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lust_auf_literatur

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Insgesamt 34 Bewertungen
Bewertung vom 26.01.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


sehr gut

Ein wunderbares und vielversprechendes Debüt!

„Kann es zwischen Eltern und Kindern so etwas wie Gerechtigkeit geben?“

Ich glaube, du und ich kennen die Antwort darauf. Beziehungen zwischen engen Blutsverwandten funktionieren selten nach den Gesetzten der Gerechtigkeit.

Felicitas Prokopetz taucht mit ihrem Roman tief in die komplexen Schichten der zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ein. Ihre Protagonistin Valerie, die sie in der Ich-Perspektive erzählen lässt, steckt mitten im schwierigen Abnabelungsprozess von ihrem doch sehr behüteten Sohn. Zusätzlich wird ihre Mutter, zu der sie ein schwieriges und belastetes Verhältnis hat sehr krank und braucht sie emotional an ihrer Seite.

Aber warum ist diese Beziehungen zur Mutter, so schwierig, so aufgeladen, so voller nicht ausgesprochenem Schmerz und gleichzeitig so wichtig?

Prokepetz geht zurück zu den Großmüttern von Valerie und wirft einen Blick auf deren Kämpfen und Lebensumstände. Sie mussten sich in einem engen System aus patriarchalen Rollenzuschreibungen und wirtschaftlicher Abhängigkeit behaupten und darum kämpfen, sich nicht darin zu verlieren. In dem generationenübergreifenden Portärt wird deutlich, wie sich der Blick auf Erziehung, Emanzipation und Ehe ändern und für Konflikte zwischen den Generationen sorgen kann.

Familie kann verletzend sein, tröstend, eine Heimat oder ein Trauma. Auf jeden Fall aber immer prägend.
Ich mochte den ersten Roman von Prokopetz sehr, er ist leicht im Stil, aber nicht trivial im Inhalt.
Ein wunderbares und vielversprechendes Debüt!

Bewertung vom 26.01.2024
Die Hexen von Cleftwater
Meyer, Margaret

Die Hexen von Cleftwater


sehr gut

Lesenswerter historischer Roman mit gesellschaftskritischen Ansätzen

“Die Hexen von Cleftwater” spielt in einem kleinem Dorf in England zur Zeit der Hexenverfolgungen des 17. Jahrhundert.

Meyers Protagonistin Martha ist stumm und arbeitet seit vielen Jahren als kräuterkundige Hebamme. In dem Haushalt, dem sie angehört, wird gleich zu Beginn des Romans eine junge Dienstmagd festgenommen und als Hexe angeklagt.
Immer mehr Frauen werden in dem kleinen Ort Cleftwater der Hexerei verdächtigt, denn der Hexenjäger ist vor Ort und vermutet einen Hexenzirkel.
Ich finde, auch wenn Meyer in erster Linie einen historischen Roman, der der Unterhaltung dienen soll, geschrieben hat, dass sie einige der gesellschaftlichen Wirkmechanismen der Hexenverfolgung deutlich herausarbeitet.
Die Verdächtigungen werden nicht wahllos ausgesprochen, sondern sie treffen vor allem Frauen, die am Rand stehen, ausgegrenzt sind, sich den Wünschen der Männer nicht in jeder Hinsicht fügen wollen.

Auch gefühlte Ungerechtigkeiten und Neid äußern sich diesen Anschuldigungen. Den Verdacht eine Hexe zu sein zu widerlegen ist quasi unmöglich und Folter und psychologischer Druck führen schnell zu vermeintlichen Geständnissen.

Auch Martha gerät bald unter Verdacht, was sie in einen Zwiespalt ihres Gewissens stürzt, denn was keiner weiß: Martha besitzt einen Aztmann, ein kleines Wachsfigürchen, dem magischen Kräfte zugesprochen werden….

Der Aztmann zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und Meyer nutzt das symbolträchtige Püppchen als Projektion für die Zweischneidigkeit des Glaubens und die Ambivalenz von Gut und Böse in uns Menschen.

