Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
meany
Wohnort: 
Seligenstadt

Bewertungen

Insgesamt 125 Bewertungen
Bewertung vom 20.11.2024
Ich fürchte, Ihr habt Drachen
Beagle, Peter S.

Ich fürchte, Ihr habt Drachen


ausgezeichnet

Ein Meister seines Fachs

Das märchenhafte Cover konterkariert Beagle durch eine von Anfang an unmärchenhaft verkehrte Welt: die Auswahl eines Bräutigams für die (eigentlich sehr unwillige) Königstochter findet statt in einem von Ungeziefer (Drachen) befallenen Schloss, ein auf den ersten Blick aussichtsreicher Kandidat erweckt den Verdacht, Spion zu sein, der Schädlingsbekämpfer und Drachentöter liebt eigentlich die Lindwürmer und hasst seinen Job - und darüber spannt sich die hohe Kunst der Diplomatie zwischen Kammerherrn und Diener. Das alles führt der Autor aus in einer eleganten Sprache und mit feiner Ironie. Und vor allem: nichts ist, wie es scheint. Ein ordentliches Vexierspiel also, und beileibe kein Kinderbuch.

Nach längerem Vorgeplänkel kommt die Geschichte etwa zur Halbzeit mit der Expedition in Fahrt, indem es brutal zur Sache geht (kein Kinderbuch!). Über all dem schwebt das Geheimnis um Prinz Reginald und seinen Vater, aber auch um Roberts Mutter, von Beagle meistens nur in Nebensätzen angedeutet. Mit einer für Fantasyromane überdurchschnittlich komplexen Psychologie und daraus resultierenden überraschenden Wendungen hat mir dieses Buch viel Vergnügen bereitet.

Bewertung vom 17.11.2024
Nur nachts ist es hell
Taschler, Judith W.

Nur nachts ist es hell


sehr gut

Das Element des Zufalls

Vielleicht wäre ich leichter in diesen Roman eingestiegen, wenn ich den ersten Teil schon gekannt hätte, so musste ich mich erst einmal in der puzzleartigen Erzählweise zurechtfinden.

Die pensionierte Ärztin Elisabeth berichtet, wie man nach einer Weile erfährt, ihrer Großnichte von ihrem ereignisreichen Leben, das zwei Weltkriege und die gesellschaftlichen Veränderungen danach umfasst. Eine inhaltliche Klammer bildet dabei das brisante Thema des Schwangerschaftsabbruchs, das in den 70er Jahren eine Gesetzesänderung herbeiführte und im Jahrhundert davor so manche Schicksale besiegelt hatte. Die komplizierten Verhältnisse der gut situierten Familie rollt sie nicht chronologisch auf, aber unterfüttert die Geschichte mit Details, die mich die Verhaltensweisen psychologisch nachvollziehen lassen. Dreh- und Angelpunkt vieler schwieriger Situationen ist die Tatsache, dass die beiden Zwillingsbrüder Carl und Eugen bei Bedarf ihre Identität tauschen, das ergibt ein verwirrendes Geflecht von Konstellationen. Die persönlichen Schicksale stellt Taschler stimmig in den Zusammenhang der historischen Ereignisse, wobei in den Jahren des Nationalsozialismus und der beiden Weltkriege naturgemäß die dramatischsten Passagen angesiedelt sind.

Neben dem Stilmittel der mündlichen Erzählung, das eine direkte Ansprache auch der Leser bewirkt, greift sie zu dem des Briefs - die Perspektive der Protagonisten ist also immer gewahrt, es gibt keinen auktorialen Verfasser. Dabei verwebt Taschler mit den Geschehnissen auch immer kluge Überlegungen zum Leben an sich und zur Partnerschaft, die immer wieder die Frauenrechte betonen. Trotz der konfliktreichen Zeitläufte und Charaktere ist dieses Buch die ruhige, abgeklärte Rückschau einer gereiften Frau, deren inneren Kompass man am Ende dieser meisterhaft komponierten Dramaturgie verstehen lernt.

