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Benutzername: 
galaxaura
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 32 Bewertungen
Bewertung vom 11.07.2024
Yrsa. Journey of Fate / Yrsa - Eine Wikingerin Bd.1
Bröhm, Alexandra

Yrsa. Journey of Fate / Yrsa - Eine Wikingerin Bd.1


ausgezeichnet

Antrag auf Verlängerung ist gestellt!

„Yrsa – Journey of Fate“, der Auftakt zu einer Dilogie um die junge Wikingerin Yrsa aus der Feder von Alexandra Bröhm, erschienen im Ullstein Verlag, begeistert zunächst durch eine wirklich wunderschöne Covergestaltung mit goldenen Prachtmotiven und Verzierungen auf pinkem Hintergrund. Bei dem knapp 600 Seiten dicken Buch wurde nicht an der Papierqualität gespart, es liegt gut in der Hand und blättert sich angenehm. Der Trend, dass deutschsprachige Autor:innen ihren Büchern englische Titel geben, ist nicht wirklich meiner, ich will dann immer auf den ersten Blick eine englische Ausgabe bestellen. Aber geschenkt, denn:
Mit „Yrsa“ legt Bröhm einen richtig guten Schmöker vor, der sich vorm Kamin ganz sicher genauso gut macht wie im Strandkorb. Die junge Wikingerin Yrsa, die ein eher unangepasstes Leben führt und davon träumt, als Kämpferin die Meere zu bereisen, begibt sich darin auf die Suche nach ihrem Bruder Sjalfi, der entführt wurde und erlebt auf dem Weg so viel Abenteuer, wie nur in 600 Seiten passen kann. Mehr zur Story will ich nicht verraten, denn es macht einfach viel zu viel Freude Yrsa auf ihrem Weg zu folgen. Ich habe das Buch verschlungen, es trifft genau die richtige Dosis an Spannung, wirklich gut geschriebener Slowburn-Romance, gemeinen Verwicklungen und Intrigen, lang gehegten Geheimnissen, Mystik und Magie, Historie und Plot-twists. Bröhm ist hier ein Pageturner gelungen, sie schreibt atmosphärisch stark und erfindet lebendige Charaktere, sie webt viel gut recherchiertes Wissen um die Wikingerzeit ein, ohne dass das je aufträgt und der Spannungsbogen trägt bis zum letzten Moment. Dabei schafft sie eine abgeschlossene Handlung, obwohl der Band zu einer Dilogie gehört, und dafür kann ich ihr gar nicht genug danken, denn auf den nächsten Band müssen wir nun leider ein Jahr warten. Das ist bitter, denn ich würde gerne direkt weiter suchten! Die rebellische Yrsa ist mir ans Herz gewachsen. So sehr, dass ich finde, eine Dilogie ist doch ein bisschen wenig? Kann man da noch was machen?
Einen Bonusstern würde ich gerne für das Nachwort vergeben können – dieses ist wirklich ganz besonders gelungen. Bröhm gibt dort eine umfängliche Einordnung ihres Schreibens in den historischen Kontext, und das liest sich noch einmal genau so spannend wie das ganze Buch. Dabei lässt sie auch die dunklen Themen wie Sklaverei (die es im Norden Europas auch gab, was vielen nicht bekannt ist) und Rassismus nicht außen vor. Ein solches Nachwort würde ich mir für jeden historischen Roman wünschen!
Alexandra Bröhm schreibt am Ende ihrer Danksagung, falls das Buch gute Unterhaltung und eine spannende Reise in die Vergangenheit böte, würde sie das sehr glücklich machen. Sie muss sehr sehr sehr sehr sehr glücklich sein. Holt euch den Schinken! Dann werdet ihr es auch.

Bewertung vom 08.07.2024
Die Farbe der Sterne
Briggs, Curtis;Lukschy, Stefan

Die Farbe der Sterne


schlecht

Kein Stern am Buchhimmel

„Die Farbe der Sterne“, in Co-Autorenschaft geschrieben von Curtis Briggs und Stefan Lukschy, erschienen im Langen Müller Verlag, erkämpft sich leider einen der Spitzenplätze auf meiner Fail-Liste 2024. Vom Verlag angepriesen als „turbulente, romantische Krimi-Komödie“ habe ich in diesem Buch weder Krimi noch Komödie finden können, stattdessen nur wirklich himmelschreiend schlecht gemachten Klamauk und das bittere Gefühl, dass sich hier zwei weiße alte Männer beim Plotting zu viel Rotwein reingedengelt haben... Warum nicht zumindest der durchaus renommierte LM Verlag beim Querlesen dann ernüchtert die Reißleine gezogen hat, bleibt mir ein Rätsel.

