. Kann man „Winterwölfe“ lesen, ohne „Essex Dogs“ gelesen zu haben? Eher nein. Das Thema des Historienromans ist zwar die Belagerung von Calais von 1346 bis 1347, aber Jones nimmt häufig Bezug auf den ersten Teil, auf bereits gestorbene Figuren und vergangene Schlachten. Aufgrund der Fülle der Figuren dürfte es schwer sein, der Geschichte in Gänze folgen zu können.

Drei Figuren stehen im Zentrum von „Winterwölfe“: Der Anführer der Dogs, Lovejoy, der junge Bogenschütze Romford und die mystische Squelette, die Rache an Prinz Edward für den Tod ihrer Familie und ihrer Vergewaltigung im Lager der Engländer nehmen will. Abwechselnd wird aus ihrer Sicht der Feldzug der Engländer in Richtung Calais, der Aufbau einer improvisierten Stadt und die fast einjährige Belagerung und das Aushungern der Bevölkerung erzählt.

Und es ist, wie erwähnt, der klassische zweite Teil: Es gibt nur wenige Schlachten (wem das ersten Band zu viel war, dürfte sich freuen), Jones legt den Fokus auf das Leben in Calais und direkt davor, das zähe Warten auf beiden Seiten der Mauer. Leider ist das Buch selbst dadurch auch zäher, zumindest phasenweise.

Mit der Flämin Hircent wird eine extrem unangenehme Figur eingeführt, die weder den Dogs noch den Leser:innen viel Freude bereitet. Und in Romfords manischen Visionen taucht der ehemalige Essex Dog Father wieder auf, im ersten Band verstorben, damals schon unangenehm und jetzt nicht besser. Und auch Lovejoy sind die Kriegstage und Lebensjahre anzumerken, er ist deutlich weniger energiegeladen, was den Ton von „Winterwölfe“ durchaus mitbestimmt. Ein bisschen schade ist, dass nur wenige Kapitel die Französin Squelette behandeln, die sich hungernd und frierende im Wald versteckt, auf Rache lauert und dann, möglicherweise, ein relativ schnelles Ende findet.

Aber: Es ist Jammern auf recht hohem Niveau. Jones beschreibt kleinere Episoden rund um die Belagerung von Calais durchaus unterhaltsam, zeigt anschaulich, wie eine kleine Kriegsstadt entstehen kann, was die Soldaten erleben und erdulden müssen, dass der Krieg nicht immer Unterschied einen zwischen Fußsoldaten und Rittern macht, wie neue Waffen wie die Kanone eingeführt werden. Und welche Leiden die belagerte Bevölkerung zu erleiden hat, welche Gräueltaten ihnen angetan werden. Wer sich für Geschichte interessiert, wer unkitschige Historienromane schätzt, der kommt hier sicherlich auf seine Kosten. Wer den Bezug auf das reale, aktuelle Zeitgeschehen macht, wird schwer schlucken müssen.

Bleibt offen, welchen Teil des Krieges das Finale der Trilogie behandelt – ob es einen Zeitsprung zur Landung in Bordeaux gibt oder Jones die verbliebenen Dogs einen unbekannteren Teil des Hundertjährigen Kriegs direkt nach Calais erleben lässt. Und ob es für Lovejoy eine Heimkehr nach England oder ein Grab in Frankreich geben wird. Recht sicher ist: Wenn Dan Jones bei seiner klassischen Komposition einer Trilogie bleibt, wird es am Ende noch einmal richtig krachen.

Bewertung vom 30.08.2024
Taumeln
Scherzant, Sina

Taumeln


ausgezeichnet

Beklemmend ist „Taumeln“ über weite Strecken. Beklemmend, aber furchtbar gut dabei. Denn in Sina Scherzants zweitem Roman treffen in einem kleinen Ort ganz viele Leute aufeinander, die irgendwie dazwischen leben, denen das Leben nicht gut oder sogar grausam mitgespielt hat. Das zu lesen ist kein Voyeurismus. Es ist eher Empathie – oder vielleicht sogar ein Hilfsmittel, Selbsterlebtes zu verarbeiten.