Bewertung vom 13.11.2024
Blutrotes Karma
Grangé, Jean-Christophe

Blutrotes Karma


gut

Auf der Durchreise zwischen zwei Höllen

Erwartungsvoll nahm ich das neueste wie gewohnt umfangreiche Werk des von mir geschätzten Meisters Grangé zur Hand und ließ mich bereitwillig auf 60 Seiten Beschreibung der Studentenunruhen in Paris Ende der 60er Jahre ein, wobei mir schon ein paar sprachliche Anachronismen aufstießen. Dabei stellt der Autor das ungleiche Halbbrüderpaar vor: den Studenten der Geisteswissenschaften Hervé und den hartgesottenen Bullen Jean-Louis.

Zwischen den Kämpfen im Pariser Pflasterstrand und der psychedelischen Szene treibt ein bestialischer Mörder sein Unwesen. Die Krimihandlung treibt Grangé voran durch actionreiche Ermittlungen und logische Verknüpfungen der daraus geschlossenen Erkenntnisse. Dabei erfahren wir ausführliche Details über die diffusen Strömungen der Studentenbewegung, aber auch der esoterischen Szene, der tantrischen Mystik und ihrer Drogenexperimente. Die Recherchen führen das Dreiergespann, zu dem sich Nicole, ein potentielles Opfer, gesellt hat, bis nach Kalkutta, Varanasi und schließlich auch Rom. Die Erwähnung zeitgenössischer Filme befeuert noch zusätzlich die Vorstellungskraft beim Leser.

Empfindsame Seele und Fans von Cosy Crime sollten Abstand nehmen, denn in der Erfindung von fantasievollen Grausamkeiten treibt der Verfasser den Ekelfaktor auf die Spitze. Trotzdem habe ich den Pageturner wie nichts verschlungen, die kurzen Kapitel mit ihrer Binnenspannung erleichtern das, obwohl er im Bestreben, ebendiese aufzubauen, manchmal über den Boden der Wahrscheinlichkeiten hinausschießt, auch psychologisch scheint mir nicht alles stimmig. Vor dem Hintergrund exzessiven Drogenkonsums, dem Träume noch eine weitere surrealistische Dimension hinzufügen, kommt mir das ganze Buch vor wie ein einziger Opiumrausch. Den absoluten Horror erleben die Protagonisten dann in Kalkutta, wo die Szenerie ein Höchstmaß an Dramatik erlaubt.

Gegen Ende widerstrebte mir die durch Interviews alter Beteiligter vorangetriebene Auflösung des Falls immer mehr, weil sie mir zunehmend hanebüchen und konstruiert erschien.

Meiner Ansicht nach hat Grangé den Plot dieses Romans wackelig zusammengezimmert und angefüllt mit lauter effekthascherischen, blutrünstigen Szenen. Deshalb vergebe ich die drei Punkte allein wegen des leichten Leseflusses und des zweifellos vorhandenen Thrillerfaktors.

Bewertung vom 05.11.2024
Die Gräfin
Nelles, Irma

Die Gräfin


sehr gut

Auf Feindesgebiet

Mit der überschaubaren erzählten Zeit und dem kammerspielartig inszenierten Personenkreis würde ich "Die Gräfin" eher als Novelle bezeichnen.

Wir begegnen der Grande Dame Diana im Arbeitsgewand, begleitet von einem Jagdhund. Zusammen mit dem Faktotum Maschmann und der Haustochter Meta hat sie sich vor den Gefahren des Zweiten Weltkriegs zurückgezogen auf die Hallig, wo sie das Ärzteehepaar Carl und Käthe Braack und der Schmied Sönke vom Festland aus unterstützen. Nordfriesische Fachausdrücke und plattdeutsche Dialoge unterstreichen das Lokalkolorit.

Hinter ihrer in jeder Situation grandiosen Haltung verstecken sich frühe familiäre Verletzungen, die Nelles jedoch in Rückblenden lediglich andeutet. Auch in der dramatischen Lage, verursacht durch die Notlandung und Bergung eines jungen englischen Piloten, bleibt vieles im Vagen, und die Handlung kommt erst in der zweiten Hälfte so richtig in Gang.

