Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Klugscheisser
Über mich: 
Autor und freischaffender Künstler

Bewertungen

Insgesamt 10 Bewertungen
Bewertung vom 02.07.2024
Warkiaptu
Sert, Hannes

Warkiaptu


ausgezeichnet

DIE PHANTASTISCHE WELT DER AUS DEM FENSTER GEFALLENEN - Spannend und klug !

David, die Hauptfigur, Mitte zwanzig, fällt besoffen aus seinem Fenster im vierten Stock. Er landet in Warkiaptu, einer Welt, in der seit Jahrtausenden alle Lebewesen ankommen, deren Fenstersturz tödlich endet. Da Gegenstände per se unlebendig sind, landet auch alles was sonst noch so aus dem Fenster geworfen wird in dieser Welt und diese ist also mit Vielem gut ausgestattet und technologisch relativ gut aufgestellt.

Einmal in Warkiaptu angekommen altert man nicht mehr und lebt ewig unverändert, sofern man nicht ermordet wird oder einen tödlichen Unfall hat.

Da sich in Warkiaptu Menschen aller Jahrhunderte tummeln, findet dort eine Einordnung und Bewertung geschichtlicher Ereignisse kaum statt und so sind z.B. Drogen mehr oder weniger freigegeben und auch ein SS-Mann kann sich ungeniert in Uniform in der Öffentlichkeit bewegen.

Die in Warkiaptu ankommenden Menschen verteilen sich auf fünf Bezirke, die den verschiedenen Epochen entsprechen und werden im Groben auch von den Menschen der entprechenden Zeit bewohnt, da sich diese unter ihresgleichen am Wohlsten fühlen.

David landet im 5. Bezirk, der überwiegend von Menschen unserer Zeit und des 20. Jahrhundert bewohnt wird.

Wie in jeder Gesellschaft ringen auch in Warkiaptu verschiedene Gruppierungen um Macht, Einfluß und Geld. Es steht ein großes Referendum an, in dem entschieden werden soll, ob die weitgehende Eigenständigkeit der fünf Bezirke durch eine Zentralmacht ersetzt wird.

Ziemlich schnell gerät der gutmütige und etwas gleichgültig dem Leben und den Menschen gegenüberstehende Vegetarier David zwischen die Fronten und unter die Knute des brutalen SS-Mannes Strohmüller. Da David neu in dieser Welt ist, weiß er nicht, wem er trauen kann, bis er die Polizistin Gudrun kennenlernt.

In der ersten Hälfte dieses klugen und philosophisch anspruchsvollen Romans liegt der Schwerpunkt weniger auf der Entwicklung der Handlung, als auf der Beschreibung der miteinander konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen und deren zugrunde liegenden Weltanschauungen und mag für manche der Lesenden etwas anstrengend sein. Doch dann nimmt die Handlung Fahrt auf und die Spannung steigt bis zum Showdown, nur hie und da retardiert durch Ausflüge ins Philosophische.

Was die Hauptfigur David anbelangt, haben wir es durchaus mit einem Entwicklungsroman zu tun, was Warkiaptu anbelangt mit einem politischen und Gesellschaftsroman und der Frage wieviel und wie wenig Staat braucht der Mensch um sich frei entfalten zu können.

Mir hat der kluge, von feinsinnigem Humor durchzogene Stil des Autors sehr zugesagt. Die Grundidee ist großartig und durchdacht ausgestaltet. Mir persönlich hätte es etwas weniger Beschreibung der konkurrierenden Gruppen und ihrer Führer, sowie derer Intrigen und dafür etwas mehr Beschreibung des Alltagslebens in Warkiaptu im Detail sein können. Noch besser gefallen hätte mir dieses Buch im Hardcover.

Dennoch gebe ich diesem sehr empfehlenswerten Roman fünf von fünf Sternen, da hier eine großartige Idee klug und stringent umgesetzt und mit viel Philosophischem unterfüttert wurde. Fragen der individuellen Freiheit anhand einer phantastischen Welt. Wieviel Staat braucht der Mensch um in Freiheit leben zu können ? Fragen mit denen sich jeder von uns früher oder später beschäftigt.

Bewertung vom 17.06.2024
Wenn du schon hundert wirst, kannst du genauso gut auch glücklich sein
Kun Hoo, Rhee

Wenn du schon hundert wirst, kannst du genauso gut auch glücklich sein


sehr gut

In diesem schönen kleinen Büchlein gibt der emeritierte Arzt und Psychiater und Vater von vier Kindern wertvolle Tipps, wie wir mit der richtigen Einstellung das Beste aus Altwerden und Altsein machen.

Ohne rosarote Brille blickt der fast 90- jährige selbstkritisch auf ein beruflich fast zu ausgefülltes Leben zurück, das zu einem gerüttelt Maß auch aus Krieg, Gefängnis, Armut und Entbehrungen bestand und läßt uns an seinen Erfahrungen und Erkenntnissen teilhaben, die von Empathie und Menschenliebe getragen sind.

Dankbar sein. Sich und anderen verzeihen lernen. Neugierig bleiben. Nicht über Unveränderbares klagen und jammern. Und so vieles mehr ! Mein ständiger innerer Kommentar beim Lesen war „Klug und richtig, aber haben wir das alles nicht bereits irgendwo schon mal gehört.“ Doch genau das ist die Stärke dieses Büchleins. Hier doziert kein Zen-Meister, der die letzten zwanzig Jahre auf einer Bergzinne im Kopfstand verbracht hat, sondern ein ganz normaler Mensch mit seinen Alltagssorgen spricht über das Altwerden, das Altsein, den Tod und wie er mit der Angst vor ihm umgeht. Spricht aufrichtig von den Fehlern, die er im Leben gemacht hat und noch macht und wie der falsche Umgang mit Vergangenem und Gegenwärtigem verhindern kann, daß wir im Alter glücklich sind.

