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an_der_see

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Insgesamt 16 Bewertungen
12
Bewertung vom 25.07.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Nachdem ich „Am Himmel die Flüsse“ von Elif Shafak geschrieben und aus dem Englischen ins Deutsche von Michaela Grabinger übersetzt, gelesen habe, werde ich Wasser, einen Wassertropfen, eine Schneeflocke, einen Fluss, ein Meer, die Ostsee, auch eine Träne, anders betrachten als vorher. Welchen Weg hat ein Wassertropfen wie lange hinter sich gebracht? Welche Verbindung steht hinter der Schneeflocke die mich im Gesicht kitzelt und der Vergangenheit? Welche Berührungspunkte zwischen lange verstorbenen Menschen und mir gibt es? Alleine für die Offenbarung welchen Weg ein Wassertropfen nehmen, wie alles mit allem verbunden sein kann, danke ich diesem Buch, der Autorin, dass sie es geschrieben hat.
Arthur, Narin und Zaleekhah, sind miteinander verbunden. Arthur wird 1840 in London geboren, er wächst in einem Armenviertel Londons auf, mit einer besonderen Gabe, alles was Arthur jemals gehört, gelesen, gesehen hat, wird er nicht mehr vergessen. Narin ist im Jahre 2014 neun Jahre alt, wächst bei ihrer Großmutter in der Türkei am Ufer des Tigris auf, ihre Mutter lebt nicht mehr, ihr Vater ist viel auf Reisen, Narin wird ihr Gehör verlieren und bevor das geschehen sein wird, möchte Narins Großmutter sie taufen lassen, mit ihr ins heilige Lalis-Tal in den Irak fahren. Im Jahre 2018 am Ufer der Themse trennt sich Zaleekhah von ihrem Mann, zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus und in ein Hausboot ein. Zaleekhah erforscht das Wasser, sie ist bei ihrem Onkel und ihrer Tante aufgewachsen, nachdem ihre Eltern ums Leben kamen, es um gibt sie eine Melancholie, eine Traurigkeit, die Frage wie andere Menschen es schaffen auch nur für einen Moment glücklich zu sein…
„Am Himmel die Flüsse“ ist ein Buch, dass bei mir bleiben wird, es fühlt sich an, als seien Arthur, Narin und Zaleekhah ein Teil von mir geworden. Sie kamen mir nah, an vielen Stellen des Romans auch zu nah, so dass ich die Lektüre unterbrechen wollte, langsam voran kam. Dieses Buch ist sehr reich an Schicksal, an Verbundenheit, Einsamkeit, tiefe und große Traurigkeit. Menschen kämpfen ums Überleben. Sie suchen ihren Platz im Dasein und im Wandel. Sie sind der Geschichte, den politischen Verstrickungen und ihrer Herkunft ausgesetzt. Ihnen werden unüberwindbare Grenzen aufgezeigt. Sie wollen leben. Sie wollen ihren Platz in ihrem Leben finden. Dieses Buch zeigt auf, was Menschen anderen Menschen antun können, zu welch schrecklichen und menschenverachtenden Verhalten Menschen fähig sein können und es zeigt auf, wie abhängig die Entwicklung und das Leben eines jeden Menschen davon ist, in welches Land, in welche Gesellschaft, in welche Religion und in welche Familie er hinein geboren wurde. Zur gleichen Zeit, als Arthur geboren wurde, kam das erste Kind von Queen Victoria und Prince Albert zur Welt, der gleiche Geburtstag, die gleiche Geburtsstadt und die Startbedingungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Und so passiert es noch immer, Tag für Tag, Stunde für Stunde und es ist so vielen Menschen nicht bewusst, dass ihr Leben ganz anders hätte verlaufen können, wenn sie in eine andere Familie, ein anderes Land, eine andere Religion hinein geboren wären.
Das ihre Entwicklung nur bedingt etwas mit Können und Fähigkeiten zu tun hat, denn um das Ausleben von Fähigkeiten braucht es die entsprechenden Bedingungen. Und wenn es die nicht gibt, dann braucht es jemanden von Außen der hilft und unterstützt, der hinsieht, erkennt und neue Möglichkeiten aufzeigt und ermöglicht. Wäre Arthur zur bestimmten Zeit gewissen Menschen nicht begegnet, wäre sein Leben in eine andere Richtung verlaufen.
„Am Himmel die Flüsse“ ist kein unterhaltsames Buch. Es ist ein Buch, das tief von der Oberfläche abtaucht, dass Verbindungen und Zusammenhänge aufzeigt, mit dem man von der Gegenwart in die Vergangenheit reist, von der Themse an den Tigris zu unterschiedlichen Zeiten. Der Orient und die westliche Welt, lange vergangene mit der jüngsten Geschichte und der Gegenwart verknüpft. Ein Buch das menschliches Leid aufzeigt, dass sich viele Menschen nicht vorstellen können. Ein Buch das tief berührt und die Leser*innen emotional erschüttert zurück lässt. „Am Himmel die Flüsse“ ist eines von den Büchern, die verstehen lassen, wenn man verstehen möchte, nach dessen Lektüre man nicht sagen kann, dass man nichts gewusst hätte. Für mich ist dieses Buch, das beste von Elif Shafak, es kommt mir wie eine Quintessenz ihrer anderen Bücher vor und ich bin sehr dankbar dafür, dass sie es geschrieben hat, schreiben konnte, die Kraft und Energie dafür finden konnte. Eine der größten Leseempfehlungen von mir für „Am Himmel die Flüsse“ von Elif Shafak.