Die Geschichte, um die es geht, ist schnell umrissen:
Leo Sailer erbt das marode, bankrotte Grand Hotel Seeblick am Kochelsee und stößt dort auf die von seinem Vater beauftragte Generalbevollmächtigte Julia Dehne, diese will den Kasten verkaufen (und ihre Provision einheimsen), er möchte den Laden renovieren und behalten. Sie ist Großstadtmensch und Bergretterin (warum auch immer), er Klaustrophobiker mit Höhenangst, der Konflikt ist vorprogrammiert. Damit ein Kunstkrimi draus werden kann, wird ein verschollener Kandinsky entdeckt, und damit es verwirrend werden kann, gibt es eine gute Kopie davon. On Top jede Menge strunzdumme Gangster und Knallchargen-Nebenfiguren, ein menschlich denkender Marder, der ohne jeden Sinn durch die Handlung rennt, jede Menge wirklich plumpe Erotikanbahnung, Vollzug inklusive, und extraviele Wendungen, die alle demselben Prinzip folgen und so vorhersehbar sind wie die Tagesschau. Auf dem Höhepunkt müssen die Autoren sich auch noch selbst als Autoren einschalten, erneut, wir ahnen es, völlig sinnfrei, aber bestimmt haben die Herren sich furchtbar modern dabei gefühlt und wechseln deshalb auch noch kurz in eine Drehbuchszene, einfach weil MANN es kann – und es muss ja auch noch gezeigt werden, dass MANN auch als Drehbuchschreiber unterwegs ist.
Das alles ist so himmelsschreiend furchtbar, dass ich sehr viel Disziplin aufwenden musste, um mich durch das Buch zu quälen.
Zwei kleine Lichtblicke:
1. Das Cover, eine sehr gemäldeartige Darstellung des Hotels am See mit dem Himmel darüber, auch gut, dass hier nicht versucht wurde, Kandinskys Stil zu kopieren. Die schön leuchtenden Farben schaffen eine harmonische Atmosphäre. Und das Hotel selbst erstrahlt wie ein kleines Juwel. Darunter ein zugegeben eher nichtssagendes Hardtop in Blau, da stört mich irgendwie dann auch der Kasten um den Schriftzug, wirkt so sachbuchartig. Die Papierqualität ist gut, liegt angenehm in der Hand. Der Klappentext ist gut gemacht, er verrät nicht zu viel.
2. Immer wieder gibt es im Buch historische Rückblicke, diese sind wirklich alle sehr ansprechend geschrieben. Wäre das ganze Buch so, ich hätte deutlich mehr Leselust!

Von den vielbeschriebenen Sternen am Himmel über dem Kochelsee kann ich also leider nur einen Anerkennungsstern für die zwei Lichtblicke vergeben. Aber so bleiben ja mehr für das Kandinskybild. Am Kochelsee gibt es übrigens mit dem Franz Marc Museum ein sehr schönes kleines Museum zum Blauen Reiter. Investiert das Geld in einen Besuch dort, das lohnt sich eher.

Bewertung vom 02.07.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


ausgezeichnet

Wo sind die 6 Sterne, wenn mensch sie braucht?

Achtung: Dieses Buch macht lesende Menschen erst unendlich glücklich und stürzt sie dann in eine tiefe Depression, denn leider ist es endlich und nach der letzten Seite stellt sich drängend die Frage: Was nun? Wie kann es ein lesendes Leben nach diesem Buch geben?
„Man sieht sich“ von Julia Karnick ist seltenes Leseereignis, ein Buch, das sich von der ersten Seite an anfühlt wie diese eine Person, die mensch so unglaublich liebt, und von der doch klar ist, dass sie nicht für immer leben wird, weshalb die Angst verlassen zu werden jede Sekunde mitschwebt. Ein Buch so intensiv, wie ich lange keines gelesen habe, so ehrlich, so berührend, so klar und brutal realistisch, so liebend, so voller Sehnsucht und einfach so gigantisch toll geschrieben, dass ich wirklich in eine Leere gestürzt bin nach der letzten Seite und bis dahin wie in einem Rausch durchgeflogen bin. Karnick ist hier dieser Wurf gelungen, an dem ich einfach nichts zu kritisieren finde. Könnte ich mein Gehirn resetten, ich würde es sofort tun, um noch einmal von vorn beginnen zu können.
Die Geschichte, um die es geht, ist schnell umrissen:
Robert und Frie lernen sich im Teenageralter kennen und von Anfang an haben sie eine ganz besondere Beziehung zueinander. Über ein Leben lang ist diese geprägt von einer großen Anziehung und doch finden diese zwei Seelen einfach nicht in Ruhe zueinander. Das Erwachsenwerden führt beide immer wieder aneinander vorbei – und dennoch reißt das Band nie ab.
Das klingt profan, das klingt nach einem Buch, das mensch schon tausend Mal in den Händen hatte – aber weit gefehlt. Karnick schreibt emotional stark, sie ist sehr gut darin, Momenten mit viel Gefühl eine Sprache zu geben, die berührt, aber nie kitschig oder überfrachtet wird. Sowieso beweist sie ein gutes Gefühl für Schlüsselmomente und Dramaturgie, wählt auch ihre szenischen Orte sehr klug aus. Sie ist Meisterin der gut gewählten Auslassung, vieles wird nicht erzählt, genau dort, wo die Neugier auf dem Höhepunkt ist, vieles erzählt sich eher durch gelebte Konsequenz im nächsten Lebensabschnitt. Die Figuren sind bis in die Nebenfiguren toll gezeichnet. Eine ebensolche, der Herr Selk, hat mir zutiefst das Herz gebrochen, und ich werde ihn nie vergessen. Die Figuren rücken einem so nahe, dass es sich anfühlt, als wären sie Teil des eigenen Lebens. Keine Ahnung, wie Karnick das macht, aber sie macht es! Immer wieder findet Karnick ganz tolle Formulierungen: „Man flog nicht ans Ende der Welt, um in Gedanken ständig zu Hause zu sein“, „Er kriegte nie genug von Frie und hatte sie deswegen so satt“. Und, ohne inhaltlich zu spoilern: Der vierte Abschnitt des Buches hat mich einfach vernichtet. Dabei bleibt Karnick immer ehrlich, immer real, auf eine schonungslose Art erzählt sie das Leben, wie das Leben ist und das lässt die Lesenden verzweifeln. Wie sehr wollte ich die Figuren schütteln und zueinander schieben. Einmal Gott spielen dürfen. Sie ins Glück zwingen. Es war kaum auszuhalten. Aber auf die bestmögliche Art.
Also wo sind die 6 Sterne, wenn mensch sie braucht? Diesem Buch nur 5 geben zu können, fühlt sich völlig falsch an. Ganz schnell in den Buchladen rennen. Am besten gleich drei mitnehmen. Eure Freund:innen müssen das auch lesen. Ich muss jetzt noch ein bisschen den Trennungsschmerz verarbeiten und weinen. Dann geh ich mal auf Buchtinder schauen, ob es doch noch ein neues Match geben kann. Wird schwierig.