Doch nicht die Tatsachen, die wir nicht ändern können, sind es, die uns am Glücklichsein im Alter hindern, sondern unsere Einstellungen zu diesen Tatsachen. So wie es auch in jungen Jahren falsche Einstellungen waren, die uns am Glücklichsein hinderten, was entschuldbar war, denn es fehlte an Erfahrung.

Dieses Buch ist auf jeden Fall jedem ans Herz zu legen, der nach einem ausgefüllten, überwiegend auf den Beruf und die berufliche Stellung konzentrierten Leben, sich nun mit dem Verlust der beruflichen Wichtigkeit seiner Person konfrontiert sieht, der, in der Regel, mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben einhergeht.

Doch auch alle anderen werden von diesem Rezeptbuch fürs Glücklichsein im Alter profitieren, in dem von jedermann einfach anzuwendende Lebens-Rezepte für eine gute ehrliche Küche angeboten werden und keine philosophische Haute Cuisine oder esoterische Molekularküche.

Der Autor ist Süd- Koreaner und die koreanische Gesellschaft ist gerade erst dabei, die Ära der Kultur der individuellen Überarbeitung und langen Arbeitszeiten hinter sich zu lassen, insofern mag manches nicht so ganz auf die deutsche Lebenswirklichkeit zutreffen in der das Thema Work-Life-Balance ja bereits in den 1990er Jahren populär wurde. Doch gerade Führende auch bei uns würden vermutlich auch heute noch überwiegend von Work-Work-Balance sprechen. Unterschiede in gesellschaftlichen Gepflogenheiten der Koreaner und Europäer sind vorhanden, aber die Erkenntnis, wie man mit diesen umgehen sollte, damit sie uns im Alter nicht belasten, können die Lesenden problemlos auf ihre eigene Lebenswirklichkeit übertragen.

Viele von uns werden sich im Autor stellenweise wiedererkennen. In diesem Buch sind viele kluge Sätze und Erkenntnisse und manche Weisheit zu finden, aber nie aus dem Munde eines Meisters, sondern eines bescheidenen Menschen, der sich seiner Unzulänglichkeit bewußt ist.

Folgender Satz ist für mich ein Schlüsselsatz in diesem Buch:
„ Ich habe gelernt das Leben in seiner ganzen herrlichen Durchschnittlichkeit zu schätzen.“
Ich denke, das trifft den Nagel auf den Kopf und ist der Schlüssel zur Zufriedenheit. Egal ob im Alter oder in jungen Jahren. Denn alles jenseits der Durchschnittlichkeit ist teuer bezahlte Illusion, sofern es überhaupt existiert.

Noch zwei Sätze erlaube ich mir hervorzuheben :
„Wenn wir lernen, uns auf ein einfaches Leben einzulassen, kann uns das im Alter befreien.“
„Im Alter ist Einfachheit unsere beste Freundin“

Dies bezieht er auf alle Lebensbereiche, also auf das Materielle aber auch auf die Gestaltung von Beziehungen, die Abläufe des Alltags, die Gedankenwelt, usw.

Das Buch ist in fünf Abschnitte eingeteilt:
1. Die bittere Wahrheit über das Älterwerden
2. Die Welt ohne Bedauern verlassen
3. Geheimnisse für ein glückliches Leben
4. Die Vorteile des Alters
5. Ab heute glücklich und zufrieden

Das schön gestaltete 238 Seiten umfassende gebundene Büchlein ist mit einem Nachwort der Übersetzerin Suphil Lee Park versehen, welche die Übersetzung aus dem Koreanischen ins Englische vorgenommen hat.
Aus dem Englischen ins Deutsche hervorragend übersetzt von Sabine Schulte.

Das Buch ist eine Leseempfehlungen für Menschen jeden Alters.

Ich gebe diesem Buch vier von 5 Sternen.

Das Buch ist im Juni 2024 bei Rowohlt erschienen und kostet 20,- Euro.

Bewertung vom 21.05.2024
Mord im Antiquitätenladen
Lehnertz, Waldi

Mord im Antiquitätenladen


ausgezeichnet

Kurzweiliger Wohlfühl-Krimi nicht nur für Waldi-Fans
Für alle, die Waldi kennen, ist dieser Krimi sicher ein besonderer Genuß, denn bei Siggi, der Hauptfigur, sehen wir natürlich Waldi vor uns. Vor allem auch, weil dieser genauso spricht wie Waldi.
Doch nicht nur damit, Waldi hautnah erleben zu können , sondern auch mit einer spannenden Geschichte werden die Lesenden belohnt.
In seinem Antiquitätenladen entdeckt Siggi einen Toten, doch als die Polizei eintrifft ist dieser verschwunden und man glaubt ihm nicht. Doch ein rätselhaftes Stück Wandteppich hängt plötzlich neben dem Sessel, in dem Siggi die Leiche entdeckt hat. Nun muß Siggi vs. Waldi auf eigene Faust ermitteln. Hierbei hilft ihm die aus dem Nichts aufgetauchte attraktive Doro, die sich als Putzfrau bei ihm selbst einstellt und der befreundete Galerist Anton.
Mit diesem Buch kann man sich ein schönes Wohlfühl-Wochenende bereiten, denn die Story ist spannend bis zum Schluß und die lockere Schreibe ein Genuß. Das Setting der Welt des Kunst- und Antiquitätenhandels bereitet zudem interessante Einblicke für jeden Interessierten.
Gewürzt ist die ganze Geschichte mit viel trockenem Waldi-Humor, wie wir ihn auch aus dem Fernsehen kennen, mit dem Herz am rechten Fleck und nie um einen Kommentar verlegen. Über ein paar kleine Ungereimtheiten habe ich gerne hinweg gelesen.
Ich habe mich an meine Jugendzeit erinnert, als ich „Die Abenteuer der Schwarzen Hand“ und andere Jugendkrimis las. Mir hat’s riesig Spaß gemacht und für mich könnte es ruhig der Auftakt zu einer Reihe von Waldi-Krimis sein. Für die Hinzuziehung einer Co-Autorin gibt es hier nichts einzuwenden.
Meine Erwartungen haben sich voll erfüllt und daher gibt es von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 09.05.2024
Evas Rache / Paul Stainer Bd.4
Ziebula, Thomas