Diese eigensinnige Gruppe von Menschen hat sich hier eine Oase der Ruhe, gepflegt durch Kultur, bewahrt im Kontrast z.B. zum Hamburger Feuersturm und nutzt als kleines Nest des Widerstands diese geographische Besonderheit zum Vorteil von Flüchtenden.

Der gesamte Text lebt auch durch Nelles' nostalgische Sprache völlig von der bezwingenden Atmosphäre und lässt den Lesern bis zum Ende Raum, sich darauf einzuschwingen und die eigenen Schlüsse zu ziehen.

Bewertung vom 26.10.2024
Die Geschichte vom zauberbunten Garten
Rübben, Andrea

Die Geschichte vom zauberbunten Garten


ausgezeichnet

Eine große graue Stadt

Spannende oder lustige Bücher kommen bei Kindern jederzeit gut an, aber dieses hier passt in keine dieser Kategorien - es ist einfach nur schön.

Die Botschaft ist klar und einfach: in unserer schlimmen Welt besteht die Chance, dass sich auch Positives ausbreitet, wenn jemand den Anfang macht und Unterstützung findet.

In zauberhafter Harmonie stellen das Andrea Rübben mit dem Text und Stella Dreis mit den Bildern dar, sodass es einem ganz warm ums Herz wird. Eindrucksvoll entfalten sich die bunten Farben von Blatt zu Blatt mehr über die Seiten, man beobachtet und fühlt mit, wie sich nach und nach Lebensfreude verströmt über der grauen Stadt.

Das Bilderbuch ist kein Selbstläufer, sondern bedarf der einfühlsamen Vermittlung an aufgeschlossene Kinder. Ich würde es auch gerne einmal als Bilderbuchkino für Seniorengruppen ausprobieren.

Bewertung vom 14.10.2024
Birds of Paris - Das magische Pendel
Tordasi, Kathrin

Birds of Paris - Das magische Pendel


sehr gut

Glanzwerker und Federsucher - du bist wie wir

Léa ist mit ihrer Mutter nach Paris gezogen, und es sieht aus, als sei sie bereits routiniert im Erkunden neuer Städte, für das die vorausschauende Mama "Findelisten" anlegt mit Suchaufgaben. Dennoch ist Léa nicht auf das Abenteuer gefasst, in das sie unverzüglich hineingezogen wird, für das sie aber von ihrer Veranlagung her prädestiniert zu sein scheint. So schließt sie sich einer Gruppe elternloser Kinder an mit besonderen magischen Fähigkeiten.

Die Schimmervögel verbreiten über allem einen Glanz, den aber nur eingeweihte Minderjährige wahrnehmen können. Sie sammeln die Glanzfedern ein zur Weiterverarbeitung zu künstlerischen Zwecken. Eine Bande Erwachsener giert nach dieser kostbaren Substanz und bedroht die kleine Schar, um die Ausbeute an sich zu reißen und kommerziell zu verwerten. Das hat mich an die grauen Herren erinnert, die bei Momo die Stundenblumen stehlen.

Das Ganze mündet in eine spannende Verfolgungsjagd entlang romantischer Pariser Kulissen bis hinein in die berüchtigte Unterwelt. Tordasi schildert das mit aller gebotenen Dramatik und atemberaubenden Wendungen. Wir verfolgen alles durch Léas Augen und sehen die Auswirkungen gespiegelt in deren inneren emotionalen Turbulenzen.

Von Anfang an ausdrücklich angelegt als ein mehrbändiges Werk bleiben naturgemäß essenzielle Fragen offen: Welches Schicksal hat die Freunde so weit gebracht? Warum reagiert Léas Auge derartig stark auf den Glanz? Was hat es auf sich mit Léas über die Maßen toleranter Mutter?