Die in Meyers Roman enthaltene Geschichte ist zwar definitiv fiktiv und aus Gründen der Unterhaltung verdichtet und dramatisiert, basiert aber auf realen historischen Ereignissen und ist wie der Meyers Danksagung zu entnehmen ist, detailliert recherchiert.

Für mich war die „Die Hexen von Cleftwater“ ein emotional sehr mitreißender historischer Roman, dessen Andeutungen von feministischer Gesellschaftskritik für mich gerne noch deutlicher hätten ausfallen können. Die handlungsreicheren Szenen wirkten minimal zu wenig auserzählt und zu schnell geschnitten.

Diese kleineren Kritikpunkt minderten aber die erzählerische Sogwirkung nur minimal und ich möchte dir diesen äußerst fesselnden, historischen Pageturner gerne weiterempfehlen!

Bewertung vom 26.11.2023
Himmelfahrt
Binge, Nicholas

Himmelfahrt


gut

Für mich zu vorhersehbar und konventionell

»Sie müssen Himmelfahrt von Nicholas Binge lesen. Grusel der alten Schule. Ein wunderbarer Roman. Fünf-Sterne-Horror.« Stephen King

In der Kurzbeschreibung stand außerdem „innovativer Wissenschaftsthriller - zwischenmenschlich berührend“.

I mean, wer will das dann nicht lesen? Ich wollte selbstverständlich.
Allerdings muss ich sagen, meine hohen Erwartungen wurden enttäuscht. „Himmelfahrt“ war in meinen Augen bestenfalls konventionelle, nette Thrillerkost. Die versprochenen wissenschaftlichen und philosophischen Exkursionen empfand ich als oberflächlich und aufgesetzt.

Nun gut, Thriller sind nicht das Genre meiner größten Expertise, ich habe aber auch schon in diesem Genre für mich herausragende Romane gefunden, die mich sowohl unterhalten, intellektuell stimuliert, als auch berührt haben.

„Himmelfahrt“ folgt dem gängigen Drehbuch des Genres.
Ein lange verschollener Bruder wird nach 20 Jahren in einer stereotyp dargestellten Irrenanstalt wieder gefunden und in seinem Besitz einen Stapel Briefe.

„Niemand darf es lesen!“

Das sind die letzten Worten, bevor er sich anzündet.

Unnötig zu erwähnen, dass die Briefe dann natürlich die aufregende Geschichte des Bruder enthalten, die wir sehr wohl lesen.

Was folgt ist eine hollywoodreife Abenteuererzählung mit wissenschaftlich verbrämter Sci-Fi Ausrichtung, bei der die Figuren nach Rangordnung ihrer Wichtigkeit ausgelöscht werden. Das zwischenmenschliche Element wird mit einer Liebesgeschichte und einem tragischen Unfall in der Vergangenheit bedient.
Die absolute Vorhersehbarkeit des Plots finde ich schon ein bißchen ärgerlich, auch wenn ich sagen muss, dass Binge ein guter Erzähler ist.
Trotz des vorhersehbaren Plots fällt es mir vor allem anfangs leicht am Ball zu bleiben. Je näher jedoch der unausweichliche Gipfel der Handlung und des Berges rückt, desto mehr fällt bei mir die Spannungskurve ab, der erwartbare Showdown interessiert mich dann kaum noch.

Kurz: Für Thrillerleser:innen eine ansprechendes, aber konventionell erzähltes Abenteuer, das bei einer Verfilmung sicher Publikum ins Kino locken könnte. Bei mir überwog die Langeweile auf Grund der vorhersehbaren Handlung, Ärger über stereotype Darstellungen und mangelnder Tiefgang.

Bewertung vom 11.10.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


ausgezeichnet

The Revenant meets Stephen King „Das Mädchen“.

Soeben beendet und ich bin noch immer ganz ergriffen. Lauren Groff ist für mich (und nicht nur für mich) wahrlich eine der großen aktuellen amerikanischen Erzählerinnen!

Groff wählt diesmal die Zeit der amerikanischen Besiedlung im 17. Jahrhundert, um ihre Protagonistin durch tiefgreifenden inneren wie äußeren Wandel zu schicken.

Es ist ein namenloses Dienstmädchen, das aus einem Siedlerfort vor Hunger, Krankheit und Unterdrückung in die Wildnis davonläuft.