Das vermutlich schlimmste Schicksal haben Luisa und ihre Eltern erlitten. Luisas Schwester Hannah ist verschwunden. Seit zwei Jahren fehlt jegliche Spur von ihr. Luisa hat ihr Studium unterbrochen und wohnt wieder zuhause. Allein mit ihrem Vater, ihre Mutter ist traumatisiert, Broken Heart Syndrome, und in stationärer Behandlung.

Jedes Wochenende trifft sich Luisa mit einer Handvoll Menschen in Wanderkleidung und durchsucht den Wald nach einem Hinweis, nach einer Wahrheit zum Verbleib von Hannah. Ans Licht kommen aber nur die Versehrtheiten der anderen Gruppenmitglieder. Inge wurde erst von ihrem Mann, dann von ihrem Sohn geschlagen. Emma in Pflegefamilien und Jugendhilfeeinrichtungen aufgewachsen. Frank hat das Ende seiner ersten richtigen Beziehung und den frühen Tod seines Vaters nie verarbeitet. Und auch dem Rest geht’s irgendwie nur so halbwegs gut. Immerhin: Während sie über Wochen und Monate Hannah suchen und nichts finden, finden sie, zumindest zum Teil, sich selbst.

„Taumeln“ ist ein schmerzhaftes Buch. Ein trauriger Roman, dem die Leichtigkeit und der Witz von Scherzants auch nicht undramatischen Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ zwar fehlt, aber aufgrund seines Themas und seiner Stärke nicht vermissen lässt. Dabei muss man das von den Figuren Erlebte gar nicht selbst erlebt haben, nicht mal jemanden kennen, der da durchmusste (was fast unwahrscheinlich ist, aber hey, good for you).

Und so ist „Taumeln“ ein Buch, das Empathie fördert, zu Tage bringt, Leser:innen schlucken, Tränen verdrücken oder zumindest wissend nickend lässt. Sprachlich wundervoll in Szene gesetzt, nur an wenigen Stellen zu lang. Und manche Versehrtheit wird zumindest ein bisschen geheilt. Denn auch wenn der Roman – halber Spoiler-Alert – kein klassisches Happy End hat, so scheint sich das Leben einzelner Figuren doch zu einem besseren zu ändern. Mehr kann man nicht erwarten, von ehrlicher Literatur und vom Leben an sich.

Bewertung vom 29.07.2024
Verbrannte Gnade / Die Punkrock-Nonne ermittelt Bd.1
Douaihy, Margot

Verbrannte Gnade / Die Punkrock-Nonne ermittelt Bd.1


sehr gut

Ein Krimi über einen Feuerteufel – und der Funke springt erstmal nicht über. Was eigentlich schade ist, denn seine Hauptfigur, Schwester Melody, ist großartig gezeichnet. Leider schafft Margot Douaihy es trotz aller Bemühen nicht, New Orleans als Kulisse aufzubauen. Macht aber nichts, denn hinten raus wird das Buch spannend und macht Lust auf mehr.

Ein Feuer bricht an der Saint Sebastian Klosterschule aus, Hausmeister Jack stürzt tot aus einem Fenster, zwei Schüler werden in letzter Sekunde von Schwester Holiday lebensgefährlich verletzt aus dem brennenden Gebäude gerettet. Während die Nonne selbst unter Verdacht gerät, macht sie sich auf die Suche nach den Schuldigen. Und auf ihrer Verdachtsliste stehen so manche Personen – von einer missmutigen Nonne über eine Physiklehrerin bis zu einem Krawallschüler. Aber so richtig scheint nichts zu passen, während Sachen aus ihrem eigenen Fundus verschwinden und in der Nähe weiterer Tatort auftauchen.

Ich bin kein ausgemachter Krimileser, daher fehlt mir ein bisschen der Quervergleich zu verwandten Büchern. Aber der Fall ist durchaus spannend, manchmal scheinen ein paar Logiklöcher eher mühevoll gestopft zu sein und mein erster Täterverdacht sollte sich als richtig erweisen. Dennoch ist es ein Buch mit zwei Geschichten, denn neben des Kriminalfalls geht es vor allem um Holiday Walsh, frühere Punkrock-Sängerin, die ihre Tattoos im Klosterleben abdecken und ihre Vergangenheit verstecken muss. Immer mehr Details werden verraten, von ihrer großen Liebe Nina, von ihrer Familientragödie. Und tatsächlich macht es sehr viel Freude (und auch Leid), in Holidays Leben einzutauchen und mehr über ihren Weg von New Yorker Konzertbühnen in das Kloster in The Big Easy zu erfahren.