Bewertung vom 05.05.2024
Der Wind kennt meinen Namen
Allende, Isabel

Der Wind kennt meinen Namen


ausgezeichnet

Um ihren Sohn Samuel vor dem Holocaust zu schützen, schickt Rachel Adler ihn 1938 mit einem Kindertransport nach England.
Leticia Cordero überlebt 1982 als Kind zusammen mit ihrem Vater als Einzige der Familie das Massaker in ihrem Heimatdorf El Mozoto. Zusammen fliehen sie in die USA.
Anita flieht 2019 mit ihrer Mutter von El Salvador in die USA. An der mexikanischen Grenze werden sie von einander getrennt.
Der Roman „Der Wind kennt meinen Namen“ von Isabel Allende erzählt die Geschichte dieser drei Kinder. Die zu verschiedenen Zeiten ihrem Umfeld, ihrer Familie, ihrem Leben entrissen wurden. Aufbrechen mussten in die Ungewissheit, von ihren Eltern getrennt, von allem entfernt was sie bisher kannten, was ihr Leben ausgemacht hat. Kinder wie es sie zu Hundertausenden in dieser Welt gibt, deren Schicksal oft nur eine kurze Erwähnung ist, wenn überhaupt, die untergehen in der Masse, ums Überleben kämpfen. Oft ihr ganzes Leben. Und dann gibt es Menschen wie Selena, die diesen Kindern eine Stimme geben, sich um sie kümmern, für sie kämpfen, die ihr Leben damit verbringen zu helfen, zu unterstützen, ein Überleben ermöglichen. Wenn Isabel Allende sich eines solchen Themas annimmt, kann man gewiss sein, dass sie es auf eine Art tut, die ich bei kaum einer anderen Schriftstellerin, einem anderen Schriftsteller jemals erlebt habe. Sie schreibt über die Schrecken des Lebens, den Widrigkeiten der Zeit in allen Facetten die menschliches Fühlen erlaubt. So kommt es mir vor. Bei ihr ist nichts schwarz oder weiß, gut oder böse. Sie lotet aus, sie dreht die Empfindungen mit einer Herzenswärme die es ermöglicht über die Schlimmsten Zustände und Situationen zu lesen. Sie geht hinein wo es schmerzt, aber sie verletzt mit ihren Worten nicht noch mehr. Ganz im Gegenteil. Sie spendet Hoffnung, tröstet, klärt auf, hilft, lässt einen nicht alleine mit dem Gelesenen. So auch in „Der Wind kennt meinen Namen“. Die Schicksale von Samuel, Leticia und Anita gehen zu Herzen. Schockieren um so mehr, weil man weiß, dass diese Schicksale keine Ausnahme sind. So finden in diesem Roman auch die helfenden Menschen Platz. Das Paar, das Samuel damals bei sich aufgenommen hat. Selena und Frank, die sich für die Kinder einsetzen, die an der mexikanischen Grenze von ihren Eltern getrennt wurden. Nadine, die spätere Frau von Samuel, die ihn mit ihrer Lebenslust durchs Leben führte und mehr für andere tat, als Samuel zu ihren Lebzeiten ahnte. Es sind Menschen wie diese, die das Leid erträglich machen. Die hinschauen, die Kraft zum Handeln aufbringen, die eine Mission in ihrem Leben sehen, die nicht jammern, sondern anpacken. Denn jedes Kind, das in seiner Kindheit traumatisiert wurde, wächst zu einem Erwachsenen heran, einem traumatisierten Erwachsenen und kaum jemand, der nicht Ähnliches erlebt hat, weiß, wie schwer es sein kann, mit einem solchen Schicksal zu leben, ohne daran zu verzagen und sich diesem Schicksal zu erlegen. Und es sind in dieser Welt noch immer hauptsächlich die Kinder und Frauen, die unterdrückt und missbraucht werden, die ausgeliefert sind. So steht dieses Thema auch zentral in „Der Wind kennt meinen Namen“. Erschütternd einmal mehr darüber zu lesen und zu akzeptieren, dass wir uns was dieses Thema angeht, kaum vorwärts bewegt haben, dass es mir eher so vorkommt, als wenn wir auf einem Laufband stünden, das auf Rückwärtsgang geschaltet ist, wir aber versuchen, weiter voran zu kommen. Es funktioniert nicht, die Kräfte stehen dem entgegen. Es braucht mehr Bücher wie dieses, die aufklären und aufzeigen.
Ein Roman von Isabel Allende ohne eine sich entwickelnde Liebe gibt es nicht. So dürfen wir auch in „Der Wind kennt meinen Namen“ eine solche miterleben. Denn wie soll man das Leid dieser Welt ohne Liebe ertragen? Ich wüsste nicht wie. Es braucht wenigstens einen Menschen, der diese Gefühle in uns weckt. Dabei heißt es dann aber auch, sich selber nicht verlieren. Selena zeigt uns, wie schnell man sich als Frau verlieren könnte, wenn man den Vorstellungen von immer noch viel zu vielen Männern folgen würde und wie wichtig Obacht und das eigene Gespür sind.
Wie bei allen Büchern von Isabel Allende hatte ich auch bei diesem wieder das Gefühl, als lauschte ich den Erzählungen einer sehr weisen, alten, in einem Schaukelstuhl am Kamin sitzenden Frau. Ihre Erzählweise hat für mich etwas sehr Tröstendes und ich finde es geradezu phänomenal wie sie die Geschichte von Samuel hin zu Leticia und Anita spinnt, wie sie die Schicksale von diesen drei Menschen zusammen führt.
Die Figuren in Isabel Allendes Büchern haben Ecken und Kanten, sie sind menschlich, sie machen Fehler, sie lieben, sie leiden, sie trösten, sie trauern, sie helfen, sie fordern ein, sie entwickeln sich. Die Figuren haben für mich Größe und Tiefe, sie sind vielschichtig. Sie leben. Für mich macht jedes Buch von Isabel Allende, das Leben lebenswerter und reicher, gerade weil sie Themen anspricht, die viele ignorieren und nicht wahrhaben wollen. Oder können...