Evas Rache / Paul Stainer Bd.4


ausgezeichnet

20ger-Jahren-Retro-Krimi überzeugt ! Spannende Handlung, lebendige Charaktere, Leipziger und Münchner Lokalkolorit, politisches Statement.

Wir reisen zurück ins Jahr 1922. In der Messestadt Leipzig treibt ein brutaler Frauenmörder sein Unwesen. Kriminalkommissar Stainer und seine Crew haben alle Hände voll zu tun. Schnell ist ein Verdächtiger gefasst. Doch war er es wirklich ?

Gleichzeitig versucht eine Bande zwielichtiger Gestalten um den Kriegsheimkehrer Nakaski im Auftrag der russischen Bolschewiki durch Entführung der Frau des Münchner Ingenieurs Dorn die Pläne für dessen Hubschrauber-Triebwerk zu erpressen. Dorns Gattin Eva, die dabei ist, sich aus ihrer vom Gatten zugewiesenen Rolle als Dummchen zu befreien, ist nach Leipzig gereist, um in einem Aufwasch ihren Göttergatten zu erschießen und dessen Geliebte zu erwürgen. Soweit die Pläne. Doch dann laufen die Dinge aus dem Ruder.

Der Kriminalkommissar Stainer, ein Guter, ein Gerechter, aber auch, wie so oft, ein Leidender, ein fast Gescheiterter, im ewigen Kampf mit den Umständen, mit sich und dem Alkohol.

Dies ist mein erstes Buch von Ziebula. Sein flotter Schreibstil hat mich von Anfang an gepackt. Ich erlebe das Geschriebene wie eine Graphic Novel. Schon die rasante Fahrt zu einem der Tatorte könnte man wunderbar illustrieren. Die Protagonisten nehmen ziemlich schnell Gestalt an.

Zu Anfang präsentiert uns Ziebula fünf Szenen, die im Laufe des Buches zusammenlaufen. Er bereichert nicht nur mit gut recherchiertem Lokalkolorit aus München und Leipzig, sondern auch mit sehr informativem politischen Hintergrundwissen. Er macht den Lesenden bewußt, wie tief verwurzelt Antisemitismus und der militärische Nationalismus der Deutschen, trotz des verlorenen Krieges, waren und wie in dieser Zeit mit der Gründung der NSDAP der Keim für die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts so rasch aufgehen konnte.

Ich bin kein ausgesprochener Krimi-Leser, doch dieser 4. Band aus der Reihe um Kommissar Stainer hat selbst mich wirklich gepackt. Ziebulas dichte, gut ausformulierte Erzählweise, gewürzt mit einer Prise Humor und vielen gut recherchierten interessanten Details, hat für mich diesen Krimi zu einem spannenden Leseerlebnis gemacht.

Dieses Buch erhält von mir fünf Sterne, da es nicht nur alles erfüllt, was man von einem guten Kriminalroman erwarten darf, eine interessante Story, unterhaltsam und spannend erzählt, ein sympathischer Ermittler, den man auch privat kennenlernt und lebendiges Lokalkolorit, sondern weil es zudem noch durch gut recherchierte Details und ein unaufdringliches politisches Statement überzeugt.

Bewertung vom 30.04.2024
The Happiness Blueprint (eBook, ePUB)
Zetterberg, Ally

The Happiness Blueprint (eBook, ePUB)


sehr gut

Eine lockere Liebesgeschichte zweier besonderer Menschen. Ein kluges Buch.

The Happiness Blueprint von Ally Zetterberg

Ein amüsantes, kluges, lockeres Buch in dem wir viel über das Innenleben zweier Menschen erfahren, die in ihrem Empfinden und Verhalten nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen.

Die 26-jährige Schwedin Klara lebt in London, ist eine neurodivergente Chaotin und Diabetikerin und muß nun ohne Fachkenntnisse dafür sorgen, daß die kleine Baufirma ihres Vaters Peter, während seiner Krebsbehandlung, nicht den Bach runtergeht.

Währenddessen versucht der 29-jährige gutaussehende Schwede Alex den Unfalltod seines Bruders zu verarbeiten, an dem er sich mitschuldig fühlt.

Um aus seiner Depression zu kommen, bewirbt sich Alex in Peters Firma um die Stelle als Tischler und Klara stellt ihn ein, ohne zu ahnen, daß der Ring an seinem Finger nicht sein Ehering ist, sondern der seines verstorbenen Bruders.

Schon bei der ersten Begegnung funkt es zwischen den beiden Sonderlingen, doch Klara geht auf Abstand, da sie meint er sei verheiratet. Und Alex deutet ihre Zurückhaltung als Desinteresse.

So sind sie wie zwei gleichpolige Magnete die durch den Ehering wie durch eine unsichtbare Kraft auf Abstand gehalten werden und finden erst sehr spät im Roman zueinander, als sich das Missverständnis aufklärt.