In der Wildnis warten ebenfalls Hunger und Krankheit auf sie, aber sie ist frei.
Doch das sind nicht die einzigen Gefahren…

“Die Welt, das wusste das Mädchen, war noch schlimmer als wild, die Welt war gleichgültig.
Es kümmerte sie nicht, was mit ihr geschah, es konnte sie nicht kümmern, nicht im Geringsten.
Sie war ein Sandkorn, ein Sprenkel, ein Flugstaub im Spiel des Windes.”

The Revenant meets Stephen King „Das Mädchen“.

In alter amerikanischer Erzähltradition des klassischen Abenteuerromans bedient sich Groff bei den Regeln des Genres und schafft gleichzeitig etwas komplett neues. In den Weiten der Wildnis und völlig auf sich allein gestellt, sind die Gedanken des Mädchens keiner Konvention und gesellschaftlichen oder religiösen Regeln mehr unterworfen. Immer mehr Glaubenssätze werden abgeworfen und das Mädchen streift ihren alten monotheistischen Gottesglauben genauso ab wie die letzten Kleider, die ihr noch aus dem kleinen, alten Leben geblieben sind.

Groff kombiniert die spannende, klassische Survival Geschichte des Mädchens mit ihrer inneren Entwicklungsgeschichte. Wobei mich die letztendliche Kernbotschaft am Ende des Romans sehr überrascht und auch persönlich berührt hat.

War in „Matrix“ und in „Licht und Zorn“ noch ein gewisser Hang zur Weitschweifigkeit zu erkennen, hat Groff ihren Stil in „Die weite Wildnis“ noch einmal verdichtet und das tut dem Spannungsbogen in meinen Augen sehr gut.

„Die weite Wildnis“ war für mich eine begeisternde und den Mensch in seiner Essenz erkennende Erzählung, die mich komplett fesselte.

Sehr, sehr lesenswert!

Bewertung vom 01.10.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


sehr gut

Intensive und sehr lesenswerte Introspektion einer Mutter-Tochter Beziehung
Während dieser 400 Seiten wollte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Das lag ebenso an der lockeren Textsetzung wie an dem Sog, den dieser Roman ausübt.

Eigentlich passiert nicht viel und doch läuft alles unaufhaltsam auf den einen Endpunkt zu.

Auf der äußeren Handlungsebene gibt es Johanna, die Ich-Erzählerin, eine ältere Künstlerin, die nach 30 Jahren in den USA in ihre norwegische Heimatstadt zurückgekehrt ist. Sie verließ damals zusammen mit einem anderen Mann ihre Ehe, ihre Familie und die Enge ihrer Herkunft um in den USA eine neues und anderes Leben zu beginnen. Mit ihrer Mutter verbindet sie seit der Kindheit ein sehr kompliziertes und schwieriges Verhältnis, das sie in ihrer Kunst in den USA verarbeitet. Das stößt beim Rest der Familie auf Unverständnis und Ablehnung und seitdem ist der Kontakt zur Mutter abgebrochen.

Auf der inneren Handlungsebene gibt es aber auch Johanna, in der, inzwischen selbst seit langem Mutter, noch immer das kleine verletzte Kind steckt, das sich nach der Nähe und der Liebe seiner Mutter sehnt.

Nach 30 Jahren wieder zurück in Norwegen drängen sich diese vergessen geglaubten Gefühle an die Oberfläche und die Erzählerin verstrickt sich zunehmend in Spekulationen über das Leben ihrer Mutter. Das obsessive Nachdenken über den Tagesablauf und die Beziehung der Mutter zu ihrer anderen Tochter Ruth nehmen sie immer mehr gefangen. Bald verfolgt, ja stalkt, sie ihre Mutter richtiggehend, ruft sie an, hofft auf eine zufällig Begegnung.