Bewertung vom 20.03.2024
Annas Lied
Koppel, Benjamin

Annas Lied


ausgezeichnet

Hannah wird 1921 in Kopenhagen geboren, sie ist das einzige Mädchen in einer jüdischen Familie mit 4 Jungen. Ihre Eltern flohen vor der Judenverfolgung aus Polen, ursprünglich wollten sie nach Amerika, sind aber nur bis Kopenhagen gekommen, da ihnen das Geld für eine Weiterreise fehlte. Hannah´s Vater Yitzhak arbeitet in seiner eigenen Schneiderei und Hannah´s Mutter Bruche kümmert sich um Haushalt und Familie. Drei von Hannah´s Brüdern leben von und für die Musik und auch ihr vierter Bruder würde das, wenn er nicht mit nur einer gesunden Hand geboren worden wäre. Hannah wächst mit Musik auf und schon in jungen Jahren steht für sie fest, dass sie Pianistin werden wird. Ein Leben ohne Musik ist für sie nicht denkbar. Doch ihre Mutter hat andere Pläne für ihre Tochter, Pläne mit denen sie Hannah psychisch und physisch unter Druck setzt, ihr droht und heftigst aufbegehrt sobald Hannah auch nur andeutet, dass sie ihren eigenen Weg gehen möchte...
Für mich ist „Annas Lied“ von Benjamin Koppel eines dieser ganz besonderen Bücher, die in mir eingezogen sind, denen ich einen gemütlichen Raum eingerichtet habe, den ich jederzeit betreten kann. Ein Herzensbuch, ein Seelenbuch.
Hannah, ihr Leben, ihr Schicksal, ihre Familie werde ich nicht wieder vergessen. Das Leben einer Frau, die von frühester Kindheit an den Traum hatte, Pianistin zu werden, die liebte, zu ihren Brüdern aufschaute, der das Gefühl vermittelt wurde, in einer großen sich um sie sorgenden und kümmernden Familie aufzuwachsen. Einer Frau, die sehr früh in ihrem Leben erfahren musste, dass für sie andere Regeln gelten als für ihre Brüder, dass sie viel weniger selbstbestimmt entscheiden und leben kann. Einer Frau die den zweiten Weltkrieg in Dänemark und Schweden erlebte, auf der Flucht. Die während dieser Zeit und ihr ganzes langes Leben liebte. Eine so innige Liebe, wie sie vielleicht nur wenige Menschen erleben dürfen. Eine Frau die an ihrem Schicksal nicht zerbrach, weil sie die Musik in ihrem Herzen trug. Dieses Buch ist unter anderem eine Liebeserklärung an die Musik. Sich selber spüren indem man Musik hört oder selber musiziert. Musik, welche die Wellen und Wogen des Lebens ein bisschen leichter ertragen lässt. Musik die einen mit Menschen verbindet, die man seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Musik als Sehnsucht nach einem anderen Leben. Musik als Fluchtmöglichkeit aus der Gegenwart. Musik die vergessen und träumen lässt. Hannah träumt viel, in der Nacht und auch am Tag, sie bewegt sich zwischen der Realität und ihren eigenen Traumbildern. Hätte sie ohne ihre Träume und ohne die Musik ihr Leben ertragen und aushalten können? Diese Frage hat sich mir während der Lektüre immer wieder gestellt. Was macht es mit einem Menschen, wenn man so viel, das einem alles bedeutet nicht leben kann und darf? Ich habe in Büchern selten eine so empathische Protagonistin erlebt, wie Hannah sie für mich ist. Sie sieht was andere nicht sehen, fühlt, was andere nicht fühlen, mit einem sehr großen Herzen und unendlichem Verständnis, schicksalsergeben. Hannah und ihre Freundin Elisabeth haben ihre Briefe aneinander mit „Liebe und Kunst“ unterschrieben. Vielleicht haben Liebe und Kunst Hannah am Leben gehalten?
Es gibt immer mehr Autoren und Autorinnen die zwar sehr gut schreiben können, im Grunde auch über interessante Themen, aber ich meine den Texten anmerken zu können, dass über etwas geschrieben wurde, fast ohne persönliche Beziehung, die Texte wirken kalt, konstruiert, so interessant manche Protagonisten auch sind, fühlen sie sich für mich nicht authentisch an, bleiben kalt und unnahbar. In „Annas Lied“ dagegen ist jeder Charakter der auftaucht ein Unikat, voller Leben in all seinen Facetten, lebendig, quirlig, ich meine die tiefe Verbundenheit des Autors Benjamin Koppel mit seinen Figuren zu spüren. Besonders am Ende des Romans, wo sich ein Kreis schließt, wo offen gebliebene Fragen Antworten finden, wo man spürt, dass ein Leben nie nur schwarz und weiß ist, sondern voll von den verschiedensten bunten Tönen, dass eine Seite auch immer eine Gegenseite hat.
Wer selber die Musik im Herzen trägt, wer sich für Lebensgeschichten und Familiengeschichten interessiert, wer gerne Romane liest die über einen langen Zeitraum wandeln, wer bei einem Roman tief empfinden möchte, der sollte darüber nachdenken, ob er „Annas Lied“ von Benjamin Koppel lesen möchte. Meine Empfehlung könnte inniger nicht sein.

Bewertung vom 17.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


ausgezeichnet

Ich habe ein neues Lieblingsbuch: „Wellness“ von Nathan Hill. Welch ein famoser Start in das Lesejahr 2024, zur Zeit kann ich mir kaum vorstellen, dass es dieses Jahr ein Buch geben wird, dass mich ähnlich begeistern könnte. Für mich ist „Wellness“ US amerikanische zeitgenössische Literatur der Spitzenklasse. Erzählt wird die Ehegeschichte von Jack und Elizabeth, die sich 1993 in Chicago kennenlernen. Bevor sie die ersten Wörter miteinander wechseln, beobachten sie sich gegenseitig wochenlang in ihren Wohnungen, ohne dass der andere etwas davon ahnt. Sie werden ein Paar. Elizabeth studiert Psychologie mit sehr vielen Nebenfächern und Jack widmet sich dem Fotografiestudium. Zusammen bewegen sie sich in Chicagos Kunstszene der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Doch nach und nach heiraten ihre Freunde, verlassen Chicago, werden sesshaft, gründen Familien. Wenn auch etwas später als ihre Freunde, heiraten Jack und Elizabeth, werden Eltern von Toby. Jack arbeitet an der Universität, ist Fotograf und Künstler. Elizabeth arbeitet bei Wellness, einer Praxis die sich dem Aufspüren und der Wirkungsweise von Placebos widmet. Während Jack mit seinem Leben zufrieden ist, beginnt Elizabeth zu hadern. Alles in ihr ruft nach Veränderungen. Es soll eine Traumwohnung in einem Vorort Chicagos sein, eine neue Schule für Toby, neue Freunde für sich und Jack, sexuelle Abenteuer, welche ihre Ehe beleben sollen. All das nimmt Fahrt auf und droht in einer Sackgasse zu enden...
„Wellness“ ist aber so viel mehr als nur die Geschichte einer Ehe. In verschiedenen Rückblicken begleiten wir Jack und Elizabeth durch ihr Leben, ihre Herkunft und erfahren, dass hinter beiden eine traumatische Kindheit liegt, deren Auswirkungen sich durch beider Leben ziehen und ihre Ehe stark beeinflussen. Man kann nicht vor dem fortlaufen, was einen geprägt hat, es holt einen immer wieder ein und irgendwann hat man kaum eine andere Wahl, als sich dem zu stellen. Jack und Elizabeth erleben das beide. Und ihre eigenen Unsicherheiten und Irrungen drohen sich auf ihren Sohn zu übertragen. Denn Elizabeth findet keine Sicherheit in ihrer Mutterrolle und orientiert sich an Studien zum Thema Kindererziehung, ohne sich bewusst zu sein, dass nicht jede Studie auf jedes Kind anwendbar ist. Ähnlich ist es mit den Lebensvorstellungen und Lebensentwürfen anderer Menschen, die Elizabeth versucht zu kopieren, in ihr Leben zu integrieren. Menschen die nach Außen hin glücklich und zufrieden wirken, die es zu gesellschaftlicher Anerkennung und finanzieller Sicherheit gebracht haben. Und doch ist all das vielleicht nur Schein. Wie so vieles in der gegenwärtigen Gesellschaft. Man strebt nach Selbstoptimierung, nach Perfektionismus, ohne sich selber zu kennen und droht darüber sich komplett zu verlieren.
Was und wie Nathan Hill erzählt ist für mich große Literatur. Er geht dorthin wo es schmerzt und noch ein Stück weiter. Es gibt Musikstücke, die dringen ohne Schranken ins Gehirn und lösen Emotionen aus, die man nicht ausgelöst haben möchte, Erinnerungen, Gedanken, Sequenzen, die hinter verschlossenen Türen bleiben sollen. „Wellness“ ist das literarische Gegenstück zu diesen Musikstücken. Auch kam es mir beim Lesen so vor, als betrachtete ich Rembrandts „Die Anatomie des Dr. Tulp“. Schicht für Schicht wird offen gelegt, was Elizabeth und Jack hat zu den Menschen werden lassen, die sie sind. Jacks Mutter und Elizabeths Vater werden mir in Erinnerung bleiben. Und ganz sicher in keiner guten. Es kommen Szenen in „Wellness“ vor, die tief bewegen, erschüttern und sehr viel erklären, die ans Existenzielle kratzen.
„Wellness“ zeigt auf, wie wichtig es ist miteinander zu reden und gleichzeitig wie schwer genau das in einer Zeit ist, in welcher die Menschen so starken äußeren Einflüssen und Manipulationen ausgesetzt sind, dass sie selber kaum noch wissen, wer sie sind, wer sie sein wollen und wer sie sein können.
„Wellness“ ist ein Eheroman, ein Gesellschaftsroman, vielleicht auch eine Art psychologischer Ratgeber, der tief empfinden lässt, dabei unterhält, lehrt und einen literarisch erfüllt.