Bis zum überraschenden und geschickt eingefädelten Cliffhanger ganz zum Schluss fiebert und rätselt man unentwegt, wird aber das Buch erst einmal enttäuscht zur Seite legen, bis man mit dem Erwerb des nächsten Bandes weitere Aufklärung erhoffen kann.

Bewertung vom 03.10.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


ausgezeichnet

Man sieht nur von der Seitenlinie gut

Von Beginn an umkreist die Ich-Erzählerin Hanna mit ihren Reflektionen einen leeren Kern, eine hohle Stelle in ihrem Inneren, den die Abkehr ihrer Freundin Zeyna gerissen hat. Einsamkeit tropft aus allen Zeilen, und das Heimweh verfolgt sie überall - erst in der fremden Stadt, in der sie der häuslichen Enge entfliehen wollte, aber dann auch zurück zu Hause, weil nichts mehr so ist wie es war.

Das gesamte Buch durchtränkt eine Melancholie, die man nur aushält, weil man die sensibel beschriebenen Charaktere mag und wertschätzen kann, in all ihrer Verschiedenheit. Khayat zeigt deutlich die Schwierigkeiten einer interkulturellen Freundschaft auf, selbst wenn die Vorzeichen so positiv stehen wie in der vorliegenden Situation. Hannas Einfühlungsvermögen ist geprägt durch den frühen Verlust ihrer Eltern, was sie wieder mit der Halbwaise Zeyna verbindet. Mit Felizia und Theo hat sie zwei über die Maßen liebevolle Großeltern, die auch Hannas Freund Cem bereits in ihr Herz geschlossen haben und nun die Kriegsflüchtlinge Nabil und seine Tochter Zeyna mit offenen Armen empfangen.

Alles könnte harmonisch sein, wäre da nicht die gewaltige Differenz in den Lebenserfahrungen verstärkt durch die bornierte, aufgewiegelte Menschenmasse drumherum. Deshalb wirkt sich der 11. September verheerend aus auf die Dreierbeziehung, und als dann noch Schuld im Raum steht, zerbricht die Verbindung zwischen den beiden Frauen. Dabei hat Khayat die Personenkonstellation geschickt gewählt durch den in Deutschland geborenen türkischstämmigen Cem, der es lange schafft, zwischen beiden eine Brücke zu bauen. Die Spannung trieb mich zum Weiterlesen bis zur finalen Aufklärung des Vorfalls, der alles verursachte.

Dieses kleine, aber schwergewichtige Buch hat mir einen deutlichen Einblick beschert in die Spannungen, die sogar zwischen Menschen besten Willens bestehen, wenn sie durch so unterschiedliche Wurzeln geprägt wurden. Aber gerade solche Erfahrungen geben uns auch die Chance, daran zu wachsen und zu reifen, wenn es alle Beteiligten trotz quälender Schmerzen schaffen, sich damit auseinanderzusetzen - vielleicht auch erst, wenn die Wunden Zeit hatten zu heilen.

Bewertung vom 29.09.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


gut

Das Versäumnis des Lebens

Oje, hochgeschätzter Arno Geiger, was muten Sie Ihrer Ihnen jederzeit dermaßen gewogenen Leserschaft für einen harten Brocken zu, die diesen auch wieder im Nu in die Spiegel-Bestsellerliste katapultierte?

Noch den heiter-beschwingten Ton des "Glücklichen Geheimnisses" im Ohr, wandte ich mich voller Tatendrang diesem erneuten alten König im Exil zu, der aber dessen menschlich zugewandte Haltung total vermissen ließ. Karl V., habsburgischer Herrscher des Abendlands, Luthers wehrhafter Kontrahent, lässt sich siech und apathisch in die warme Brühe hieven, während alle mit ihm Befassten nur noch auf Erlösung hoffen.