Dann sind da noch Klaras Mutter und ihre Schwester Saga, mit denen der familiäre Austausch primär über Zoom-Konferenzen stattfindet.

Moderne Medien nehmen in diesem Roman eine Schlüsselrolle ein. Es wird beispielhaft gezeigt wie auch die Mitglieder einer weitverstreuten Familie durch Internet und Smart Phone in Kontakt bleiben können. Zudem googelt Klara quasi alles und der Austausch mit Alex findet vornehmlich über einen gemeinsamen digitalen Terminkalender statt.

Ally Zetterberg hat einen wundervoll lockeren Schreibstil, natürlich und sehr humorvoll, ohne flapsig oder beliebig zu werden und sie versteht es dennoch die Ernsthaftigkeit der Probleme aller Beteiligten zu thematisieren.

In sich abwechselnden Kapiteln beschreiben Alex und Klara die Entwicklung jeweils aus ihrer Sicht. Auch das macht das Buch interessant und amüsant.

Als Leser ist man sofort drin in der Geschichte, die Charaktere tauchen binnen kürzester Zeit lebensecht auf. Dies erreicht die Autorin mit dem Stilmittel, das am besten dafür geeignet ist, sie läßt ihre Figuren sprechen. Und wenn die Protagonisten etwas sagen, dann genau so, wie es ihrem Charakter entspricht.

Das Buch ist voller kluger Erkenntnisse, die locker und wie nebenbei rübergebracht werden.
Ich habe die fast 400 Seiten in einem Rutsch durchgelesen und auch das mir persönlich etwas zu schmonzettige Happy End, hat das Leseerlebnis nicht geschmälert.

Es gibt Buchtitel, die lassen sich kaum übersetzen ohne zu verlieren, doch was hätte eigentlich gegen „Blaupause für‘s Glück“ gesprochen ?

Die Covergestaltung hat mir nicht besonders gefallen und bringt den Character des Buches, in meinen Augen, nicht gut rüber. Da reißt es dann auch nicht der poolblaue Farbschnitt raus. Auf den Untertitel Liebe und andere Baustellen hätte man ruhig verzichten können.

Ich würde sagen, das Buch ist für alle von 16 bis 116 Jahre ein Gewinn.
Dieses unterhaltsame, humorvolle, ehrliche und kluge Buch erhält von mir 4 Sterne.
Ich hätte gerne alle 5 Sterne vergeben, da mir das Buch in Bezug auf Neurodivergenz die Augen geöffnet hat. Doch der Fünfte Stern geht leider für die, zwar sehr amüsante, doch letztendlich doch zu kritisierende (weiblich-)chauvinistische Tendenz des Buches drauf.

Ally Zetterberg, „The Happiness Blueprint – Liebe und andere Baustellen“ ist 2024 erschienen bei rohwolt Polaris und kostet 16,-

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.04.2024
Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
Grigorcea, Dana

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen


gut

Flotter Ritt durch New York der Zwanziger Jahre verwoben mit Ringen beim kreativen Schaffen im Spannungsfeld zwischen Kunst und Alltag

Kaleidoskopartige Eindrücke vom Ringen um und Leben mit der Kunst

In ihrem Roman Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen läßt sich die rumänisch-schweizerische Schriftstellerin Dana Grigorcea von Fragen zum Thema Kunst leiten und versucht den künstlerischen Schaffensprozeß zu ergründen.

Der 222 Seiten umfassende Roman spielt zeitlich und örtlich an zwei verschiedenen Settings, die in reizvoller Weise miteinander verbunden werden.

Im Hier und Jetzt erleben wir die Schriftstellerin Dora, die im Rahmen eines Literaten-Stipendiums in einem Hotel in Italien versucht, die Amerikareise des Bildhauers Constantin Avis im New York der 20er Jahre literarisch festzuhalten. Als Vorbild für die Romanfigur dient ihr hierfür der rumänische Bildhauer Constantin Brâncuși.

Das zweite Setting ist der Aufenthalt von Constantin Avis in New York etwa 100 Jahre vor unserer Zeit. Eines seiner Hauptwerke „Vogel“ hat er mitgebracht, da er hoffte, diesen im Rahmen einer Einzelausstellung präsentieren zu können. Doch kurz vor seiner Ankunft ist sein Mäzen und Galerist verstorben.

Beide Schauplätze wechseln sich in den einzelnen Kapiteln fast regelmäßig ab.

In temporeichen irisierenden Sequenzen dürfen wir daran teilhaben, wie Constantin das New York der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erlebt. Dann kehren wir wieder in die Gegenwart zurück und beobachten Dora beim Schreiben des nächsten Kapitels und im kreativen Schaffen im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen des Alltags und den Ansprüchen ihre Kunst betreffend.

Mit Dora in Italien ist Loris, ihr 8 -jähriger Sohn und sein Kindermädchen Macedonia. Später kommt Regis hinzu, mit dem Dora eine toxische Beziehung zu führen scheint.

Dora hält sich in ihrer eigenen Scheinwelt auf und erschreibt sich in Constantin und Lidy die Traumbeziehung, die sie eigentlich leben möchte, während alle anderen Protagonisten der Gegenwart die Realität nicht verdrängen.

Das Buch schließt ab mit einem Epilog in dem der Prozess beschrieben wird, den Constantin mit der Zollbehörde führt, in dem es im Kern um die Frage geht Was ist Kunst ? Dieser beruht auf dem entsprechenden historischen Ereignis in dem die Frage geklärt wurde, ob es sich beim Werk „Vogel“ des Bildhauers Constantin Brâncuși um Kunst handelt oder nicht. Es ist amüsant zu lesen, doch mit 13 Seiten empfand ich dieses Kapitel, im Vergleich zu anderen nur wenige Seiten umfassenden, überbetont, denn die Frage Was ist Kunst ist für den Künstler und den kreativen Schaffensprozess unerheblich und nur in Fragen der Besteuerung von Relevanz.