Bewertung vom 20.11.2023
Das Gemälde
Brooks, Geraldine

Das Gemälde


ausgezeichnet

Theo, Sohn von Botschaftern, mit einer nigerianischen Großmutter, aufgewachsen in verschiedenen Ländern, unter anderem in Australien, Kunstgeschichtestudium in England, wohnt und arbeitet im Jahre 2019 in Washington DC. Der Mann seiner Nachbarin ist gestorben, er sieht, dass sie Hilfe beim Entrümpeln ihrer Wohnung braucht, er eilt zu ihr und darf sich als eine Art Belohnung etwas von dem aussuchen, dass sie auf den Sperrmüll gestellt hat. Theo wählt ein Gemälde mit einem Pferd.
Ebenfalls im Jahre 2019 arbeitet Jess als Präparatorin am Smithsonian und wird mit der Arbeit eines auf dem Dachboden vergessenen Pferdeskeletts beauftragt.
Jess und Theo´s Wege kreuzen sich.
Zurück im Jahre 1850 und von dort fortlaufend bis zum Jahre 1865 begleiten wir Jarret. Einen jungen Mann der die Sprache der Pferde mehr versteht, als die Sprache der Menschen. Er lebt mit den Pferden, betreut sie, ist daran beteiligt Pferde zu Rennpferden auszubilden. Während sich sein Vater selber aus der Sklaverei freigekauft hat, muss Jarret als menschlicher Besitz leben. Ebenfalls in der Zeit von 1850 bis 1865 begegnen wir immer mal wieder dem Maler Thomas J. Scott, der von verschiedenen Pferdebesitzern beauftragt wurde, ihre Pferde zu malen und über die Geschehnisse auf den verschiedenen Plantagen aus seiner Sicht berichtet...
„Das Gemälde“ ist ein Roman über den zu erzählen mir schwer fällt. Nicht weil er mir nicht gefallen hat, ganz im Gegenteil, sondern weil viel in dem Roman passiert, sehr viel was mir schwer fiel emotional zu greifen. Auf eine sehr nahe gehende Art, wie ich fand, wird erzählt, was Menschen den Tieren und anderen Menschen antun. Wie viel Leid manche Menschen und Tiere aushalten müssen. Wie viele Schrecken in der Vergangenheit liegen, die sich ihren Weg in die Gegenwart gebahnt haben. Welche Zufälle es geben kann und welche Wege sich wie und wann kreuzen. Und das manche Themen zwar in der Gegenwart sehr zentral sind und von einigen wenigen Menschen angegangen werden, das der Großteil der der Bevölkerung aber in alten Denkmustern verhangen bleibt. Rassismus ist hierbei ein sehr zentrales Thema und das Schicksal von Theo ist ungeheuerlich. Aber nicht nur Theo´s Schicksal sondern auch Jarret´s Lebensweg ist schwer. Und den Umständen entsprechend hat er noch Glück gehabt, im Vergleich zu vielen anderen seiner Weggefährten. Im Grunde zeigt „Das Gemälde“ auch auf, wie ungerecht das Leben ist und wie sehr der eigene Lebensweg von der Herkunft abhängig ist.
„Das Gemälde“ ist aber auch ein Plädoyer für die enge Verbundenheit die ein Mensch zu einem Tier oder mehreren Tieren haben kann, dass Tiere oft die besseren Vertrauten und Freunde sein können und das der Geist eines Tieres nicht unbedingt mit seinem Tod erloschen sein muss.
Die erzählte Geschichte ist intensiv, was auch mit an der Schreibweise der Autorin liegt. Es wird genau so viel beschrieben, dass die eigene Vorstellungskraft aktiviert wird und so ist man beim Lesen mit im Stall, spürt und riecht die Pferde, ist mit Jess bei der Arbeit und bekommt eine sehr genaue Vorstellung davon, was es bedeutet ein Tier zu präparieren, geht mit Jess durch ihr Labor und möchte manche Gerüche lieber nicht aufkommen lassen. Man wandelt durch eine Gemäldeausstellung und kann wieder in einer anderen Szene kaum die Spannung aushalten, die während eines Pferderennens aufgebaut wird, möchte das Leid der Tiere nicht miterleben.
„Das Gemälde“ von Geraldine Brooks ist für mich ein schwer verdauliches Buch, dass einige Probleme unserer Zeit wie auf einem Seziertisch präsentiert und das wieder einmal aufzeigt, dass man in die Vergangenheit zurück muss, um zu verstehen und verändern zu können und das Veränderungen fast immer mit Verstehen einhergehen.