Der Einstieg ist dennoch etwas zäh, die am Anfang recht langen Kapitel – am Ende erhöht sich die Schlagzahl deutlich, die Abschnitte sind oft nur noch wenige Seiten lang – machten mir den Beginn, trotz des ersten Feuers auf den ersten Seiten, etwas mühevoll. Fast klischeemäßig beschreibt Douaihy die Schwüle von New Orleans, den Jazz, alles irgendwie zu bekannt und ohne, dass ich persönlich in die Welt Nahe des Missisippi-Deltas hineingezogen wurde.

Aber die Stärken des Buch sind andere, vor allem die Figuren, die noch viel Potenzial für die Folgebände bieten. Vom zweiten Hausmeister Bernand über die Antagonistin und potenzielle neue Love Interest in Form der Physiklehrerin Rosemary Flynn, den Geschichtslehrer John mit seiner an ALS-erkrankten Frau, den Ermittlern und natürlich die Mitschwestern im Kloster Saint Sebastian. Und nein, nicht alles ist perfekt, vielleicht fehlt an manchen Stellen auch die Tiefe, aber irgendwann, nach so 100, vielleicht 150 der etwas über 350 Seiten, wird „Verbrannte Gnade“ zu einem durchaus charmanten, sehr lesenswerten Pageturner.

Auch wenn ich es am Anfang nicht erwartet hätte, ein sehr lesenswerter Krimi mit einem brandheißen Fall, einer tollen Hauptfigur und spannenden Nebencharaketeren und ein guter Einstieg in eine neue Serie. Und falls das jemand befürchtet oder erhofft: Nein, das Buch ist kein Stück blasphemisch. Trotz Punkrock und Queerness. Oder vielleicht sogar genau deswegen.

Bewertung vom 19.07.2024
Zimmerpflanzenliebe
Hartwich, Antonia

Zimmerpflanzenliebe


ausgezeichnet

In meiner Wunschvorstellung ist mein Daumen grün, mein Wohnzimmer voller lebendiger Pflanzen und mein Badezimmer ein kleiner Dschungel mit ein paar LEGO Papageien als Deko. In der Realität: Daumen braun, Pflanzen halbtot – oder robuste Kakteenarten, denen nicht mal ich etwas anhaben kann, sei es durch zu viel oder zu wenig Wasser. Meine letzte Hoffnung heißt also „Zimmerpflanzenliebe“, das Buch von Antonia Hartwich. No pressure, @tonidendron!

Direkt mal zum Schönsten: Die Haptik. Das Buch fühlt sich gut an, das matte Papier sieht gut aus und – ja, klingt vielleicht komisch – es riecht auch gut. Hat man auch nicht alle Tage, dass man ein Buch mit fast allen Sinnen genießen kann. Schmecken muss man ja nicht unbedingt probieren.

Jetzt aber, Zimmerpflanzenliebe – wir gehen rein! Die Basics gehen schon einmal auf die wichtigen Themen Licht, Standort, Wuchs und Luftfeuchtigkeit ein. Meistens hat man ja maximal einen kleinen Zettel an der Pflanze, der Sonne oder Halbschatten anzeigt und damit wenig genug Informationen, um die Pflanze innerhalb von zwei Wochen auf den Kompost umziehen zu lassen. Megaspannend persönlich für mich: das Kapitel #soilmatters. Vermutlich eine Tatsache, die ich bei meinen verblichenen Zimmerpflanzen zu wenig beachtet habe und auch mit einem kleinen Erdmix-Rezept versehen, das ausprobiert wird. Aber kommen wir zu den Pflanzen.

Was ich wirklich liebe, ist die Aufbereitung der Seiten. Schöne Fotos, ja, sind das eine, aber: Der Quick Care zu jeder Pflanze ist Gold wert. Was mag die Pflanze, was mag sie nicht, was braucht sie, kann ich sie vermehren? Einfach kurz zusammengefasst, nicht zu lang, nicht zu kurz. Mag ich. Und selbst die kleinen Übersichtsseiten mit verwandten oder ähnlichen Pflanzen sind auf den Punkt, um sich an den Einzug und die Pflege der Blattträger vorzubereiten.