Bewertung vom 28.06.2024
Die geheimnisvolle Freundin
Baldelli, Simona

Die geheimnisvolle Freundin


gut

Hätte hätte Fahrradkette – wenn Buch und Beschreibung nichts miteinander zu tun haben

„Die geheimnisvolle Freundin“ von Simona Baldelli, die mit „Die Rebellion der Alfonsina Strada“ ja schon einen starken Frauenroman abgeliefert hat, ist ein Buch, das eventuell schlicht an seiner Übersetzung und der Marketingstrategie des Eichborn Verlags scheitert. Angekündigt als bewegende Geschichte zweier gleichaltriger Freundinnen, deren Vertrauensverhältnis von einem dramatischen Missverständnis erschüttert wird, gibt dieses Buch jedem Menschen, der eben diese Geschichte in ihm sucht, bis zum Ende Rätsel auf. Und auch wenn der Originaltitel „Il pozzo delle bambole“ den Inhalt auch nicht viel besser greift, so ist er doch zumindest ein wenig näher dran.

Die Aufmachung des Buches gefällt mir richtig gut, das Papier von Schutzumschlag und Innenleben fasst sich gut an, die Schwarzweiß-Fotografie hatte mich eh direkt angesprochen, weil sie so viel Wärme ausstrahlt, ohne sich eines Sepiatons zu bedienen, den stärkeren Beerenton des festen Einbands im Verhältnis zum Altrosa und Grau des Covers find ich auch sehr gelungen.
Der Einstieg ins Buch ist sehr gut geglückt. Die Atmosphäre des Waisenhauses, in dem die kleine Nina, die wir beim Aufwachsen begleiten werden im Verlauf der Geschichte, als Findelkind aufwächst, kommt sehr gut rüber, auch spürt mensch sofort, dass in Nina eine besondere Stärke wohnt, die sie einzigartig macht unter den vielen Kinder. Die Sprache ist stark und sehr atmosphärisch, tolle Sprachbilder, immer wieder, ohne zu übertreiben. Der Fokus liegt in einer guten Art auf der zu erzählenden Geschichte. Und über allem dräut die katholische Moral. Baldelli schafft es grundsätzlich sehr gut, im Schreiben mit einem kindlichen Blick auf die Welt zu schauen und die Wahrnehmung einer Viereinhalbjährigen zu treffen. Wir schauen auf Ninas Existenz, wie Nina selbst schaut. Dabei ging es mir allerdings oft so, dass ich die Gespräche, die mit ihr geführt werden, so nicht glaubhaft finde, gemessen an ihrem Alter. Nina lernt bald ein neues Mädchen im Waisenhaus kennen, Lucia, und diese soll wohl die geheimnisvolle Freundin des Titels sein. Nur, ohne zu viel zu spoilern, ist von Freundschaft hier nichts zu finden, stattdessen beobachten wir eine schwer toxische Beziehung mit hochmanipulativem Charakter.
Formal springt Baldelli immer wieder in die Zukunft, zu einer erwachsenen Nina, ohne diese Wechsel weiter zu kennzeichnen. Je weiter das Buch voranschreitet, desto mehr Anteil übernimmt das erwachsene Leben. In der ersten Hälfte dominiert das Leben im Waisenhaus. In diesem hofft Nina sehr darauf, adoptiert zu werden und so der Einsamkeit zu entkommen, doch sie wird immer wieder enttäuscht. Als sich endlich die Chance für sie auftut, trifft sie eine folgenschwere Entscheidung.
Später, im Erwachsenenleben, arbeitet Nina in einer Tabakfabrik, in der die dort angestellten Frauen zu einem Streik aufrufen, als sich die Arbeitsbedingungen einschneidend verändern und eine Kündigungswelle droht. Die Geschichte des Streiks der Tabacchine hat mich ehrlich gesagt sehr viel mehr interessiert als die Geschichte von Nina und Lucia. Für mich hätte der Roman sich vor allem damit befassen können, im Nachwort wird deutlich, dass die Autorin sich vor allem für dieses Thema und das Waisenhaus interessiert. Wofür es also diese aufgepfropfte Freundinnenhandlung braucht, erschließt sich mir nicht. Denkt die Autorin, so mehr Leser:innen zu erreichen? Von der Idee her möglich, dann muss es aber auch gut gemacht sein. Mit dem Protest um die Tabakfabrik vermischt die Autorin Wahrheit und Fiktion und verbindet reale Zeitgeschichte mit Ninas Leben, ohne dabei allerdings sehr auf die politische und wirtschaftliche Situation in Italien oder die Rolle der Frau einzugehen. Statt hier nun konsequent den Weg der sich selbst ermächtigenden Frauen und Ninas Anteil daran weiter zu verfolgen, lässt die Autorin auf einmal Lucia im letzten Teil des Buches wieder auftauchen, eines Tages steht sie vor der Fabrik. Die dann folgende Annäherung (ohne Missverständnis, dieses konnte ich bis zum Schluss nicht auffinden) ist leider absolut unglaubwürdig und vollkommen übers Knie gebrochen! Ein Pseudo-Happy-End aus dem Nichts, nachdem es zuvor eigentlich keinen stringenten Plot gab und sich fast nichts aus der Beschreibung des Klappentextes wiederfinden lässt im Buch. Einfach schade, es gibt so viel gute Ansätze in dem Roman. Ich habe in letzter Zeit leider oft das Gefühl, dass Autor:innen eigentlich gute Konzepte und Ideen haben, die dann aufgeweicht werden, um mehr Auflage und Reichweite zu erlangen. Das Ergebnis ist dann, so wie hier, ein mittelmäßiges Buch. Wirklich sehr schade. Das hätte so ein spannendes Buch über Solidarität und die Kraft von Frauen werden können, was Simona Baldelli glaube ich auch viel mehr liegt.
Vom Cover lächeln uns zwei junge Frauen entgegen. Diese Frauen habe ich im Innenleben des Covers leider nie kennengelernt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.06.2024
VIEWS
Kling, Marc-Uwe