Bewertung vom 28.10.2023
Der späte Ruhm der Mrs. Quinn
Ford, Olivia

Der späte Ruhm der Mrs. Quinn


ausgezeichnet

Seelenbalsam ist das erste Wort, dass mir zu dem Roman „Der späte Ruhm der Mrs. Quinn“ von Olivia Ford einfällt. Ich habe dieses Jahr das große Glück erleben dürfen, sehr viele, sehr gute Bücher zu lesen und mit Mrs. Quinn kommt ein weiteres dazu.
Jennifer Quinn ist 77 Jahre alt, seit fast 60 Jahren mit Bernhard verheiratet, sie lebt in England, in der Nähe von London und ist leidenschaftliche Bäckerin. Sie zaubert die wundervollsten Backwaren. Ihre Inspiration nimmt sie aus Familienrezepten, die sie ihr Leben lang begleitet haben. Dadurch fühlt sie sich mit den Menschen verbunden, die einst in ihrem Leben weilten.
Was kann in ihrem Alter noch passieren, außer Krankheit, Dahinscheiden, Alleinsein und Einsamkeit? Diese Frage stellt sich Mrs. Quinn immer häufiger. Als sie dann im Fernsehen eine berühmte Backshow sieht, beschließt sie, sich dort als Kandidatin zu bewerben. Heimlich. Und hat somit ein Geheimnis vor ihrem Mann Bernhard. Das zweite Geheimnis, dass sie vor ihm hat. Das erste seit Anbeginn ihrer Beziehung. Ein so großes Geheimnis, dass man sich als Leserin fragt, wie Mrs. Quinn 60 Jahre damit alleine leben konnte.
Mrs. Quinn wird zum Casting der Backshow eingeladen und die Geschehnisse nehmen ihren Lauf...
„Der späte Ruhm der Mrs. Quinn“ ist ein Buch, dass mich umschmeichelt hat. Ein so liebevolles Buch, voller tiefer Gefühle, Zuversicht und Liebe, ohne dabei kitschig oder klischeehaft zu sein. Beim Lesen fühlte ich einen Hefeteig unter meinen Fingern, sah eine Torte im Entstehen, roch das frisch aus dem Backofen kommende Brot, trank unzählige Tassen Tee mit Mrs. Quinn und ihrem Mann Bernhard. Ich begleitete Mrs. Quinn zum Casting, durchlitt mit ihr ihre Aufregung, lernte neue Menschen kennen, blieb mit Bernhard alleine zurück und stand morgens um 4 Uhr zusammen mit Mrs. Quinn in der Küche und lauschte den leisen Geräuschen der Küchengeräte. Dieses Buch ist ein Schatz an Bildhaftigkeit, an Liebe, Geborgenheit und Offenheit.
Was macht eine über Jahrzehnte anhaltende, lebhafte und einander zugewandte Ehe aus? Wie geht man mit einem lebensbeeinflussendem Geheimnis um? Wie entscheidet man, was man nie entscheiden sollte und vielleicht auch gar nicht kann? Wie geht man mit Liebe um, die nicht gelebt werden konnte? Antworten auf diese Fragen, kann man in Mrs. Quinns Leben finden. Aber dieses Buch ist noch so viel mehr. Es zeigt auf, dass man nicht aufhört zu leben, nur weil man ein bestimmtes Alter erreicht hat. Man hört nicht auf zu lieben, zu hoffen, zu fühlen, zu wünschen, zu planen, nur weil man plötzlich 70 Jahre und älter ist. Und nur weil man dieses Alter erreicht hat, bedeutet es nicht, dass man keine neuen Freundschaften mehr schließen kann, nichts mehr erleben sollte. Ich vermisse in unserer Gesellschaft sehr das Miteinander der Generationen. Ich habe so das Gefühl, als wenn jede Generation auf ihren Standpunkten pocht, auf ihren Erlebnissen und ihrem Erleben, dass fast nur noch ein Gegeneinander und viel zu selten ein Miteinander stattfindet. In Mrs. Quinn durfte ich erleben, dass es sehr wohl ein Miteinander geben kann und dass sich eine fast 80jährige Frau mit einem Anfang 20jährigen Mann anfreunden kann. Das ist für mich so ein Reichtum während des Lesens gewesen, dass dieses Gefühl nachwirkt und das hoffentlich noch sehr lange.
Die Nichte von Mrs. Quinn und ihrem Mann, stellt die Frage, wie eine Ehe über so einen langen Zeitraum halten kann. Die Antwort darauf fand ich liebenswert. Wenn man alle Aspekte und Themen dieses Romans unbeachtet ließe und sich nur dieser Frage widmen würde, wäre es schon Grund genug dieses Buch zu lesen. Nur alleine, dass in einem Roman eine langjährige Ehe dargestellt wird, dass die Protagonisten Menschen jenseits des 70. Lebensjahres sind, macht dieses Buch für mich zu etwas Besonderem. Alles in diesem Buch ist ein Miteinander, Harmonie und Liebe, ohne dabei die Widrigkeiten und Schwierigkeiten eines langen Lebens, einer langen Partnerschaft zu ignorieren, zu idealisieren oder schön zu reden. Gleichzeitig ist „Der späte Ruhm der Mrs. Quinn“ eine Lobpreisung auf das Backen, darauf, dass man sich durch Backrezepte miteinander verbunden fühlen kann, dass Familienrezepte einem eine Art Heimat geben können, eine Identität. Was besonders im Schluss des Romans erlebt werden kann.
Jennifer Quinn ist für mich eine sehr mutige und starke Frau, die aufzeigt, dass es auch im Alter noch möglich sein kann, etwas zu wagen und Abenteuer zu erleben. Leben bedeutet auch immer leiden, aber das Leiden kann durch die Liebe erträglich werden und vielleicht erträgt man dieses Leben tatsächlich nur, wenn man lieben kann...