Persönlich habe ich nach dem Buch auch schon eine Wunschliste, um Haus und vor allem Bad zu begrünen. Natürlich noch mal die Monstera – in der Vergangenheit bestimmt einfach zu wenig gedüngt -, Sagopalmfarn, Leuchterblumen, Flamingoblume und Zwergpfeffer – kommt in meine Arme! Und irgendwann, wenn ich mich rantraue, auch eine Mondsamenpflanze.

Zimmerpflanzenliebe ist ein tolles Buch. Ein super Geschenk für alle, die neidisch auf die Grünpflanzen von Kolleg:innen im Video-Call schauen oder sich am liebsten schon mal bei Freund:innen einen Steckling mit nach Hause genommen hätten, aber Angst hatten, ihn sofort in Kompost zu verwandeln. Richtige Pflanzenexpert:innen können aber sicher auch noch etwas mitnehmen, neue Pflanzen kennenlernen oder ihre dokumentieren. Ich bin jedenfalls Fan – und frohen Mutes, hier mehr als LEGO Blumen züchten zu können.

Bewertung vom 18.07.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


sehr gut

Die erste Nacht nach dem letzten Kapitel von Solito habe ich schlecht geschlafen. Immer wieder schweiften meine Gedanken und Traumfetzen in die Wüste zwischen Mexiko und den USA, die Hitze der Tage, zu leeren Wasserflaschen und trockenen Kakteen. „Solito“ ist ein trauriges, gnadenloses Buch und noch trauriger und gnadenloser muss es für den Autor gewesen sein – denn es ist seine Geschichte.

Mit neun Jahren wird Javier Zamora auf die Reise geschickt. Klingt nach Ferien, bedeutet Flucht und ist in Wahrheit ein Horrortrip durch Mittelamerika. Seine Eltern sind schon vor Jahren in die Vereinigten Staaten geflüchtet, jetzt soll ihr Sohn groß genug und das Budget da sein, ihn mithilfe von Kojoten, Schleppern, über die Grenzen zu sich zu holen. Während er sein Großvater ihn auf dem ersten Weg nach Guatemala begleitet, ist Javier anschließend auf sich allein gestellt – und überlebt nur dank Chino, Patricia und Carla, die eine Art Ersatzfamilie für ihn werden.

In den vergangenen Jahren hat man, wenn man wollte, viel über Flüchtlingsbewegungen lesen können. Meist über europäische, aber auch die mexikanisch-amerikanische Grenze war unter Trump immer mal wieder ein Thema. Häufig ging es da aber nur um Steine für die Mauer, nicht um Menschenleben. Schaut man mal genauer hin, liest man erschreckende Zahlen: Zwischen 1998 und 2016, also auch während der Zeit, in der Solito spielt – 1999 – starben mehr als 6.500 Menschen auf dem Fluchtweg in die USA. Die meisten von ihnen an Hitze und Wassermangel.

Auch Javier Zamora wäre fast eine Zahl in dieser Statistik geworden, die entsprechenden Kapitel sind schwer zu lesen und noch schwerer zu ertragen. Aber: Es gibt auch Gutes und Güte. Da sind Patricia, ihre Tochter Carla und Chino, die Teil von Javiers Fluchtgruppe sind, und den Neunjährigen in den Arm nehmen, mit Wasser versorgen, ihn tragen. Da ist die von Nonnen geführte Herberge, die Flüchtlingen ein Bett und Mahlzeiten bietet, die von den USA zurück nach Mexiko gebracht werden. Da ist der Polizist mit mexikanischen Wurzeln, der mehr als nur ein Auge zudrückt, als es für die kleine Gruppe brenzlig wird.