VIEWS


ausgezeichnet

Eine Million Likes für dieses Buch

„Views“ von Marc-Uwe Kling wird, das prognostiziere ich jetzt, in der Mitte des Jahres, ziemlich sicher auch am Ende des Jahres noch in meinen Top Ten Leseerlebnissen 2024 zu finden sein. Das liegt nicht nur an Klings unglaublich guter Schreibe, sondern vor allem an einer bestechenden inhaltlichen Grundidee, die viel zu viel Realität beinhaltet. Doch fangen wir vorn an: Bei der Aufmachung. Views kommt mit festem Pappkartoneinband, einem wirklich schreiend pinken Buchrücken und Innencover und einem Nicht-Bild auf der Front und dem typischen Zeichen für sensible Inhalte, und was soll ich sagen: Ich find das richtig nice! Fasst sich gut an, sieht im Bücherregal Knaller aus und bildet sowohl den Inhalt als auch die Gier nach Aufmerksamkeit und Likes perfekt ab.
Der Inhalt ist schnell geteased: Die 16-jährige Lena Palmer verschwindet und Tage später taucht ein verstörendes Video von ihr auf, das rasant viral geht. BKA-Kommissarin Yasira Saad soll den Fall lösen und gerät in einen Strudel aus Verschwörung, identitärer Gruppierungen, Cyberwelt und KI. Und nicht nur das Ende des Buches zieht der lesenden Person den Boden unter den Füßen weg.
Kling schafft es, in diesem Buch so ziemlich alles unterzubringen, was ihn an unserer Welt gerade stört: Und das ist viel. ABER, und das ist der Hype, das macht ihn so genial: Das trägt überhaupt nicht auf. Alles ist sinnvoll eingebettet, nie entsteht das Gefühl, dass hier Moral oder Wertung reingedrückt wird in eine Handlung. Nein, locker-flockig und immer real rechnet der Autor mit den Möglichkeiten unserer medialen Welt ab und zwingt uns in die Verantwortung, ohne jemals explizit darüber zu reden. Das alles ist eingebunden in eine wahnsinnig spannende Handlung, so dass ich das Buch ohne Absetzen durchlesen musste. Das Buch hat mich relativ verstört zurückgelassen – obwohl ich viel Vorwissen mitgebracht habe. Aber hier noch einmal so glasklar vorgeführt zu bekommen, in was für einer sich radikalisierenden Zeit wir aktuell leben und wie gefährlich deshalb die Möglichkeiten von KI, virtueller Realität und Deepfakes sind: Das lässt einen schon heftig gegen die Wand des gläsernen Menschen rennen.
Ein Must-Read, ein absoluter Volltreffer.
Und noch einmal viel Nachdenken darüber, welche Inhalte wir mit der Welt auf Social Media teilen sollten. Nicht wegschauen, hinschauen.

Bewertung vom 19.06.2024
Tod auf der Unterbühne
Konstanze, Breitebner

Tod auf der Unterbühne


schlecht

Leider kein Kassenschlager

Auf „Tod auf der Unterbühne“, ein Sommertheater-Krimi von Konstanze Breitebner, erschienen 2024 im Servus Verlag, hatte ich mich als selbst Theaterschaffende wirklich sehr gefreut. Konstanze Breitebner ist Schauspielerin und Drehbuchautorin - und somit natürlich absolut vom Fach. Nun schreibt sie ihr Krimidebut. Wie oft hatte sie wohl schon Gelüste, einen Regisseur umzubringen? (Und aus der Branche raus betrachtet: Das wäre sehr verständlich!)

Um mit den positiven Faktoren anzufangen: Das Buch kommt in einer Knaller-Optik, auf dem Cover ein eher „klassisches“ Theaterbühnenbild in Schwarzweiß hinschraffiert, dazu dann schreiend rote Krimifarbe in Schrift, Innencover und leuchtendem Farbschnitt. Nicht zu vergessen die putzige kleine Ratte unten links, die für aufmerksame Leser:innen einen kleinen Spoilerfaktor beinhaltet. Es hätte alles so schön sein können.