Bewertung vom 09.09.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Es ist das Jahr 1996. Wenige Stunden nachdem Anja Reich mit ihrer Freundin Simone telefoniert hat, bringt sich Simone um. Jahrzehnte später begibt sich Anja Reich auf Simones Spuren, taucht tief in das Leben ihrer Freundin ein, versucht zu verstehen, warum sich Simone umgebracht hat. Sie setzt sich mit ihrer eigenen Beziehung zu Simone auseinander, geht der Frage ob sie hätte verhindern können, ob auch sie Schuld trifft. Anja Reichs Reise in Simones Leben beginnt mit dem Leben von Simones Eltern. Aufgewachsen im 2. Weltkrieg, Nachkriegskinder, der Vater in einem Ort in Mecklenburg Vorpommern, die Mutter in der Slowakei. Um zu verstehen, was in der Gegenwart geschieht, sollte man in die Vergangenheit gehen. Schritt für Schritt die Familiengeschichte verfolgen, wie sind die Eltern, die Großeltern aufgewachsen, welche Normen und Werte wurden ihnen vermittelt, in welcher Gesellschaftsform haben sie gelebt. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Anja Reich aufzeigt, darstellt, aber nicht wertet. Es wird viel Platz und Raum gelassen, für eigene Ansichten und vielleicht auch Interpretationen. Simone wächst in der DDR auf, zuerst in einem kleinen Ort in Mecklenburg Vorpommern, dann in Berlin. Ihre Eltern arbeiten beide als Ärzte, ihre Mutter als Zahnärztin, ihr Vater als Gynäkologe. Beide behandeln und untersuchen Simone. Der Leistungsdruck in dieser Familie ist hoch. Vielleicht würde man Eltern wie Simones heute als Helicopter-Eltern bezeichnen. Sie entscheiden für ihre Kinder, glauben zu wissen was für ihre Kinder das Beste sei, wollen Gefahren und Herausforderungen von ihren Kindern abhalten, wollen die bestmöglichen Startbedingungen für ihre Kinder. Das mag sich auf manche Kinder positiv wegweisend auswirken, auf andere beengend, einschüchternd, zu viel Druck mit dem nicht umgegangen werden kann. Bestens gemeint, mit katastrophalen Auswirkungen. Nicht immer tun Eltern ihren Kindern gut und nicht selten erkennen die Kinder das erst Jahrzehnte später. Wenn es vielleicht schon zu spät ist. Natürlich stellte sich mir beim Lesen immer wieder die Frage, wie sehr die Eltern Schuld an Simones Verhalten und ihrem Selbstmord trifft. Es gibt Szenen in diesem Buch, die haben mich tief erschüttert. Simones Schicksal hat mich tief erschüttert. Ihre ständige Suche, ihre Selbstzweifel, ihre Traurigkeit, ihre Ausgelassenheit, ihr Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Zuneigung und gleichzeitig die Unfähigkeit all das leben zu können. Trennungsangst, Verlustängste. Simone ist wenige Monate alt, als ihre Eltern sie in eine sogenannte Wochenkrippe geben. Man stelle sich vor, man gibt sein Baby in die Obhut fremder Menschen, nicht nur täglich für ein paar Stunden, sondern für Tage, für Wochen, lässt es fremd betreuen, darf es nicht sehen. DDR Kindererziehung, ein Thema für sich, dem meiner Meinung nach noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, zu wenig aufgearbeitet wurde.
Beim Lesen stellte sich mir immer wieder die Frage, wie wenig Simones Eltern ihre Tochter kannten. Und gleichzeitig tauchte die Frage auf, wie sehr man seine Nächsten überhaupt kennen kann, wenn man sich selber nicht kennengelernt hat, wenn man im eigenen Leben fremd ist, weil der eigene Weg vielleicht auch vorgeschrieben war, man nicht frei und selbstständig entscheiden konnte. Wie wenig man unter diesen Umständen erträgt, wenn das eigene Kind Unabhängigkeit zeigt, eigene Vorstellungen vom Leben entwickeln könnte, aufzeigt, was man selber nie hatte.
Dann die Nachwendezeit, Lebensmodelle zerbrechen, junge Menschen erleben nicht nur ihre eigene Unsicherheit, sondern auch die ihrer Eltern, das was einmal galt, gilt plötzlich nicht mehr, ein zart begonnenes Leben wird ausgebremst, muss neu gedacht werden. Wie oft kann in eine komplett falsche Richtung gedacht werden, wie oft ein komplett ungeeigneter Weg gegangen werden, von dem man dann nicht mehr loskommt? Auch Simone erlebt ähnliches. Dann die Frage, warum Menschen aus Simones Generation mehr oder weniger gut durch diese Nachwendezeit gekommen sind und andere wegbrachen, sich nicht wieder fangen konnten. Auch das wird in diesem Roman thematisiert.
Ich bin ehrlich, Simones Geschichte hat mich emotional überfordert und doch, oder gerade deswegen, hat mir dieses Buch auch sehr viel gegeben. Was auch an der Schreibweise von Anja Reich liegt. Sehr journalistisch, aber ohne emotionslos zu wirken. Diese Mischung von Auszügen aus Simones Tagebüchern, nacherzählte Interviews, Zitate von Experten zum Thema Borderline-Störung und Suizid, Statements von Psychologen bei denen Simone in Behandlung war, Aussagen von Simones Weggefährten, ihrem Bruder, ihren Eltern, hat dieser Geschichte für mich die nötige Distanz gegeben um sie überhaupt lesen zu können. Denn am Ende bringt sich eine junge Frau um, ein Leben wird ausgelöscht. Selbstmord eine freie Entscheidung oder beinahe ein zwangsläufiges Resultat des bis dahin gelebten Lebens?