Ein Dunst des Lebensüberdrusses verhängt die einleitende Szenerie, von Geiger in einer nüchternen, nichts beschönigenden Sprache dargelegt, die er mit Sentenzen und Metaphern spickt. Die Flucht aus dem Kloster führt ihn zusammen mit Geronimo, den er für seinen illegitimen Sohn hält und mit dem er ein Gespann wie Don Quijote und Sancho Pansa ergibt, durch düstere Landschaften im strömenden Regen, bis er einem gewaltsam schikanierten Cagot-Pärchen begegnet und mit ihnen die Reise fortsetzt. Dabei werden alle Sinne aufs Äußerste gereizt: optisch ohnehin, aber auch durch Gerüche und schrille Wagenräder.

Selten trifft er auch auf Fürsorge wie bei der Heilerin, die den gefolterten Honza in schlichter Mitmenschlichkeit aus ihrer Armut heraus wiederherstellt.

Ansonsten prägen Todesboten die Sphäre: Geier kreisen in der Luft, Staub überlagert alles. Am Galgen und am Friedhof vorbei überquert die kleine Gruppe einen Pass, um in die Tote Stadt zu gelangen, in der sie sich wochenlang bei aussetzendem Zeitgefühl in der Herberge eines niederträchtigen Wirts einquartieren. Und über dieser Passage breitet sich für mich lähmende Langeweile aus. Man kann es in allen Fasern seines Inneren nachvollziehen, wie sich dieser Monarch, der zeit seines Lebens mit Mächtigen und Künstlern verkehrte, in nie geahnte Niederungen der Gesellschaft hinabbegibt und ein wahrhaftes "de profundis" anstimmt. Aber möchte man das alles so ausdrücklich als Leser miterleiden? Manches kommt mir auch wie eine Fingerübung in Stilistik vor. Und dabei bringen mich dann wiederum gegenwärtig moderne Floskeln wie "dann hätten wir das also auch geklärt" beim Lesen aus dem Tritt.

Man sagt, vor dem Auge eines Sterbenden ziehe noch einmal sein Leben vorüber, aber dieses ist eher ein Komplementärleben, denn es sind Personen involviert, mit denen sich Karl niemals abgegeben hätte. Dramatische Geschehnisse voller Brutalität lassen mich relativ kalt, weil sie so absurd sind und menschlich nicht in mir verfangen.

In der Unterkunft hat Karl einige finale Kämpfe auszufechten, erlebt aber auch tanzend ungeahnte Freuden, bis er sich zur letzten Fahrt hin befreit. Die Frage nach der Schönheit, vielleicht vertreten durch den Greif, zieht sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Buch.

Bewertung vom 28.09.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


ausgezeichnet

Unter Wasser atmen

Richard Powers schätze ich seit langem als wortgewaltigen und sachkundigen Streiter für eine intakte Welt. Im vorliegenden Werk verknüpft er nun die aktuellen Auseinandersetzungen um die sich ausbreitende KI mit der Meeresforschung und veranschaulicht seine Überlegungen in zwei typografisch voneinander abgesetzten Handlungssträngen, die ich erst im nachhinein chronologisch einordnen konnte. Alles Leben entstammt dem Meer und ist ein unendliches Spiel - von wem, kann jeder nach seiner jeweiligen Glaubensauffassung entscheiden.

Zu zwei hochbegabten Schülern, völlig unterschiedlichen sozialen Klassen entstammend, gesellt sich später noch Ina von einer südpazifischen Insel, die die ohnehin unstete Dynamik zwischen den beiden zusätzlich aufrührt. Das verbindende Element zwischen den beiden sind komplexe Gesellschaftsspiele, wobei Schach bald von Go abgelöst wird. Rafi, ein Meister der Sprache, entzieht sich dem Ansinnen Todds, ihn für seine schnell expandierende IT-Firma einzuspannen. Powers lässt sich viel Zeit, die Akteure vorzustellen bis zur eigentlichen Konfrontation.

Dem Universum der IT setzt Powers das der Weltmeere entgegen, verkörpert durch Evelyne Beaulieu, der er die wahrhaft lyrischen Passagen des Romans widmet. Dabei entführt er uns in faszinierende Welten der Tiefsee, die in mir auch immer wieder Werke von Schätzing heraufbeschworen. Ein Genuss ist es schon allein, auf Seite 438 vom optischen Tintenfischkonzert zu lesen! Die entsprechenden Bilder schaute ich mir natürlich online an.