Der Basisplot ist schnell umrissen: Bei der Generalprobe des Sommernachtstraums einer Sommertheaterinszenierung im schönen Österreich nahe Wien liegt der Regisseur plötzlich tot auf der Unterbühne. Das gesamte Team steht im Verdacht, Hand angelegt zu haben, und die junge und ehrgeizige Kriminalpolizistin Antonia Ranik macht sich auf Spurensuche. Das verbunden mit viel Theaterflair hätte für mich ein Kassenschlager werden können, wenn nicht... Ja, wenn nicht die Autorin eigentlich vor allem ihr Theaterwissen unter die Leser:innen bringen wollte, und das in wirklich endlosen Erklärungen jedes Theaterberufes, jedes Fachbegriffes, ja sogar Peter Brooks „Der leere Raum“ kann sie nicht auslassen – und lässt dabei den Plot vollkommen vor sich hindümpeln. Die Sprache ist hölzern und, es tut mir leid, wirklich langweilig und unelegant. Kein Klischee wird ausgelassen. Und selbst die an den Haaren herbei gezogene Romance lässt Breitebner im Jahr 2024 in ein Dornröschen-Phänomen münden – das macht mich dann doch sehr fassungslos, insbesondere, da sexuelle Nötigung und Übergriffe in Theaterbetrieben seit Jahren Thema sind. Schön, dass metoo erwähnt wird, verstanden ist es nicht: Breitebner meint diesen Moment in ihrem Buch ernsthaft romantisch und problematisiert gar nicht. Schlimm.

Das Drehbuchschreiben merkt man ihr an, die dialogischen Passagen sind durchaus geglückt, vor allem, wenn sie sich in die Mundart begibt. Doch das, was ein Roman dringend noch dazu braucht, nämlich gute, im Krimibereich spannungsgeladene Prosa, das fehlt komplett. Nachdem die Handlung über fast 300 Seiten hingedümpelt ist, gönnt Breitebner uns on top noch ein retardierendes Moment – so gehört es sich für die klassische Tragödie, nur liegt die in diesem Fall leider nicht in der Qualität des Dramas, sondern nur im Schreibakt selbst. Die Figuren sind eindimensional, das Ende ist vorhersehbar. Aber immerhin sind nun alle Fachbegriffe des Theaters erläutert, wenn auch nicht sehr unterhaltsam. Vielleicht bleibt Drehbuchschreiben doch die bessere Option.

Bewertung vom 16.06.2024
Darwyne
Niel, Colin

Darwyne


sehr gut

Zivilisation als Fessel

„Darwyne“, der neue Thriller von Colin Niel, kommt in einer großartigen Aufmachung, das düstere Cover in Grünschwarztönen, Bäume, Amazonaswald und viele Wurzeln, die in 3D-Haptik mit einer glänzenden, rauen Extraschicht versehen sind, darin ein Leguan versteckt, den man erst auf den zweiten Blick entdeckt, exquisites Spiel mit Licht und Schatten. Ein Klappentext, der endlich mal wieder nicht zu viel verrät, sondern genau im richtigen Maß neugierig macht. Colin Niel selbst ein vielgelobter und mehrfach preisgekrönter Thrillerschreiber, der schon zuvor zwei sehr besondere Thriller vorlegte. Da sind die Erwartungen hoch.

Darwyne, und mit Sicherheit erinnert der Name nicht zufällig an Darwin und das Survival of the Fittest, ist ein 10-jähriger Junge, der im Slum Bois Sec allein mit seiner Mutter am Rande des Amazonaswaldes lebt. Er kam mit einer Fehlstellung seiner Füße auf die Welt und auch sonst offenbart sich im Verlauf des Thrillers so manche Fehlstellung – in seinem Leben. Die Mutter hat gerade wieder einen neuen Lover, „Stiefvater Nummer 8“. All seine Vorgänger sind ebenso spurlos verschwunden, wie sie zuvor plötzlich in Darwynes Leben aufgetaucht sind. Das Leben im Slum ist hart und immer wieder für Darwyne von Gewalt geprägt, doch je weiter der Thriller voranschreitet, umso klarer wird, dass nicht die augenscheinliche Gewalt das wirkliche Problem ist.

Niel schreibt dicht und beklemmend, atmosphärisch stark und mit vielen Details, die einen die Menschen, die Hitze, den Dreck und die Kargheit des Lebens physisch erleben lassen. Je mehr die Handlung sich entwickelt, umso tiefer geraten wir in einen Knoten, der den Wurzeln auf dem Cover ähnelt und immer mehr die Luft nimmt. Darwyne ist ein Ausnahmekind, eine Inselbegabung, so unfähig er ist, im Alltagsleben von Slum, Familie und Schule zurechtzukommen, so sehr kommt er im Wald ins Leben. Hier verwandelt er sich in ein vollkommen anderes Wesen, perfekt angepasst an sein Habitat. Ich will nichts von der Handlung vorwegnehmen, gesagt werden kann aber, dass ich lange nichts so Grausames gelesen habe – und hier reden wir überhaupt nicht über Splatter oder explizite Szenen, die Grausamkeit entsteht ganz aus dem tiefsten Abgrund der menschlichen Psyche heraus. Die Genialität von Niel besteht darin, dass all das Unvorstellbare eben doch vorstellbar ist. Weshalb mich Darwyne nicht mehr losgelassen hat, sowohl die Figur als auch der Thriller, den ich in einem Rutsch gelesen habe.