Ich bin dankbar dafür, daß mir die Autorin den Künstler Constantin Brâncuși und sein, vermutlich ein wenig vergessenes Werk, nahegebracht hat.

Der Schreibstil ist ein kaleidoskop- bis stroboskopartiger und nicht nur für den Durchschnittsleser gewöhnungsbedürftig und ein wenig anstrengend.

Die Autorin versteht es, sich in die Charaktere ihrer Figuren hineinzuversetzen. Ich vermute, daß sie in diesen Roman auch viele Aspekte ihres eigenen Lebens hat einfließen lassen.

Dieser manche Aspekte der Kunst betrachtende Roman ist kein Buch durch das sich Lesende bequem tragen lassen können, man muß schon selbst kräftig strampeln, um mitzukommen. Zwischendurch abzudriften, ohne etwas zu verpassen, kann man sich bei diesem Buch nicht leisten und das spricht in meinen Augen eindeutig für dieses literarische Werk.

Ich kann mich aber dennoch nicht des Eindrucks erwehren, daß dem Werk etwas Provisorisches anhaftet, etwas Unfertiges. Wie eine Art Skelett, das man erst noch in eine gesättigte Lösung halten muß, damit sich an ihm viele interessante Kristalle ausbilden und die Form vollenden können.

Ich hätte mir gewünscht, daß bei Fragen der Kunst mehr in die Tiefe gegangen wird, so wird vieles nur angesprochen und bleibt dann an der Oberfläche. Auch andere angerissene Fragen bleiben unbeantwortet, manch Schilderung ohne Erklärung oder nur mit sehr verstecktem Bezug.

Doch wer sagt, daß ein Roman immer eine abgerundete Sache sein muß ? Natürlich wäre das uns als Lesende lieber, doch das Leben an und für sich ist ja auch weit davon entfernt, eine abgerundete Sache zu sein.

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen von Dana Grigorcea ist 2024 bei Penguin Random-House in München mit der ISBN 978-3-328-60154-8 als Hardcover erschienen und kostet 24,- Euro.

Bewertung vom 19.04.2024
Wir bleiben noch
Wisser, Daniel

Wir bleiben noch


sehr gut

Wir bleiben noch

Kurzmeinung: Überzeugende gut zu lesende Paar-u.Familienstudie. Sehr guter Schreibstil. Einblick in die polit. Befindlichkeiten der Österreicher um 2018.

Liebe in Zeiten der Familie

Von der ersten Zeile an hat mich dieses Buch mitgenommen. Der Schreibstil ist gut. Es liest sich flüssig. Die Charaktere sind glaubhaft und lebensnah, genauso wie auch die Dialoge.

Im Zentrum steht das Leben des Mittvierzigers Victor in den Jahren 2018 bis 2019ptember. Er ist im Begriff, sich nach 8 Jahren von seiner Frau Iris zu trennen, da der nicht erfüllte Kinderwunsch die Beziehung zersetzt hat. Noch bevor die Trennung sauber vollzogen ist, gestehen sich er und seine Cousine Karoline gegenseitig ihre Liebe ein. Bis zum Ende handelt dann das Buch vom Lieben und Leben der beiden und ihrem Sich-Abfinden damit, daß der Zug in Sachen eigene Kinder abgefahren ist und ihren Schwierigkeiten mit dem Rest der Familie, also mit seinen Eltern und mit ihren Eltern und ihrer Schwester, die ihre Beziehung aufgrund der verwandtschaftlichen Nähe als "abartig" bezeichnen.

Urli, die Großmutter von Viktor ist standhafte Sozialdemokratin und gibt den beiden noch ihren Segen, bevor sie stirbt.

Das Verhältnis der beiden zum Rest der Familie wird zusätzlich dadurch belastet, daß Urli im Testament ihrem Enkel Victor alleine ihr Haus vermacht. Ein älteres kleines Haus auf dem Lande.

Das Buch ist eine schöne angenehm zu lesende Paar- und Familienstudie und zudem gibt es einen Einblick in die Verfasstheit der österreichischen Gesellschaft 2018/2019. Wie in vielen Ländern ist auch in Österreich die Gesellschaft nach rechts gerückt. Aufhänger dafür sind die Flüchtlinge. Tatsächlich ist es aber die Sattheit einer ganzen Generation, die, in jungen Jahren, als sie noch nichts hatten, links waren und nun im Renten- und Vorrentenalter um ihre Pfründe und ihre Bequemlichkeit fürchtend ins konservative Lager gewechselt sind.

Mich hat die Liebesgeschichte der beiden leicht traurig gestimmt, da sie nur sich haben, keine Freunde und die ganze Familie gegen sich.

Ein Buch, das ich nur empfehlen kann und ich bin froh, es im Tauschregal entdeckt zu haben, nachdem ich in der Ketten-Buchhandlung eine Stunde lang vergeblich nach einem guten Buch gesucht habe. Für einen 5. Stern hat es bei mir nicht ganz gereicht, aber beinahe.

Bewertung vom 19.04.2024
Und dann sind wir gerettet
Carati, Alessandra

Und dann sind wir gerettet


ausgezeichnet

Beschrieben wird in diesem Roman das Leben der Ich-Erzählerin Aida die im Alter von 6 Jahren mit ihrer schwangeren Mutter in letzter Minute vor den „ethnischen Säuberungen“ der Mörderbanden der serbischen Nationalisten, zunächst zur Grenze und dann mit dem dort wartenden Vater, nach Italien flieht.