Doch die Mutter reagiert nicht und verweigert jede Kontaktaufnahme…

Vigdis Hjorth erforscht in ihrem introspektiven Roman dieses Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Gibt es ein Recht auf die Liebe einer Mutter?
Es rührt mich, wie diese lebenserfahrene Frau sich in ihrem Innersten noch immer nach der nie erreichten Liebe ihrer Mutter verzehrt. Wie sie an diesen nicht aufgearbeiteten Gefühlen leidet, ihr die Sicherheit entgleitet. Wie sie sich noch immer verletzten lässt.
Hjorth vermeidet dabei Pauschalisierungen und Schwarz-Weiß Malerei. Die Rolle der Bösen bleibt unbesetzt. Stattdessen zeigt sie die komplexen Ambivalenzen in dieser so wichtigen und usprünglichsten Verbindung zwischen Eltern und Kind.

Vor allem aber zeigt Hjorth, wieviel Macht diese Verbindung über uns haben kann, wenn wir es zulassen.

„Die Wahrheiten meiner Mutter“ war für mich ein großer, rauschhaft gelesener, intimer Roman, der für mich viele persönliche Berührungspunkte hatte. Hat mich bewegt und mir sehr gefallen!

Bewertung vom 11.09.2023
Die Lügnerin
Karig, Friedemann

Die Lügnerin


ausgezeichnet

Faszinierend, tiefgründig und unterhaltsam: toll!

Ja, cool, das war richtig gut!
Mochte ich sehr.

Glaubst Du an die Kraft der Suggestion? Horoskope? Placebo Effekt? Zaubertricks?Self-fulfilling prophecy? Wenn ja, wie weit reicht diese Kraft? Kannst Du mit der Kraft deines Glaubens Roulette Kugeln beeinflussen?
Sehr, sehr interessante Fragen, finde ich, die Friedemann Karig in seinem doppelbödigen und unterhaltsamen Roman in den Raum stellt.

Der Plot ist rasant und ich will euch nur einen kurzen Abriß geben, da es Teil des Spaßes ist, die Handlung zu entschlüsseln.
Das Setting mutet klassisch an. Eine Frau, die Ich-Ezählerin, befindet sich scheinbar in einem abgeschiedenen Institut und erzählt scheinbar einer Therapeutin aus ihrem Leben und von den Gründen ihres Aufenthalts.
Ich gebrauchte soeben zweimal das Wort „scheinbar“ und das hat seinen Grund, den die Erzählerin ist eine Lügnerin.
Und dabei lügt sie so gut, dass alles was sie erzählt, zur realen Wirklichkeit wird.

Genauso wie die Protagonistin ihr Umfeld manipuliert, werde ich als Leser*in von der Erzählung manipuliert und kann bald nicht mehr unterschieden, was der wahre Kern der Handlung ist. Doch das spielt letztendlich gar keine Rolle.
Es ist genau dieses Spiel mit Realität und Fiktion, mit Glaube und Wirklichkeit, mit Ursache und Wirkung, das diesen Roman für mich so spannend und so unterhaltsam macht.
Im Vorbeigehen lässt Karig subtile Gesellschaftskritik an sexisitschen und kapitatistischen Strukturen einfließen.

„Wenn du reich bist, existiert die ganze Welt nur für deine Wünsche. Ob du dafür bezahlst, ist am Ende egal.“

Auch hier stellt der Roman infrage, wieviele dieser Strukturen nur durch unseren Glauben daran aufrecht erhalten werden und ob sie individuell beeinflusst werden können. Fragen, die auch mich oft beschäftigen.

Die Themen, die in Karig in seinem unglaublich raffiniert konstruierten Roman auftauchen lässt, sind existenziell und universell. Sie betreffen letztendlich den Kern meiner Identität oder das was ich dafür halte.

„Aber unsere Identität sind nicht die Geschichten, die wir selbst erzählen. Sondern die, von denen wir glauben, dass andere sie sich über uns erzählen.“

Ich bin wirklich sehr überrascht, überwältigt und unterhalten von diesem Roman. Alle drei Zustände begrüße ich und suche ich beim Lesen von Literatur. Für mich war „Die Lügnerin“ wirklich ein besonderes und anspruchsvolles Vergnügen, dass ich an alle Lesende, die sich davon angesprochen fühlen, auf jeden Fall weiterempfehle!