Punktabzug gibt es leider dennoch, das Finale basiert auf einem Handlungsschritt, der aus dem Verhalten der Figuren zuvor einfach komplett unlogisch ist. In keiner möglichen Welt würden sie, so wie sie von Niel konstruiert sind, so handeln. Auch wenn es nachvollziehbar ist, warum sie für den Plot so agieren, hätte hier ein besserer Anlass geschaffen werden müssen.

Insgesamt liegt hier aber ein sehr besonderer Thriller vor, ganz ab vom Mainstream, mit tollen Figuren, einem Kind, dass mir noch lange nachgehen wird und einer Story, die einem gerade auch emotional alles zusammenzieht, atmosphärisch dicht und sprachlich sehr gelungen. Ein rundum beeindruckendes Leseerlebnis.

Bewertung vom 15.06.2024
Die Perserinnen
Mahloudji, Sanam

Die Perserinnen


sehr gut

Schonungsloses und ehrliches Bild von Exil und Iran

„Die Perserinnen“, der erste Roman von Sanam Mahloudji, ist ein Buch, das in vielen Teilen so reich ist, wie die Jahrtausende alte Kultur des Iran. Ein Buch, gewidmet den vielen Frauen, die trotz der immer wieder aufkommenden Revolutions- und Neuerungsbewegungen im Iran noch immer ihre Stimme nur bedroht laut werden lassen können und zum Schweigen gebracht werden. Ein Buch, dass schonungslos und ehrlich ist und viele Skurrilitäten nicht verschweigt. Ein Buch, das ganz nebenbei zeigt, wie auch die Männer Opfer eines Staates werden, der autokratisch regiert wird. Ein Buch, dass den ganzen Wahnsinn unserer Zeit fasst und die richtigen Fragen stellt – und das alles in einer Familiengeschichte, die schräg, wild, oft zynisch, immer komisch und vor allem komplex, begeisternd und voller Liebe zu einem Haufen von Verrückten ist. Dieses Wort ist hier so liebevoll gemeint, wie die Autorin ihre Figuren schildert, die alle nicht gerade konventionell ticken – vielleicht weil das der einzig bleibende Ausweg in eine zumindest empfundene Freiheit ist.
Die Perserinnen, das sind Shirin, Sima, Elizabeth, Bita und Niaz, drei davon sind im Exil in den USA hängengeblieben, ein Exil, dass statt geplanter Monate Jahre andauert und nicht enden wird, zwei harren im Iran aus, nicht unbedingt fest entschieden. Alle schwimmen in ihrem Leben und ihnen gemein ist, dass ihre Position zwischen Heimatliebe und Hass letztlich nicht zu finden ist.
Mahloudji findet viele Worte, Szenen und Bilder für den Konflikt zwischen westlichem Leben und Tradition, an der mensch aber eigentlich doch nicht mehr festhalten darf, weil das Regime nicht tragbar ist. Manchmal zu viele Worte, ein bisschen mehr Kompaktheit hätte dem Roman gut getan. Mahloudji scheut sich dabei nicht, auch die Subkultur zu erzählen und das nicht-integrierende Verhalten im neuen Land, die Figuren sind nicht immer sympathisch, sie haben ihre Fehler und davon einige. Und das ist gut so! Denn hier wird ein ehrliches Bild von Exil und Iran gezeichnet, ein Vielfältiges, eines, dass Gutmenschentum ebenso vorführt wie die Tatsache, dass auch Opfer eines Regimes nicht immer nur nett sind – sie sind Menschen, wie wir alle. Das Buch bietet ein reiches Panorama eingebettet in eine Geschichte von Verhinderungen und beleuchtet ganz nebenbei viele Aspekte der Geschichte des Irans. Immer lebendig, immer lebenszugewandt gibt Mahloudji so den Frauen ihre Stimme und zeigt ihre Stärke. Sie finden immer einen Weg zu leben – und wo nicht mehr, da entscheiden sie selbst, wann und wie sie gehen wollen. Und dennoch spüren sie, wie sehr sie aus dem Verlust leben. „Was für eine Idiotin ich war, wie ich hier versuchte, eine bunte Schleife um einen Haufen Müll zu binden.“, schreibt Mahloudji.
Was wir auch sehen ist eine USA, die alles andere als offene Arme für Einwander:innen hat. Mahloudji macht sichtbar, dass in der Folge auch die Exilant:innen sich verschließen in ihrer Community. Diese Dynamik ist eine, die wir uns auch in Deutschland durchaus anziehen können. Der Prozess ist universell. Wann kann es endlich eine Öffnung geben? Die Autorin äußert durch Niaz: „Ich weiß, es hängt alles von den Frauen ab. Werden sie bereit sein?“ – aber hängt es nicht von den Männern ab? Wer muss sich bewegen, die Töchter oder die Söhne?
Ein starkes Buch, ein ehrliches Buch, eine Leseempfehlung für jeden Menschen, der sich mit der Situation im Iran beschäftigen möchte, ohne ein Geschichtsbuch zu lesen.