Dort angekommen ähnelt die weitere Familiengeschichte von außen betrachtet derjenigen von Millionen Migranten. Ankommen, Arbeit finden, malochen, Geld nach Hause schicken und den Traum einer Rückkehr erst nach Jahrzehnten aufgeben.

Doch diese Familie ist durch die Flucht traumatisiert. Die Mutter zieht sich in sich zurück, der Vater in den Rhytmus von schuften und schlafen.

Kaum gerettet und in Italien in Sicherheit angekommen wird ein Schaf gekauft und nachdem man es eine Weile versorgt hat, wird ihm im Rahmen eines stumpfsinnigen und dummen „Ritus“ anläßlich des muslimischen „Opferfestes“ die Kehle durchgeschnitten. Was für ein fragwürdiges Opfer wird da erbracht, wenn man das Leben eines anderen Lebewesens opfert.


Aida erlebt das Schicksal vieler Mädchen in muslimischen Familien. Obwohl die Familie liberal ist, hat Schulbildung keine Wichtigkeit, erst recht nicht für ein Mädchen und man geht ja eh bald zurück.

Einziger Sonnenstrahl in diesem von Tristesse und Lieblosigkeit geprägten Familienleben ist der kurz nach der Ankunft in Italien geborene Bruder Ibro. Doch auch dessen Existenz kann ihre ganz normalen emotionalen Bedürfnisse nicht ausgleichen.

So rettet sich Aida zunehmend zu einem zu Freunden gewordenen kinderlosen italienischen Ehepaar, welches der Familie seit ihrer Ankunft im Rahmen ihrer Möglichkeiten hilft. Diese haben Aidas Potenzial erkannt und unterstützen sie bei ihrem Medizinstudium.

Auch der brüchige Frieden, der nach all dem Grauen und Gemetzel des als Jugoslawienkrieg bezeichneten Krieges, erreicht wurde, hat nicht zur vollständigen Rückkehr der Familie in die Heimat geführt.

Diesem Bildungsroman per definitionem gab die Autorin eine interessante Struktur.
Beschrieben werden in 4 Abschnitten jeweils 1-2 Jahre. Dann noch ein Epilog. Zwischen den Abschnitten liegen jeweils 10 Jahre. Aida ist in den jeweiligen Abschnitten also etwa 6 Jahre alt, dann 16, 26 und 36.

Diese Konstruktion ermöglicht es der Autorin die wesentlichen Lebensabschnitte der Protagonisten zu beschreiben und den Roman nicht zu sehr ausufern zu lassen.

Ich hätte mir aber gewünscht, daß dies den Lesenden in einem Vorwort kurz erklärt wird.

Das Buch ist in viele kleine, teilweise nur eine Seite umfassende Kapitelchen gestückelt und so empfand ich den Erzählstrang weniger wie einen Film, sondern eher wie ein Fotoalbum mit vielen Polaroidfotos.

Der Stil ist mehr ein beschreibender, als ein poetischer und wenn die Autorin immer wieder mal ein oder zwei philosophische Erkenntnisse einstreut, dann klangen diese für mich meist ein wenig deplatziert.
Dennoch haben mich einige ihrer Formulierungen und Feststellungen zu Tränen gerührt oder mit offenem Mund (entsetzt) sein lassen.

Die direkte Rede in diesem Buch war für mich problematisch, denn bis auf Ibro, den Bruder der Hauptfigur Aida, läßt die Autorin alle Figuren in der gleichen Weise sprechen und selbst die Mutter, die weder lesen noch schreiben gelernt hat, drückt sich, wenn sie mal etwas sagt, gebildet aus. Da hätte ich mir mehr Mühe der Autorin gewünscht, die Sprache der Figuren ihrer Beschreibung anzupassen.

Das ist zum Beispiel einer der Gründe, warum ich mich als Leser dieses Buches stellenweise wie ein ungebetener Gast gefühlt habe, dem man es nicht allzu bequem machen will, damit er sich nicht bei einem festsetzt.

Ein weiteres Beispiel für dieses Gefühl als Leser ist, daß zwar die erste pubertäre zaghafte Annäherung an einen Jungen im Teenageralter ausführlich beschrieben wird, dann aber nichts mehr kommt und einem kurz vor Schluß dann ein Ehemann präsentiert wird, mit dem man schon Jahre zusammen ist. Damit fühlt man sich als Leser vom Geschehen ausgeschlossen und vor den Kopf gestoßen.

So sind die ersten beiden Drittel des Buches zwar interessant, aber ein wenig holprig, doch dann, als es um die Problematik mit ihrem Bruder Ibro geht, zeigt die Autorin mehr Talent und man fühlt sich einbezogen und mitgenommen.

Ein wenig mehr Recherche hätte dem Buch auch gut getan. Entsetzt war ich zu lesen, daß die Flüchtlingsfamilie das stehengelassene Abendessen ins Klo geschüttet haben soll. Derartiges würde eine muslimische Familie wie diese niemals tun.

Ein durchaus lesenswerter Roman, wenn man nicht allzu große stilistische Ansprüche stellt, mit einer geradezu beklemmenden Aktualität, da die serbischen Nationalisten in den Jahren 2023/2024 durch den Angriffskrieg des Diktators des russischen „Brudervolkes“ wieder Auftrieb verspüren Ihre großserbischen Machtphantasien mit Gewalt durchzusetzen.

Allerdings hätte das Buch eine weniger fade und nichtssagende Covergestaltung durchaus verdient.

Bewertung vom 18.04.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


ausgezeichnet

Im Roman Treibgut von Adrienne Brodeur lernen wir zunächst die Mitglieder einer, auf den ersten Blick, beneidenswerten Familie kennen.