Die Genese der Männerfreundschaft schildert Todd aus seiner Sicht, aber wen spricht er denn da immer an? Noch nie hat mir jemand auf derartig interessante Weise die Entwicklung und dauernde Vervollkommnung der KI nahegebracht: wie die Muster, die sie in den abgegriffenen Daten erkennt, immer weiter füttert und eine Eigendynamik in Gang setzt, die man nicht mehr aufhalten kann. Und die Wurzel dessen ist das Spiel als solches, das die Zukunft auf Autopilot setzt. Viele Fachbegriffe (z.B. Singularität) musste ich nachschlagen, was mir weiteren Erkenntnisgewinn bescherte. Angesichts seiner fortschreitenden Demenzerkrankung diskutiert er durchaus die Licht- und Schattenseiten seiner Schöpfung: Meinungsfreiheit, Gefahren für die Demokratie. Dabei entsteht eine Metaphysik des Programmierens.

Die beiden Handlungsstränge fügen sich erst ganz spät zusammen. Dabei spielen die auf der Insel geplante Fabrik zum Bau von Modulen einer schwimmenden Stadt eine Rolle und ein Gerät namens Profunda, das an Alexa erinnert. Der überraschende Schluss rundet die verschlungenen Lebensläufe ab, indem er einen Hoffnungsschimmer für die gewaltigen globalen Probleme aufzeigt. Selbst wenn man damit nicht einverstanden ist, lohnt es sich, sich gedanklich damit auseinanderzusetzen.

Dieses hochgradig intellektuelle und ungemein bereichernde Buch, durch die gesamten Kapitel hindurch angenehm lesbar, hat meiner Ansicht nach mehr als eine Lektüre verdient, um alle seine Verdienste schätzen zu lernen.

Bewertung vom 19.09.2024
Sing, wilder Vogel, sing
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


sehr gut

Die natürliche Ordnung der Dinge

Das Motiv des Unheil bringenden Rotkehlchens, das zu singen anfängt, empfinde ich als sehr bedeutungsvoll, denn es verheißt Hoffnung für die vom Schicksal schwer gebeutelte Honora/Nell, die unvorstellbare Qualen erleidet in Irlands Hungerjahren. Es ist historisch belegt, dass die geschwächte Bevölkerung ihres Dorfs sich mit letzter Kraft aufmacht zu dem gewissenlosen Landbesitzer, der sie schnöde abweist und in Eis und Schnee zurückschickt. Ein Wunder, dass Honora an ihrer Fehlgeburt nicht stirbt.

Auch die Flucht nach Amerika bringt sie sozusagen vom Regen in die Traufe. Mehrmals wird sie von Menschen, denen sie sich anvertraut, hintergangen. Unglaublich, welche Stärke sie immer wieder in ihrem innersten Zentrum sammelt, die Autorin hat da eine sehr eindrucksvolle Frauenfigur geschaffen. Besonders gelungen ist ihr dabei die Charakterzeichnung, die nicht nur schwarzweiß erscheint, sondern alle Graustufen durchmisst. Hierbei spielt auch die menschliche Sprache an sich durch den gesamten Roman hinweg eine interessante und wichtige Rolle.

Im Mittelpunkt von Honoras Streben steht jederzeit ihre persönliche Freiheit, nach der sie verzweifelt und lange vergeblich sucht und von der sie lediglich in der Prärie eine Ahnung verspürt. In der Begegnung mit dem Indianer Joseph findet sie zum ersten Mal jemanden, der sie aufgrund ähnlicher Erfahrungen von Unterdrückung und auch Hunger versteht. Die Geradlinigkeit der Protagonistin imponiert mir in hohem Maße, und der Einblick in die Schicksale der Immigrantinnen in die Vereinigten Staaten haben mein Bewusstsein für diese Materie geschärft.