Eine Stärke des Autors ist es, die Lesegeschwindigkeit extrem zu beeinflussen. Der Anfang ist stotternd, während Javier auf den Beginn der Flucht wartet. Und auch die zwei Wochen in einer dunklen Wohnung sind so zäh, wie es für die Gruppe gewesen sein muss. Doch geht es über das Wasser, durch die Wüste, zu Fuß oder in Reisebussen, steigt der Adrenalinpegel und man fliegt nur so durch die Seiten. Kleine Stolperfallen sind maximal die vielen spanischen Begriffe und Sätze, die im Glossar übersetzt werden. Hier sind ein bisschen die Leser:innen für sich selbst gefragt: Blättere ich hin und her? Versuche ich mir den Kontext zu erschließen? Spreche ich selbst genug Spanisch, um alles zu verstehen? Störend ist es vermutlich nicht.

Was mit den Wegbegleitern Zamoras passiert ist, bleibt übrigens größtenteils im Dunkeln. Kontakt zu seiner Fluchtfamilie hat er nicht mehr, sie hat sich – Stand Februar 2024, vermutlich auch aktuell – noch nicht bei ihm gemeldet, sofern sie sein Buch gelesen hat oder noch am Leben sind. Für den Autoren übrigens nachvollziehbar: Er weiß nicht, ob sie sich komplett wohl mit seiner Erzählung fühlen. Für ihn war es in jedem Fall wichtig, um die traumatische Albtraumreise im Alter von neun Jahren, die statt zwei fast acht Wochen dauerte, zu verarbeiten. Denn der Dank zu diesem Buch, gilt auch seiner Therapeutin. Und man mag kaum vermuten, wie viel Arbeit es ist, über so ein Erlebnis hinwegzukommen.

Bewertung vom 21.06.2024
Das Dorf der acht Gräber / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.3
Yokomizo, Seishi

Das Dorf der acht Gräber / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.3


sehr gut

Tatsuyas ruhiges Leben in Kobe wird schlagartig aufregend – und lebensgefährlich. Er sei der Alleinerbe eines Gutes in einem Dorf mit dem wenig anmutigen Namen Acht Gräber, teilt ihm ein Anwalt mit. Doch schon das Kennenlernen seines Großvaters in der Kanzlei endet abrupt mit dessen Tod – nicht der letzte im nahen Umkreis von Tatsuya, sobald dieser in Acht Gräber eintrifft.

„Das Dorf der acht Gräber“ ist die dritte Wiederveröffentlichung von Seishi Yokomizos Krimireihe rund um den als etwas schrullig beschriebenen Detektiv Kosuke Kindaichi. Die Geschichte stammt ursprünglich aus dem Jahr 1951 und ist auch in Japans Nachkriegsjahren angesiedelt. Der Zweite Weltkrieg hat seine Spuren bei einzelnen Figuren hinterlassen oder sie in die ländliche Gegend getrieben. Die Geschichte geht aber zurück bis in die Zeit der Samurai im 16. Jahrhundert.

Acht Samurai sollen in das kleine Dorf geflohen und einen sagenumwobenen Schatz vergraben haben, bevor sie von den Dorfbewohnern aus Habgier getötet wurden – nicht ohne vorher einen Fluch auf den Ort zu legen. Nach ihnen – oder besser gesagt ihren Ruhestätten – ist das Dorf benannt, in dem vor 26 Jahren Tatsuyas Vater, Kopf des Hauses des Ostens, einen Amoklauf beging, bevor er sich vermeintlich in die Berge flüchtete. Und nun scheint sich der Fluch der Samurai zu wiederholen und eine Todesserie beginnt, in der Paare eine besondere Rolle spielen.

Wieder einmal führt eine Geschichte Yokomizos in die Welt höhergestellter Familien im traditionellen und ländlichen Japan. Erbe, familiäre Verstrickungen und Missgunst spielen eine große Rolle. Und auch dieses Mal spielen Frauen eine wichtige Rolle rund um die Mordserie, die dem Neuankömmling und Ich-Erzähler Tatsuya zugeschrieben wird: Seine alten Zwillingstanten Koume und Kotake, seine Schwester Haruyo, eine junge, unscheinbare Frau namens Noriko und die fürsorgliche Miyako Mori, Erbin des Haus des Westens, die Tatsuya auf seiner Reise von Kobe nach Acht Gräber begleitet hat.