Da ist Adam Gardner (69), brillanter Walforscher kurz vor seiner Pensionierung, sowie sein Sohn Ken (42,) der erfolgreiche Immobilienentwickler auf dem Sprung in den Senat und seine Tochter Abby (38), die schwangere Malerin kurz vor ihrem künstlerischen Durchbruch. Diese, sowie Ken’s Frau Jenny (mit ihren bezaubernden 12-jährigen Zwillingstöchtern Tessa und Franny) werden, in sich abwechselnden, Kapiteln beschrieben, die mit dem jeweiligen Namen betitelt sind.

In vier Monaten ist der 70. Geburtstag des egozentrischen Patriarchen und so strebt alles auf diesen Tag zu.

Broudaine beschreibt ihre Protagonistin so treffend, daß man das Gefühl hat, bereits jeden von ihnen schon Jahre zu kennen.

Exquisite Landschafts- und Naturbeschreibungen bereichern diese kluge Familienanalyse, der es nicht an Humor fehlt. Klug und immer genau auf den Punkt.

Schon zu Anfang läßt uns die Autorin hinter die Fassade blicken:

Adam versucht mit Psychopharmaka seine bi-polare Störung zu steuern, Ken ist traumatisiert vom Tod seiner Mutter als er vier Jahre alt war und seine einzige Motivation ist, es den anderen zu zeigen, da er als Kind gemoppt wurde und nie die Anerkennung seines Übervaters bekam. Abby ist verhuscht und ohne Selbstvertrauen. Der Grund dafür wird sich noch zeigen. Zudem kriselt es in Ken’s Ehe mit Jenny.

Schnell treten weitere Protagonisten hinzu: Steph (38), Polizistin aus einfachen Verhältnissen, die erst jüngst, als sie zum ersten Mal Mutter wurde, erfahren hat, daß sie die Frucht eines Fehltritts von Adam ist, der aber davon keine Ahnung hat. Sie ist lesbisch und mit Toni verheiratet.

Wie stark unsere Kindheitstraumata unser Handeln als Erwachsene beeinflussen, ist das Kernthema dieses großartigen Romans.

Der Roman spielt auf Cape Cod einer Landzunge, die in den Atlantischen Ozean ragt.

Die Beschreibung der Figuren kommt so natürlich und lebensecht daher, daß diese uns nach kürzester Zeit vertraut sind.

Dieses Buch habe ich verschlungen.

Der Stil ist fließend, so natürlich und unaufdringlich und selbstverständlich wie das Ein- und Ausatmen des Meeres mit Ebbe und Flut. Die an genau passender Stelle eingestreuten Bemerkungen sind klug und witzig, was einem als Leser leider selten begegnet.

Die Dialoge sind so lebensecht und figurenspezifisch, daß die direkte Rede (in meinen Augen die Königsdisziplin beim Schreiben) von den Lesenden an keiner Stelle als störend empfunden wird.

Die Autorin beschenkt uns den ganzen Roman hindurch mit klugen und poetischen Metaphern.

So ganz nebenbei und sehr klug behandelt die Autorin auch Fragen der bildenden Kunst und des künstlerischen Ringens und Schaffens. Eine unbedingte Bereicherung.

Die Autorin in meinen Augen bei der Beschreibung des großen Ereignisses des 70. Geburtstages von Adam, auf den ja im Buch alles zusteuert, eine große Chance vertan, indem sie die tragische Komik, die sich durch das Aufeinanderprallen der verschiedenen Charaktere und Erwartungshaltungen ergibt, zu wenig zelebriert. Schade, wo sie doch den ganzen Roman über gezeigt hat, über welch klugen und feinsinnigen Humor sie verfügt.

Schreibende müssen nicht jede aufgeworfene Frage eines Romans beantworten, man darf durchaus das ein oder andere offen lassen. Doch wenn sich ein Buch dadurch auszeichnen läßt, daß sich die Wahrheitsliebe und Aufklärung als einer der roten Fäden durch das Werk zieht, dann kann man als Autorin nicht einfach am Ende die Beantwortung der Kernfrage nur andeuten, sie muß explizit und unmissverständlich ausgesprochen werden. Man kann sich dann auch nicht einfach hinter US-amerikanischer Prüderie verstecken, um Leser nicht zu verprellen, denen es unangenehm wäre, wenn sie nicht die Möglichkeit bekämen, eine unangenehme Wahrheit zu verdrängen. Daß man als Leser will, daß eine so bedeutende Frage vom Autor nicht unbeantwortet bleibt, hat nichts mit voyeuristischer Neugier zu tun, sondern ist dem Umstand geschuldet, daß die Lesenden ein Recht auf diese Wahrheit haben, um das Geschehene beurteilen und einordnen zu können.

Mir erscheint es ein wenig so, als wäre der Autorin gegen Schluß zu, etwas die Puste ausgegangen.

Wie leider so oft, beschreiben der Klappentext und die Kurzbeschreibung auf der Rückseite des Umschlages den Charakter des Buches nicht ganz zutreffend. Das Buch ist wesentlich reichhaltiger, als man nach dieser Beschreibung erwartet.

Eine der Botschaften dieses Buches ist für mich, daß sich eine Familie nicht primär über das gemeinsame Blut definiert, sondern über die Liebe, die die Menschen einander geben und, daß ein liebevoller Mensch in bescheidenen Verhältnissen ein besseres Familienoberhaupt ist, als ein egozentrisches Genie.

Diese sensible, unbeschwerte und dennoch tiefschürfende Beschreibung einer Familie ist eine unbedingte Leseempfehlung.