Bewertung vom 01.08.2023
Kleine Storys über große Themen
Kuschik, Karin

Kleine Storys über große Themen


ausgezeichnet

Durch das eigene Leben mit mehr Leichtigkeit gehen, mit mehr Zuversicht, Gelassenheit und Optimismus. Selbst wenn man das als Grundeinstellung in sich trägt, gibt es immer wieder Phasen, in denen es schwer fällt seine eigenen Prioritäten und Überzeugungen zu leben. In solchen Phasen kann etwas Hilfe von Außen gut tun und das Buch „Kleine Storys über große Themen“ von Karin Kuschik kann eine solche Hilfe sein.
Das Buch ist klein und handlich, passt beinahe in eine Jackentasche, ganz sicher in eine Handtasche oder einen Rucksack, man kann es bei sich tragen und ganz nach Zeit und Belieben darin herum blättern und lesen. Ich habe es jetzt einmal relativ zügig gelesen, was die Autorin selber weniger empfiehlt. Sie rät dazu, sich jeden Tag eine kleine Story vorzunehmen. Dafür wäre ich auch. Liest man dieses Buch komplett, rauscht man durch, vieles zieht an einem vorbei, es hört sich vieles toll und super an, aber spätestens bei der übernächsten Story hat man schon wieder vergessen. Und ich denke mir, wenn man sich mit einem solchen Buch beschäftigt, so sollte doch etwas hängen bleiben und ideal wäre es, wenn man es positiv in seinen Alltag integrieren könnte.
In diesem Buch findet man kleine Anekdoten und Lebensweisheiten, Anregungen und fast so etwas wie eine kleine Lebenshilfe.
Es werden vier große Themen behandelt: Selbstführung, Wertschätzung, Abgrenzung und Leichtigkeit und jedes einzelne Thema wird in verschiedene Kapitel aufgeteilt.
Was ich bei der Lektüre dieses Buches sehr gut fand, dass man eigentlich nicht viel Zeit braucht um sich mit dem Buch zu beschäftigen. Jeden Tag ein paar Minuten zum Lesen einer Story und man hat die Möglichkeit gestärkter durch den Tag zu gehen. Vielleicht am bestens gleich morgens nach dem Aufwachen. So werde ich dieses Buch jetzt nochmals lesen.
Es sind Sätze wie: „Wer mich ärgert, bestimme immer noch ich.“, oder „...,du musst gar nichts persönlich nehmen, denn da redet gerade jemand einfach nur über sich.“ oder auch „Die beste Zeit ist immer jetzt. Allein schon weil es die Einzige ist.“, die inspirieren, die Perspektive verändern können, oder auch die eigene Einstellung. Manchmal hachelt man durch sein Leben, macht sich das Leben selber schwer, zergrübelt sich, wo es auch leichter sein könnte, wenn man nur einmal kurz innehält und einmal die Perspektive wechselt. Dieses Büchlein kann dabei helfen.
Natürlich darf man nicht zu viel von so einer Lektüre erwarten und dass sich im eigenen Leben grundsätzlich etwas ändert, nur weil man so ein Motivationsbuch liest, halte ich für einen Mythos, aber es kann inspirieren, wenn man sich darauf einlassen möchte. Wenn man dann auch noch fühlt was man liest, könnte ich mir den Gewinn dieser Lektüre noch ein bisschen größer vorstellen.
Die einzelnen Storys lesen sich leicht, sind leicht verständlich und nachvollziehbar und vielleicht sollte man sie mit einer ähnlich leichten Herangehensweise betrachten, ohne große Erwartungen. Ich denke mir bei solchen Büchern immer, dass sie mir schon geholfen haben, wenn ich auch nur einen einzigen Gedanken übernehmen kann und bei „Kleine Storys über große Themen“ ist das der Fall.

Bewertung vom 28.06.2023
Nicht ein Wort zu viel
Winkelmann, Andreas

Nicht ein Wort zu viel


ausgezeichnet

Wenn Ihr Rezensionen, eure Gedanken über gelesene Bücher aufschreibt und im Internet veröffentlicht, denkt ihr dann vorher darüber nach, welche Wirkung eure Zeilen auf den Autor, die Autorin dieser Bücher haben könnte? Wenn ihr Punktezahlen für Bücher vergebt, ist euch dann bewusst, dass ihr nicht nur dem Buch diese Zahl gebt, sondern dass hinter diesem Buch ein Mensch steht, der diese Zahl auf sich beziehen könnte? Es ist schon so etwas wie eine Macht, die man ausübt, wenn man Bücher bewertet. Es ist nicht verwunderlich, dass es Autoren und Autorinnen gibt, die sich durch Texte über ihre Bücher angegriffen fühlen. Im Grunde stellt man sich in der heutigen Zeit mit einem veröffentlichten Buch der Meute zum Fraß, macht sich zum Freiwild. Als schreibender Mensch macht man sich angreifbar, selbst dann wenn man nicht veröffentlicht, wenn man es lediglich Menschen in seinem näheren Umfeld erzählt. Noch immer gibt es viel zu viele Menschen, die Menschen mit Schreibambitionen belächeln, von denen man Sätze zu hören bekommt wie: „Das haben doch schon ganz andere versucht und sind gescheitert.“ oder „Such dir lieber einen richtigen Beruf.“ oder „Du denkst wohl du bist etwas Besseres nur weil du schreibst.“ Freigeist und Kreativität sind unserer Gesellschaft noch immer nicht anerkannt, man hat ordentlich und vernünftig arbeiten zu gehen, wählt am besten den Beruf den die Eltern einem vorschreiben, nur nicht ein klein wenig zur Seite schauen und sich anders orientieren. Kastendenken. Menschen die davon betroffen sind, leiden, sind unglücklich, verzweifelt, nicht selten suizidgefährdet.
In „Nicht ein Wort zu viel“ von Andreas Winkelmann, geht es unter anderem um solche Menschen. Bei denen es nur ein kleines Ereignis für die Initialzündung braucht. Auf der einen Seite stehen die Leser und Leserinnen, die in den Sozialen Medien ihre Meinung über Bücher veröffentlichen, deren Lebensinhalt und Lebenssinn die Bücher sind, oft zurück gezogen leben, mit ihren ganz eigenen Lebensherausforderungen. Auf der anderen Seite die Schreibenden, die schon veröffentlicht haben und sich von den Kritiken angegangen fühlen oder die bisher vergeblich versucht haben ein Buch zu veröffentlichen. Neid und Missgunst sind nicht weit. Dazu die ermittelnden Kommissare, die ebenfalls Lebenshürden überwinden wollen und müssen, die falsche Entscheidungen treffen, die Menschen sind und wie solche fühlen und handeln. In „Nicht ein Wort zu viel“ gilt es eine Mordserie zu beenden und aufzuklären mit Hilfe der Wörter. Es verschwinden Menschen, deren Überleben davon abhängt ob eine spannende Geschichte mit 5 Wörtern erzählt werden kann. Man stelle sich vor, welchen Druck es auf diejenigen ausübt, die diese Geschichte erzählen sollen und wie es sich auswirkt, wenn trotz einer Geschichte ein Mensch stirbt.
„Nicht ein Wort zu viel“ ist ein Thriller und gleichzeitig eine Darstellung über mögliche Auswirkungen von Einsamkeit, Verschmähung, verlorener Liebe, Freundschaft, falscher Entscheidungen. Es wird von Menschen erzählt, deren einziger Freundeskreis online zu finden ist, die sich nur online so akzeptiert fühlen wie sie sind, von zerbrochenen Eltern-Kind-Beziehungen, von Alkoholmissbrauch und wie er Familien zerstört.
Ich gebe zu, ich lese so gut wie keine zeitgenössischen Krimis und Thriller mehr, lediglich die Bücher von Andreas Winkelmann und Robert Galbraith. Und diese beiden Autoren lese ich, weil es mir so vorkommt, als stünde die Thriller- bzw. Kriminalhandlung nicht im Vordergrund, als ginge es vielmehr um Menschen und ihre Motive dieses oder jenes zu tun oder nicht zu tun, als bilde der Begriff Thriller nur den Rahmen und das Bild im Rahmen ist bunt und wimmelnd, überlappend, verworren und je länger man es anschaut, desto deutlicher wird, was dargestellt wurde. Als ich am Ende von „Nicht ein Wort zu viel“ ankam und sich mir das Gesamtbild erschloss, war ich von dem Erzähltempo und der Spannung außer Atem. Von mir aus bräuchte es keine Darstellung von irgendwelchen bestialischen Morden, ich brauche in Büchern kein Blut und auch keine Beschreibungen von Tatorten. Zum Glück halten sich diese Beschreibungen in diesem Thriller in Grenzen, wenn sie auch nicht ganz außer Acht gelassen wurden. Mir ist die Innendarstellung von Menschen wichtiger, als das was draußen zu sehen ist. Was ist im Leben eines Menschen geschehen, dass ihn zum Mörder hat werden lassen? Warum tickt ein Mensch in dieser oder jener Situation aus? Welche Prägung seines Umfeldes hat einen Menschen so werden lassen, wie er von anderen wahrgenommen wird? Das sind Fragen die mich interessieren und auf die ich in „Nicht ein Wort zu viel“ Antworten bekomme.