Im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern, „Die rätselhaften Honjin-Morde“ und „Mord auf der Insel Gokumon“, ist „Das Dorf der acht Gräber“ durchaus actionreicher. Die Morde passieren häufig im Beisein der Hauptfigur, es gibt Verfolgungsjagden, Versteckspiele und atemlose Bedrohungen. Natürlich trotzdem alles ein wenig entspannter als in der aktuellen blutrünstigen Thrillerlandschaft – sicher auch dank der mal wieder besonnenen und ruhigen Übersetzung der großartigen Ursula Gräfe.

Und noch ein kleiner Unterschied: Die Hauptfigur der Reihe, Detektiv Kindaichi, spielt in diesem dritten Buch, gar keine so große Rolle. So schnell er zwischenzeitlich auftaucht, verabschiedet er sich auch wieder. Ihm bleiben kleine Momente und das Zusammenführen der losen Fäden zum Ende des Kriminalromans. Stattdessen gibt es gleich mehrere Hauptfiguren: Natürlich Tatsuya, aber vor allem die großartigen, vielschichtigen Frauen von Acht Gräber, deren erste Eindrücke verbergen, was alles in ihnen steckt. Oder frei nach Beyonce: Who runs the Dorf? Girls!

Bewertung vom 02.06.2024
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


ausgezeichnet

Ach Ida. Meine kleine Heldin aus „22 Bahnen“. Frank Spilker hätte in den 90ern vermutlich „Was hat dich bloß so ruiniert?“ gesungen, aber eigentlich ist das ja eine rhetorische Frage. Die Mutter Alkoholikerin, die Schwester schweren Herzens ausgezogen und dann, ja, der Rest des Teenagerlebens. So ist aus der toughen, witzigen, klugen 10-Jährigen eine verzweifelte Mittzwanzigerin geworden, die nach dem Tod ihrer Mutter nicht weiß, wohin mit sich.

Vielleicht erst einmal das Wichtigste: „Windstärke 17“ funktioniert vermutlich auch, wenn man „22 Bahnen“ nicht gelesen hat. Ja, es ist eine Fortsetzung, aber sie spielt gut anderthalb Jahrzehnte später, setzt nicht wirklich etwas voraus. Vielleicht ist Caro Wahls zweiter Roman sogar weniger traurig, wenn man den Vorgänger nicht gelesen hat.

Zu sehen, wie Ida sich verändert hat, ihre Beziehung zu ihrer Schwester Tilda verkompliziert ist, schlägt zeitweise schon aufs Gemüt. Vor allem, wenn man Ida nicht in den Arm nehmen oder ihr weiße Eszet-Schnitten aufs Brot legen kann. Aber: Dafür gibt es ja Marianne. Die heimliche Heroine von „Windstärke 17“, die Ida nach ihrer Flucht nach Rügen aufnimmt, aufpeppelt und dabei selbst so manche Traurigkeit in sich trägt.

Auch in ihrem zweiten Roman zeigt Caroline Wahl, wie fantastisch und wundervoll ihr Stil ist. Wie sie die Figuren zeichnet, ihre Gedanken offenlegt und alles ganz unverkitscht in Worte fasst. Wie sie die Natur einbindet, die stürmische See, die hohen Bäume des Kletterwalds, wieder einmal die Wasser- und Waldthemen, die schon in „22 Bahnen“ auftauchten. Wie sie aber auch zeigt, dass manches in der ersten Geschichte von Tilda und Ida nur Fassade war, vor allem Idas Stärke, mit dem Alkoholismus ihrer Mutter umzugehen und ihrer Schwester Mut zu machen, ihren eigenen Weg zu gehen. Und wie Ida nun versucht, ihren eigenen Weg überhaupt erst einmal zu finden.

Mein Fazit zu „22 Bahnen“ war, dass es ein Verarbeitungsroman ist. Bei „Windstärke 17“ passt das bedingt. Ja, Ida hat viel zu verarbeiten, ist am Ende aber noch nicht so weit wie Tilda. Vielleicht ist das aber auch gut so. Es bleibt viel Spielraum, was noch alles passiert – mit Ida und Marianna und Knut und Leif und natürlich auch Tilda und ihrer Familie. Und so passt ein anderes Fazit vielleicht dann auch: Wie schon Caro Wahls Debüt hat auch „Windstärke 17“ das Potenzial zum Buch des Jahres. Und das muss man als Autorin mit den ersten beiden Romanen erst einmal schaffen.