Bewertung vom 02.06.2024
Die kurze Stunde der Frauen
Gebhardt, Miriam

Die kurze Stunde der Frauen


schlecht

Aufreger des Jahres

Das Buch „Die kurze Stunde der Frauen“ von Miriam Gebhardt hat schon jetzt, im Juni 2024, große Chancen bei mir, den Pokal „Aufreger des Jahres“ konkurrenzlos abzuräumen. Als historische Analyse getarnt, schreibt Gebhardt uns hier einen extrem tendenziösen, thematisch willkürlich angelegten Langstreckenessay, der bei der lesenden Person die Wut mit jeder Seite mehr steigen ließ. Gebhardt begeht dabei den Grundlagenfehler, weiblich gelesene Personen, denen sie zu Recht abspricht, emanzipiert zu sein oder überhaupt im Zeitalter der Emanzipation aktivistisch gewesen zu sein, unter der Lupe der emanzipierten und privilegierten Frau zu betrachten und mit diesen Maßstäben zu bewerten. Kurz und knapp gesagt: Merkste selber, oder? Dieses Unterfangen kann ja nur schief gehen. Ihre Grundprämisse, mit der sie den Mythos der „Trümmerfrau“ hinterfragen und aufheben möchte, ist dabei, dass eben diese Frauen ihre Aufgaben in der Nachkriegszeit ja nicht freiwillig, bewusst und aktiv absichtlich übernommen hätten, sondern vielmehr vollkommen erschöpft und traumatisiert aus der Notwendigkeit handelnd tätig wurden. So weit so partiell einleuchtend – nur schmälert das die Leistung dieser Generation ja nicht. Gebhardt hebt hervor, dass die Frauen dann auch zunehmend schnell wieder in die zweite Reihe zurückgetreten seien, sich also gar nichts geändert hätte. Nun, das ist natürlich sehr verwunderlich, dass sich eine seit Jahrhunderten patriarchal geprägte Gesellschaft nicht innerhalb von drei Jahren komplett neu strukturiert hat und ihre Wert- und Moralvorstellungen komplett neu entwickelt hat, wo das doch obendrein in allen Staaten drumherum – ach ja, genauso nicht passiert ist.
Grundsätzlich ist der Ansatz, mehr Realität zeigen zu wollen, ein ehrenwerter. Nur warum muss zeitgleich eine ganze Generation von Frauen nicht entmystifiziert, sondern herabgewertet werden? Gebhardt schaut durchgehend durch den Filter einer These, die sie unbedingt beweisen möchte und wählt ihre Argumente zielgenau nur danach aus. Vieles andere lässt sie dann einfach weg. So geht Wissenschaft – nicht. Einer meiner Favoriten hier die Behauptung, dass es im Zuge von Kapitulation und Nachkriegszeit zu so viel sexualisierter Gewalt kam „wie sie sich bis heute und auch anderswo nicht wiederholt hat“. Die Datenbasis hier: Ein Schätzwert von Frau Gebhardt. Quelle: Eines ihrer anderen Bücher, der genaue Abschnitt wird inhaltlich nicht mitgeliefert. Chapeau! Und auch hier gilt: Niemand will kleinreden, dass diese Zeit für Frauen eine höchstgefährliche und traumatisierende war. Aber wenn wir in die vielen Kriege der Neuzeit schauen, mit beispielsweise Massenvergewaltigungslagern im Bosnienkrieg, wenn wir in Europa bleiben wollen, so ist diese These doch sehr fraglich. Sowieso wird sie nur herangezogen, damit Gebhardt zeigen kann, dass die Frau der Nachkriegszeit eben keine Heldin war, sondern eine traumatisierte Person, die nur ihre Überlebenskräfte angezapft hat. Das Kapitel über Gewalt zeigt dabei wunderbar die manipulative Struktur des Buches auf: Gebhardt schreibt darin erst einmal vier Seiten lang fröhlich los über diese Gewalt, um dann mitzuteilen, dass dieses Buch nicht der Ort sei, um über Massenvergewaltigungen zu schreiben – und danach zwölf weitere Seiten bei dem Thema zu bleiben. Die Informationen als solche sind nicht verkehrt, die Zusammenstellung ist jedoch in ihrer Auswahl extrem tendenziös, die Schlussfolgerungen reine Meinung.
Gerne teilt Gebhardt auch Offensichtliches mit. Es gab aufrechte Nazis auch unter Frauen. Es gab Frauen mit Machthunger. Es gab Frauen, die sich am Nationalsozialismus bereichert haben. Wow!!! Das sind brandneue, bahnbrechende Erkenntnisse, gut, dass es endlich mal jemensch schreibt. Worüber sie gar nichts schreibt, nicht ein Wort in dem entsprechenden Kapitel: Wie viele Frauen im Widerstand tätig waren. Muss hier noch mehr gesagt werden?
Im weiteren Verlauf des Buches häufen sich Ungenauigkeiten, falsche Zahlen, Ungereimtheiten, Widersprüche (in Biographien), die Quellenarbeit bleibt durchgehend schlampig, wir wandern immer weiter Richtung Neuzeit und auch die Themenwahl der einzelnen Kapitel geht immer mehr am Hauptthema vorbei, on top ist Vieles lähmend redundant. Vielleicht hätte die Autorin besser ein Buch geschrieben „Frauen vom Kriegsende bis heute“ – oder eine kleinere Seitenzahl aushandeln sollen. Als habilitierte (!) Historikerin ist ihre Methodik einfach erschreckend, nichts gegen Populärwissenschaft, aber sauber arbeiten und schreiben: Darf mensch schon.
Positiv hervorzuheben ist das gut gewählte Bildmaterial, welches einen gelungenen Einblick in die damalige Zeit gibt und sinnvoll eingebettet ist.
Fazit: Idee gut, Ausführung: Ein einziges Ärgernis. Schade um das Papier und die Zeit.