Bewertung vom 18.04.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Der Roman Das andere Tal des kanadischen Schriftstellers Scott Alexander Howard spielt in einem kleinen abgeschotteten Tal.

Neben diesem Tal gibt es noch exakte Kopien des Tales, die im Osten und Westen angrenzen, zeitversetzt 20 Jahre vor und zurück. Und auch an diese Täler grenzen, wiederum auf der anderen Seite, exakte Kopie des Tales, um jeweils weitere 20 Jahre zeitversetzt in Zukunft und Vergangenheit, in endloser Reihe.

Ein Besuch der anderen Tälern wird nur in Ausnahmefällen genehmigt. Zu groß ist die Gefahr, daß die Kausalkette der Ereignisse gestört wird, mit verheerenden Folgen für eines der Täler, bis hin zur Auslöschung.

Im ersten Teil des Romans lernen wir im „gegenwärtigen“ Tal Odile unsere 16 jährige Hauptfigur und ihre Freunde kennen. Ein schüchternes Mädchen, das nur schwer Anschluß findet. Die Jugendlichen stehen am Ende ihrer Schulzeit und müssen sich für eine Ausbildung entscheiden.

Odile bewirbt sich beim Conseil, der Regierung des Tales, die auch über die Reiseerlaubnis entscheidet.

Um unerlaubte Reisen in Vergangenheit oder Zukunft zu verhindern sind alle Täler von einem gesicherten und bewachten Zaun umgeben.

Odile erfährt die ersten Liebesgefühle und beginnt zarte Bande zum gleichaltrigen Edme zu knüpfen.

Der erste Teil ist mehr ein Coming-of-Age-Roman und eine Gesellschaftsbeschreibung, als ein Zeitreise-Abenteuer. Aber sehr interessant sind all die Detailfragen, die sich bei der Thematik der Zeitreisen in die benachbarten Täler ergeben. Es ist wirklich spannend zu lesen, wie diese abgeschlossene Welt aufgebaut ist und funktionieren kann.

Das Coming-of-Age von Odile wird bemerkenswert einfühlsam beschrieben.

Im zweiten Teil begegnen wir nun der 20 Jahre älteren, also der 36-jährigen Odile. Genaugenommen befinden wir uns nun also im Tal, das östlich an das im ersten Teil beschriebene grenzt.

Edmes Tod und Odiles Schuldgefühle, da sie ihn nicht gewarnt hatte, haben unsere Hauptfigur derart aus der Bahn geworfen, daß sie sich aufgegeben und einen Posten bei der Gendarmerie angenommen hat, die die Grenze bewacht. Eine Stellung die eigentlich für die Gescheiterten der Gesellschaft vorgesehen ist.

Ihr Leben dort ist entbehrungsreich, stumpf und von demütigenden Anfeindungen geprägt und so scheint Odile, nach Edmes Tod, über Jahrzehnte, einen Akt der permanenten Selbstbestrafung vorzunehmen.

Wie sehr sich Odile in die Gegebenheiten ihres tristen Daseins gefügt hat und wie sehr sie abgestumpft ist, wird sichtbar, als sie den Mord ihres Vorgesetzten an Lucie bedenkenlos hinnimmt, einer flüchtenden Frau, die sie noch von ihrer Schulzeit kannte, und sogar noch zu ihrem Vorteil nutzen will.

Würde der Roman hier enden, so würden wir dieses Buch tief deprimiert zur Seite legen.

Doch ein fulminantes, packendes und unglaublich spannendes Ende dieses Debüt-Romanes gibt uns unsere Hoffnung zurück und es stellt sich nur noch eine Frage: Wann kommt der zweite Roman von Scott Alexander Howard.

Natürlich kann man vom Autor nicht erwarten, daß er diese Geschichte in logischer Hinsicht nach allen Seiten wasserdicht macht. Also Fragen nach dem Woher des Benzins für den Autobus oder der Ersatzteile für die Gerätschaften des Alltags, werden nicht beantwortet.

Aber ein äußerst interessantes Gedankenexperiment ist es allemal, veranschaulicht es doch auf einfache Weise die Theorie, daß Zeit eine Illusion ist. Alles findet gleichzeitig statt, nur eben auf einer Unzahl verschiedener Frequenzen. Vergleichbar mit einem Radio, wo man immer nur einen Sender hören kann, obwohl Tausende Stationen gleichzeitig senden.

Der Stil – Ein Lesegenuß auf höchstem Niveau

Was mich an diesem Buch sofort begeistert hat, ist der exzellente Schreibstil des Autors. Jedes Wort ist genau da, wo es hingehört. Wie bei einem gut komponierten klassischen Musikstück stimmen Tempi, Betonungen, Satzlängen und Satzmelodie. So wird, unabhängig vom erzählten Stoff, das Lesen selbst zum Genuß. Wenn man es genau betrachtet, findet oft mehr Detailbeschreibung, als Handlung statt. Dennoch empfand ich das Lesen als unglaublich spannend und wollte das Buch kaum aus der Hand legen. Die Metaphern sind kleine Meisterwerke, passend und immer genau auf den Punkt. Als Leser fühlt man sich getragen und der Autor versteht es, Dialoge so geschickt in indirekter Rede auszuführen, daß diese den Lesefluß in keinster Weise beeinträchtigen.

„Das andere Tal“ ist eine absolute Empfehlung und ich bin überzeugt davon, daß dies nicht der letzte Roman von Scott Alexander Howard sein wird, in dessen Genuß wir kommen.

Das Einzige, was ich als Leser an diesem Roman vermißt habe, war ein rotes Lesebändchen, passend zum schönen rot-orangen Ganzleineneinband des bekannt handlichen Diogenes-Buches.