Bewertung vom 08.06.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

Gestern fragte mich eine Freundin ob ich das Buch „Blues Skies“ von T.C. Boyle gut fand. Ich überlegte und antwortete zögernd, dass ich nicht wisse ob ich es gut fand. Was nicht bedeutet, dass ich es schlecht fand, ganz im Gegenteil. Kann man ein Buch mit den Themen, mit welchen sich Blues Skies beschäftigt gut finden?
Im Grunde ist es ein Familienroman. Die Eltern und die beiden erwachsenen Kinder, eine junge Frau und ein junger Mann in den Zeiten der Klimakrise. T.C. Boyle greift voraus, die Handlung spielt in der Zukunft. Doch wie weit er voraus greift vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht weil man es nicht sagen kann, wann die Szenarien in diesem Roman zu unserem Alltag gehören werden. Die Gegenwart hat aber schon begonnen und wir jeden Tag diesen Szenarien ein Stück näher kommen.
Die Eltern leben in Kalifornien, ihr Sohn ebenfalls. Die Tochter lebt in Florida. Der eine Staat wird von Hochwasser, ständigem Sturm und Regen heimgesucht. Der andere Staat von Dürre, hohen Temperaturen, ständigen Bränden. In beiden Staaten leben die Bewohner in ständiger Angst ihr zu Hause zu verlieren. Durch ein Feuer oder durch das Wasser, den Sturm. Sie haben sich den Umständen entsprechend eingerichtet in ihrem neuen normalen Leben. Anstelle von Fleisch essen sie Insekten, anstelle mit einem Auto fahren sie mit einem Boot, es werden Nachbarn aufgenommen die ohne Obdach dastehen, man hat sich damit abgefunden, dass es manche Lebensmittel gar nicht mehr zu kaufen gibt, andere so teuer geworden sind, dass sie nicht mehr bezahlt werden können. Der Sohn dieser Familie predigt seit seiner frühen Kindheit besser auf die Natur zu achten, sie zu schonen, der Nerd, der Spinner und wird letztlich Biologe und erforscht Schmetterlinge. Doch was soll erforscht werden, wenn es plötzlich keine Schmetterlinge mehr gibt, dafür aber Zecken die sich in seinen Arm fressen und sein Leben mit einem Schlag verändern? Die Tochter lebt vor sich hin, in einem Haus, das dem Untergang geweiht ist, mit einem Leben, dass nicht so recht beginnen mag. Sie hangelt sich durch den Tag, möchte eine erfolgreiche Influencerin werden und auf der Suche nach einem Statement, kauft sie sich eine Python. Eine kleine niedliche Schlange, die nicht klein und niedlich bleiben wird. Die Teile ihres Lebens verschlingen wird, so wie die Zecken die Gesundheit ihres Bruders.
Die Eltern leben ihren Lebensabend, sie sind beide Mitte 60, der Vater hört auf als Arzt zu praktizieren, die Mutter züchtet Grillen, Heuschrecken, kocht, schwimmt, sorgt sich um die Kinder, die Zukunft. Es werden Hochzeiten gefeiert, Menschen sterben, Menschen werden geboren, es wird gestritten, sich wieder versöhnt, es wird die Liebe des Lebens gesucht, gefunden und wieder verloren. Alles so wie ein normales Leben. Nur das es nicht mehr das alte normale Leben ist, sondern das neue normale Leben. Das Leben in der Klimakrise.
Mich hat das Buch erschüttert und sehr beschäftigt. Die Unabwendbarkeit dessen was auf uns zukommen wird, was begonnen hat, was nicht mehr aufgehalten werden kann, die Ignoranz mancher Menschen, ihre Dummheit, ihr nicht verstehen wollen oder vielleicht auch nicht verstehen können. Wann wird bei uns ein neues normal beginnen? Schleichend wird es passieren, so dass wir es vielleicht gar nicht wirklich mitbekommen. So wie die Familie in „Blues Skies“ es nicht mitbekommen hat, nicht mitbekommen wollte, den einzigen verhöhnt hat, der es ahnte. Es ist die Normalität im Leben dieser Familie die mich beschäftigt. Das Leben wird gelebt. Egal ob bei 50 Grad im Schatten, ob das Haus abbrennt, das Haus untergeht, die Insekten tot vom Himmel fallen, ein Kind stirbt, es wird nach Karriere gegriffen, nach Anerkennung, man möchte Freunde beeindrucken, sich gut präsentieren. Alles so wie immer? Nur auf einer neuen Bühne.
T.C. Boyle ist bekannt für steile Spannungsbögen, für katastrophale Wendungen, beginne ich einen Roman von ihm, frage ich mich jedes Mal, wann beginnt die Katastrophe und welches Ausmaß wird sie haben. Dazu sein großartiger Erzählstil. Präzise, ohne wegzulassen. Ausschweifend ohne überbordend zu werden. Temporeich. Wie sehr gute Musik gehen die Texte von T.C. Boyle ohne Schranke ins Gehirn. Und das machen sie in meiner Welt zu einer Art Waffe, die einen verletzen kann, ohne dass man sich davor schützen kann. Schutz wäre, seine Bücher nicht zu lesen. Was für mich aber keine Option ist. So habe ich „Blue Skies“ mit Faszination gelesen, auch mit Ekel, mit Angst, mit Abscheu. Ja, dieser Roman legt Emotionen frei, auch welche die man lieber im verborgenen lassen würde. Aber macht das nicht gerade gute Literatur aus? Und kann man dann nicht vielleicht doch sagen, dass es ein gutes Buch ist?

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