Bewertung vom 08.09.2023
Kleine Probleme
Pollatschek, Nele

Kleine Probleme


weniger gut

Nicht mein Humor, nicht mein Buch

Nope, das war einfach nicht mein Buch. Ich bin auch selber dran schuld, eigentlich mag ich nämlich gar keine tragikomischen, humorvollen oder gar lustigen Bücher.
Nur manchmal gibt es sie eben doch, diese seltenen Ausnahmen. Das hier war keine.
Ich fand den Roman leider nicht nur nicht lustig, sondern leider langweilig, seicht und super trivial.

Die Handlung ist schnell zusammen gefasst. Ein Mann, 49, will am letzten Tag des Jahres einige Dinge auf einer Liste erledigen, die er schon viel zu lange vor sich herschiebt.

„Es war Freitag, der 31. Dezember, und ich musste noch was erledigen. Also alles.“

Natürlich gibt es dabei ein paar „kleine Probleme“, denn eigentlich gemeint ist, dass er sein Leben umkrempeln will. Der Erzähler hat in seinen Augen noch nichts Vorzeigbares erreicht und ist unfähig, die kleinsten Erledigungen ohne genauste Anweisungen seiner Frau Johanna zu erledigen.
Er ist angehender Schriftsteller, hat aber noch nicht mal eine brauchbare Idee. Das Geld verdient seine Frau als Lehrerin.

Dieser Typ ist mein wandelnder Gegensatz: ich habe zwar mein Leben im großen Stil nicht im Griff, ein Koreabett bekomme ich aber noch problemlos und zügig auf aufgebaut. Ohne Gaffa Tape.
Er hingegen führt seit vielen Jahren eine glückliche Ehe, seine Kinder sind fast erwachsen und er ist im großen und ganzen mit sich im Reinen, scheitert aber daran einen Kaffeefleck wegzuwischen.
Aber vielleicht ist das genau der Punkt …and I just don‘t get it.

Natürlich gehen mir auch sehr kritische, feministische Störgedanken durch den Kopf.

Mich langweilten die Beschreibungen der stümperhaft und mit kaum erträglicher Prokrastination vermischten trivialen Tätigkeiten sehr und die versprochenen philosophischen Gedanken lassen für mich schon sehr an Tiefgang vermissen.

Als Vorteil kann ich anrechnen, dass Pollatschek über einen wirklich schönen und eingängigen Schreibstil verfügt, so dass ich den Roman locker wegsnacken kann.
Ich kann mir gut vorstellen, dass andere Lesende einen liebenswerten und lesenswerten Roman mit Wohlfühlfaktor finden.
Und wem der Humor und der Stil gefällt, findet hier eine vielleicht eine herzerwärmende Story.
Ich fand das alles nicht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.09.2023
Nichts in den Pflanzen
Haddada, Nora

Nichts in den Pflanzen


gut

Eine ungewöhnliche und starke Erzählstimme, mir aber zu unfokussiert

Ach du sch…denke ich nach dem ersten Kapitel, als die Ich-Erzählerin die teure Zuchtkatze von Leon in der Regentonne ertränkt…
Das wird krasser Stuff, denke ich.

Der Roman ist erzähltechnisch auf zwei, nicht chronologisch ablaufenden, Zeitebenen angesiedelt und wechselt spontan zwischen den Beiden.
Haddada erzählt aus der Ich Perspektive. Ihr Protagonistin heißt Leila, ist Drehbuchschreiberin, und hat durch einiges Glück und Vitamin B einen lukrativen und erfolgsversprechenden Job an Land gezogen. Jetzt muss sie nur noch das Drehbuch leicht abändern und den Schluss schreiben…
Nur noch…und genau hier fangen die Probleme an.
Es scheint, als ist Leila diesem Druck nicht gewachsen. Immer wenn sie am Skript arbeiten will, tauchen merkwürdige schwarze Fliegen auf.
Sie stürzt sich in einem hedonistischen Exzess ins großstädtische Nachtleben und findet allerlei Ablenkungen

„Ich sollte gerade zu Hause sein und ein Ende schreiben, aber ich bin hier und saufe, und eigentlich saufe ich jeden Abend, und nie schreibe ich.“

Leila ist obsessiv besessen von ihrem Love Interest Leon. Eine weitere Vermeidungsstrategie oder Grund für ihre Schreibblockade? Und dann gibt es da auch noch den anderen Leon…
Währenddessen wächst der Druck vor dem Abgabetermin und die Konkurrenz ist groß.
Leilas Pläne einen Aufschub zu erwirken um am Drehbuch weiter zu arbeiten, nehmen ziemlich abgefahrene und abstruse Ausmaße an.

