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Bewertung vom 29.04.2009
Die Perlentaucherin
Talarigo, Jeff

Die Perlentaucherin


ausgezeichnet

Sie liebt das Meer, das Tauchen nach den Austern mit ihren verborgenen Schätzen. Sie sehnt sich jeden Tag danach und zählt im Winter die Wochen bis zum Beginn ihrer Arbeit als Perlentaucherin.
Eine junge Frau im Japan der 40er Jahre ist mit Leib und Seele Perlentaucherin. Sie weiß um die Gefahr, die sie mit jedem Tauchgang eingeht - aber sie liebt die Ruhe, die sie tief unter der Meeresoberfläche findet. Eines Tages jedoch bemerkt sie, dass sie in einem roten Fleck an ihrem Arm kein Gefühl mehr hat, ebenso in einem Fleck auf dem Rücken. Die Diagnose: Lepra. Dieses Wort verurteilt sie zur Isolation, weit weg auf einer Insel der Lepra-Kranken. Sie ist nun eine Schande für ihre Familie, welche sie aus dem Familienregister streichen lässt und nicht mehr über sie spricht. Das Tauchen, ihre Passion, bleibt nun für lange Zeit ein Traum der Vergangenheit. Verbannt auf die Insel, abgeschnitten von ihrem früheren Leben, muss sie nun lernen, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Ihren früheren Namen, den man nie erfährt, muss sie ablegen. Ihr neuer Name lautet nun Fräulein Fuji - nach dem Berg Fuji, welchen sie mit ihrem Onkel in ihrer Kindheit bestiegen hat.
Ein neues Heilmittel, was kurze Zeit nach ihrem Eintreffen auf der Insel wirksam angewandt wird, bleibt den japanischen Lepra-Kranken allerdings verwehrt. Vom Eintritt der Krankheit als 19-Jährige kräftige Perlentaucherin bis zu ihrem Dasein als alte Frau mit 64 Jahren lebt sie auf der Insel Nagashima und lernt dabei zahlreiche andere Lepra-Kranke kennen, die sich alle in irgendeiner Weise mit dem Leben auf der Insel arrangiert haben. Die scheinbare Aporie ihrer Situation zerstört Fräulein Fuji allerdings nicht - sie trägt weiterhin die Hoffnung auf ein besseres, freies Leben in sich.

Der Roman von Talarigo übermittelt durchgehend eine sehr melancholische, traurige Atmosphäre. Als Leser begleitet man Fräulein Fuji von ihrem glücklichen Leben als Perlentaucherin bis zu ihrem Leben als alte Frau auf der Insel Nagashima. Einfühlsam werden ihre Empfindungen beschrieben - angesichts ihrer Situation als Ausgestoßene, auf ihrer Suche nach Hoffnung, aber auch angesichts der Dinge, die ihr immer wieder verdeutlichen, das sie eine Schande ist. Ausgestoßen aus der Gesellschaft ist sie ihrer Freiheit weitgehend beraubt, mit gesunden Menschen ist der Kontakt verboten. Anhand von "Artefakten", welche die Überbleibsel des Lebens der Lepra-Kranken auf der Insel sind, wird der Mittelteil gegliedert. Jeder dieser Gegenstände spielt dabei im folgenden Kapitel eine wichtige Rolle. Einige Male sind diese Kapitel nur wenige Zeilen lang - aber sie enthalten oft eine prägende Botschaft, welche die Situation Fräulein Fuji's als Ausgestoßene verdeutlicht. Allerdings gibt es auch Hoffnung: Jedes Jahr an ihrem Geburtstag leuchtet ein Feuer auf der Nachbarinsel - nicht alle Menschen ihres früheren Lebens haben sie vergessen.
"Die Perlentaucherin" lässt mich sehr nachdenklich zurück. Noch immer habe ich das Gefühl, nicht die treffenden Worte für diese einmalige, berührende Geschichte gefunden zu haben. Fräulein Fuji ist eine beeindruckende Person. Weder versinkt sie im Selbstmitleid oder begeht Suizid, wie so viele andere, noch wird sie als leidende Heldin dargestellt. Stattdessen bekommt man einen Einblick in ihre Gedanken und Gefühle, in ihre Art, mit dieser niederschmetternden Diagnose mehr als 50 Jahre weitgehend isoliert leben zu können. Nicht zuletzt beruht diese Geschichte auf einer wahren Begebenheit - tatsächlich ging man vor wenigen Jahrzehnten noch auf diese unmenschliche Art mit Lepra-Kranken um, deren Leiden schon viele Jahre lang hätte gemindert werden können.

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