Bewertung vom 02.06.2024
Ich stelle mich schlafend
Ohde, Deniz

Ich stelle mich schlafend


ausgezeichnet

Niemand will zu einem Passfoto werden

„Ich stelle mich schlafend“ von Deniz Ohde, erschienen 2024 im Suhrkamp Verlag, ist ein Buch, das mit leiser Stimme eindringlich das Aufwachen einer Gesellschaft einfordert. Auf dem Schutzumschlag in einer Pfütze auf Asphalt, die wahrscheinlich bald verschwinden wird, eine Häuserfassade in Ockertönen – die Erinnerung an ein Leben, das einfach weggerissen werden kann und einem dennoch ein Leben lang den Spiegel vorhält, wie die Spiegelung in der Pfütze. Das Gefühl von Brache, Abrisshalde, welches das erste Kapitel vorgibt, zieht sich durch das ganze Buch, ebenso die Schwere von Asphalt und Beton, die auf dem geschilderten Leben lastet und einfach nicht weggelebt werden kann. In verschiedenen Zeitebenen taumeln wir, schleichen wir, rennen wir, frieren wir ein durch das Leben von Yasemin, einer Frau, die in einer der unendlichen möglichen Varianten erlebt, was noch immer alle Frauen erleben: Ein Aufwachsen und Dasein in der Präsenz von männlicher Gewalt, dem Frauen noch immer qua Sozialisation und fehlender gesellschaftlicher Solidarität viel zu wenig entgegenzusetzen haben.
Ohde findet durchweg starke und schöne Sprachbilder in großen Mengen in diesem Buch. Die Charaktere werden anfangs zunächst bewusst rätselhaft, wie Schemen eingeführt und sind doch schon sehr gut erahnbar, auch ihre Beziehung zueinander deutet sich gut an. Klar wird: Hier ist etwas vorgefallen, und es war nicht gut, es war toxisch – und es beschäftigt noch lange. Im weiteren Verlauf dringen wir lesend langsam tiefer in die Schichten, und die Wahrheit des Geschehens liegt vor allem zwischen den Zeilen und den Gedanken. Ohde schreibt unglaublich dicht, ich konnte kaum Luft holen beim Lesen, jeder Satz ist ein Kosmos und löst Begeisterung aus – und zeitgleich hält sie die Spannung, was nun geschehen wird, bis zum Ende hoch. Über allem schwebt permanent ein Unheil, das wabert über den Menschen, die Stimmung ist durchweg wie vor einem Gewitter, und die erlösende Sintflut will sich nicht einstellen. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig sich Yasemin erlaubt zu leben, dauerhaft und in einer inneren Leere kreist. Sie wirkt wie ein total traumatisierter Mensch, der sich einfach kein Glück erlaubt und sich immer, einfach immer schuldig fühlt.
Der Erzähldruck lässt im letzten Drittel des Buches etwas nach, weil Ohde dringend noch politischen Inhalt unterbringen möchte, aber nicht immer zwingende Erzählanlässe dafür findet, das wirkt manchmal etwas reingepropft. Was sie erzählen will, ist aber wichtig, denn es ist das, was ALLE Frauen kennen: Wie sehr wir in einer grundsätzlichen Angst leben, immer, wie sehr wir als schuldig angesehen werden, immer, wie Täter-Opfer-Umkehr systematisch geschieht, immer, wie oft wir uns entschuldigen, immer. Ich habe kurz davor gerade „Sorry Not Sorry“ von Anika Landsteiner gelesen und kann das in dem Kontext nur jede:m ans Herz legen. „Niemand wollte zu einem Passfoto werden, es war nichts, was man selbst in der Hand hatte.“, ist ein zentraler Satz, den Yasemin denkt, als sie über Vermisstenanzeigen sinniert. Was man dagegen in der Hand hat, ist, ein Leben in der Vermeidung zu leben, wie wir es automatisiert ständig tun, ohne das hinterfragen zu können, weil wir uns nur so schützen können – und das bringen wir auch unseren Töchtern von klein auf bei. Wir kennen es alle: Erzieht nicht eure Töchter, erzieht eure Söhne – dieses Buch ist ein starkes Plädoyer dafür. Und es ist so schlimm, dass sich noch immer so wenig daran tut. Yase hat also überlebt, wie wir schon am Anfang des Buches erfahren, durch Glück, durch Zufall. Und ich ertappe mich selbst dabei, ihr Mitschuld an vielem zu geben, was sie erlebt hat, weil sie so konstant an allen Zeichen vorbeischaut, sich so einfangen lässt, sich so sehr selbst die Grube gräbt. Aber liegt dem allen nicht eine Gesellschaft zugrunde, die Frauen das von Anfang an tun lässt, die sie genau dahin erzieht, die sie noch immer in eine dauerhafte Scham zwingt? Sprachlich bleibt das Buch bis zum Schluss sehr stark. Das angedeutete Happy End hätte ich so nicht gebraucht. Spannender war es, wie Yasemin zunehmend in ihren Körper zurückfindet, der auf so vielen Ebenen versehrt ist. Da sehe ich eher den Weg – wir sollten uns nicht mehr retten lassen. Wir können selbst aufstehen und gehen.
Dieses Buch gewinnt vor allem durch all das, was nicht gesagt ist, es ist ein wortkarges Buch, trotz all der Worte in ihm, und dieses Schweigen bringt die Lesenden emotional fast um. Ein starkes Buch, das ich in einem Rutsch verschlungen habe. Wir dürfen uns nicht mehr schlafend stellen. Unser Frauenleben gehört uns.