Das sind auch die Anteile, die mir gut gefallen. Die ausufernden Szenen und die krasse, schwer nachvollziehbare Ambivalenz der Protagonistin mag ich sehr. Unter dem zeitlich irrlichterndem Plot und den Leons gibt es eine tiefere Ebene, die interpretationsoffen entdeckt werden kann.
Auch sprachlich finde ich Haddadas Debüt ziemlich ansprechend, gelungen und angenehm anders.


Doch ingesamt hat “Nichts in den Pflanzen” für mich leider nicht gut funktioniert.
Ich denke schon, dass ich das grundlegende Thema erkennen konnte, irgendwas mit Prokrastination, Sinnsuche und das Haufischbecken des Erfolges. Kann aber auch sein, dass es um was anderes geht, denn es wird viel angeschnitten, aber für mich nicht ausreichend auserzählt. Ich fühlte mich im Plot etwas verloren und so kommt bei mir einige Langeweile auf. Hier hätte mir eine klarere Linie und stärkere Fokussierung geholfen.

Ich habe in den letzten Wochen sehr viele Debütromane gelesen, darunter einige äußerst herausragende. Dieser gehörte für mich persönlich nicht dazu, sondern reiht sich im guten Mittelfeld ein.

Bewertung vom 06.09.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


gut

Aktuelles und interessantes Thema, leider in der Umsetzung recht blaß

Irgendwie weiß ich gar nicht so recht, was ich zu diesem Roman sagen soll, außer dass er keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlässt und mich recht nichtssagend zurücklässt.

Dabei hörte sich das Thema so spannend und aktuell für mein eigenes Leben an.
Eine Frau, Mila, aus meiner Generation der Millenials, will sich nach und nach von ihrem digitalen Leben verabschieden. Der Grund dafür ist ihre gleichermaßen große Angst vor Exposure und Gecancelt werden. Auch die für immer nachverfolgbaren Spuren, die sie im Netz hinterlässt, machen ihr immer mehr Sorgen.
Mila nimmt sich sogar extra eine beruflich Auszeit („between jobs“) fängt an sich erst von Social Media Apps abzumelden, und konsumiert digitale Austeiger*innen You-Tube Channels.
Natürlich erschwert sich plötzlich jede Kommunikation und ihr soziales Netz schrumpft massiv, Mila kommuniziert mit immer weniger Menschen. Nach und nach will sie alle Spuren von sich aus dem Internet entfernen, was sich als langwierige Aufgabe herausstellt. Allmählich wird ihr auch klar, wieviele indirekte digitale Spuren und Daten sie ungewollt hinterlässt durch die Nutzung von Streaming und Online Diensten. Das alles will Mila aus Angst vor Rückverfolgung aus ihrem Leben entfernen.
Doch wie geht es ihr dabei? Wirklich besser? Was macht Mila mit der ganzen gewonnenen Zeit, wie vertreibt sie die Langeweile in ihrer Welt, die komplett digital vernetzt ist?

Ich schreibe hier bewusst „ihre Welt“, denn wo ich anfangs dachte ich hätte mit der Figur auf Grund meines Alters und meiner Social Media Nutzung einige Gemeinsamkeiten mit der Erzählerin, wird mir schnell klar, dass meine Welt doch eine andere ist.
Habe ich Sorge, meine Social Media Nutzung ist übertrieben? Ja, durchaus. Habe ich Sorgen im Netz bloßgestellt oder gecancelt zu werden? Eher nicht. Ganz einfach, weil mein Leben nicht in der Form digital abläuft, wie das der Erzählerin.
Die grundlegende Frage des Romans, nämlich wie wir frei sein können, stellt sich so in dieser Form gar nicht und wird mir für Mila zu kurz oder gar nicht beantwortet.
Die Frage könnte in Milas Geschichte oder ganz universell lauten: was gibt meinem Leben Inhalt und Sinn, unabhängig von digitalen Medien und Internet, die letztendlich auch nur Werkzeuge sind, die wir als solche begreifen und nutzten können oder nicht.

Ich konnte mich letztendlich doch nur wenig mit der Erzählerin identifizieren und konnte auch keine gesellschaftskritischen Aspekte ausmachen, die mich nachdenklich gemacht hätten. Eine tiefere Auseinandersetzung mit den vielen Fragen, die sich gerade beim digitalen Datenschutz stellen, fand mir zu wenig statt.
Ich mochte die kleine Zeitreise ein paar Jahre zurück in die Corona Zeit und die Erwähnungen einiger damaliger Phänomene hatte durchaus seinen Reiz und ist sehr zeitgeistig. Auch sprachlich ist der Roman sehr schön, wenn auch nicht herausragend gearbeitet.
Ansonsten bleibt mir der Roman einfach zu blaß und undefiniert und wird bei mir nur als mittelmäßig im Gedächtnis abgespeichert werden.

Bewertung vom 01.09.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


sehr gut

Erinnerungen an Simone: eine Spurensuche

Anja Reich ist Journalistin und Autorin. In ihrem neuen Roman “Simone” verarbeitet sie autobiografisch den Selbstmord ihrer gleichnamigen Freundin.

Wie so oft steht an erster Stelle die unvermeidliche Frage nach dem Warum.

“Wir brauchen einen Sündenbock, einen Grund, eine Erklärung, versuchen zu verstehen, was wir nicht verstehen können, um selbst weiterleben zu können.”

Zusätzlich quält sich Reich mit starken Schuldgefühlen, denn Simone hat vor ihrem Suizid telefonisch versucht ihrer langjährigen Freundin etwas wichtiges anzuvertrauen.

„Simone“ ist mehr als der Versuch einer Analyse einer unbegreiflichen Tat. Reich skizziert und analysiert während ihrer Recherche das komplette, wenn auch kurze, Leben Simones.
Können bereits in kurz nach der Geburt Anzeichen entdeckt werden, die auf dem späteren Suizid Simones hindeuten?

Als Baby kam Simone in eine DDR-typische Wochenkrippe, von denen man heute weiß, dass sie das Bindungsverhalten für immer schädigen können.

“Trennung von Menschen, die ihr viel bedeuteten, warfen sie aus der Bahn, riefen Angst in ihr hervor”

Beide Mädchen werden im DDR-System groß und freunden sich an. Reich kommt für eine Weile mit Simones Bruder zusammen.

Dann der Mauerfall. Euphorie.

Aber es ist auch ein großer Umbruch, den einige nicht gut verkraften. Und Simone? Wie hat sie den Systemwechsel erlebt?

Während Reich beruflich Fuß fast und eine Familie gründet, ist Simone Dauerstudentin, hat Wechselnde Männerbekanntschaft. Aber immer die falschen, nicht verfügbaren Männer.
Wünscht sich Bindung und Nähe, aber hält sie nicht aus.

Das besondere an Reichs Recherchen sind neben dem bewegenden individuellen Leben von Simone, das sie sehr sensible beleuchtet, die gesellschaftlichspolitische Dimension, die immer mit einfließt.

So thematisiert Reich den Selbstmord als großes gesellschaftliches Tabu, das immer noch oft ausgeblendet oder verschwiegen wird.

Diese Mischung Spurensuche, Tagebüchern und Gespräche mit Angehörigen und Expert*innen macht den Roman für mich äußerst lesenswert. Emotional ergreifen mich vor allem die Enthüllungen der letzten Lebensjahre von Simone, die nicht glücklich, sondern von verzweifelter Suche nach Nähe geprägt sind.
Auch ich frage mich, ob Simones Leben anders verlaufen wäre, wenn manche Umstände vielleicht anders gewesen wären.

Diese Fragen können und werden nie beantwortet werden. Was Reich aber mit ihrem Roman erschafft ist etwas Bleibendes: es eine Erinnerung an eine verlorenen Freundin, Schwester und Tochter. Die Erinnerung an Simone.