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Bücherfreundin

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Insgesamt 315 Bewertungen
Bewertung vom 07.04.2025
Das Lieben danach
Bracht, Helene

Das Lieben danach


sehr gut

Mutiges Buch über ein wichtiges Thema
Der Hanser Verlag hat "Das Lieben danach", das Debüt von Helene Bracht, veröffentlicht, in dem diese sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzt.

Während eines Urlaubs auf den Kanaren schreibt die 70-jährige Autorin sich von der Seele, was sie über Jahrzehnte verdrängt hatte. Strecker, Untermieter im Haus ihrer Eltern, gibt der kleinen Lene regelmäßig einmal pro Woche Nachhilfe und missbraucht sie über einen längeren Zeitraum. Erst als sie acht Jahre alt ist, erkennt ihre Mutter, was ihrem Kind angetan wird und erteilt Strecker Hausverbot.

Helene Bracht, die als Psychologin tätig ist, verarbeitet in ihrem Sachbuch nicht nur das an ihr verübte Verbrechen, sondern analysiert auch dessen Auswirkungen auf ihre späteren Liebesbeziehungen. Sie fragt sich, weshalb sie damals alles ertragen hat, was für sie schmerzhaft und qualvoll war und warum sie sich nicht gewehrt hat, sondern sogar Freude empfand, wenn ihr Peiniger zu ihr kam. Für ihn war sie "etwas ganz Besonderes", sie fühlte sich von ihm geliebt und hielt die Schmerzen klaglos aus, fühlte sich dadurch sogar innig verbunden mit ihrem kriegsversehrten Vater, der unter ständigen Schmerzen litt.
Die Missbrauchserfahrungen prägen ihr Liebesleben. Der Gymnasiallehrer, bei dem sie ein Praktikum absolviert und für den sie auch "etwas ganz Besonderes" ist, umwirbt sie und macht ihr Geschenke. Sie vermag sich ihm nicht zu widersetzen, und es bleibt nicht bei diesem einen Zweckbündnis.

Das Buch, das sich auch mit Themen we Me-too, Scham und Vertrauen auseinandersetzt, ist in klarer und sachlicher Sprache geschrieben und liest sich flüssig. Es hat mich zutiefst erschüttert, dass Helene Bracht als kleines Mädchen über Jahre missbraucht wurde, und ich konnte nicht verstehen, dass ihre Eltern dem Täter nur Hausverbot erteilten anstatt mit ihrem Kind zur Polizei zu gehen. Mit großer Offenheit beschreibt die Autorin nicht nur ihre Schwierigkeiten, sich auf Beziehungen einzulassen, sondern auch ihre eigene Umkehr vom Opfer zur Täterin, die andere Menschen physisch und psychisch verletzte.

Helene Brachts mit großer Offenheit geschilderte Erfahrungen sind aufwühlend und machen betroffen. Ich bewundere den Mut, den sie mit ihrer Veröffentlichung bewiesen hat - Leseempfehlung für dieses wichtige Buch, das unter die Haut geht!

Bewertung vom 30.03.2025
Unsere Suche nach Zärtlichkeit
Ehrenhauser, Martin

Unsere Suche nach Zärtlichkeit


ausgezeichnet

Wunderbare und mit viel Empathie erzählte Geschichte
Im Mittelpunkt von "Unsere Suche nach Zärtlichkeit", dem aktuellen Roman von Martin Ehrenhauser, steht der in Brüssel lebende Sebastien Dumont. Der 49-Jährige ist geschieden und führt ein Uhrengeschäft. Nachts ist er ehrenamtlich als Telefonseelsorger tätig, der den Anrufern geduldig zuhört und versucht, ihnen seelischen Beistand zu geben. Eines Nachts ruft eine weinende Frau an. Obwohl es Dumont nicht gelingt, ein längeres Gespräch mit ihr zu führen, erfährt er, dass sie mit dem Zug nach Antibes in Südfrankreich fahren wird. Dumont, den immer noch der Selbstmord einer Anruferin bedrückt, beschließt spontan, sich eine Auszeit zu nehmen, um der Fremden nachzureisen. Während seines Aufenthaltes in Antibes lernt er in einer Fotoausstellung Florence kennen, die in einem kleinen Pförtnerhäuschen lebt. Die beiden kommen sich näher, doch schon bald gerät Dumont in einen schweren Gewissenskonflikt ...

Der Leser begleitet den sympathischen Dumont während eines Zeitraums von wenigen Monaten und lernt ihn dabei intensiv kennen, erlebt seinen Alltag in Brüssel und die aufregenden Wochen in Antibes. Martin Ehrenhauser erzählt die Geschichte mit ganz wunderbaren Worten und skizziert seinen Protagonisten sehr liebevoll und mit viel Empathie, so dass ich mich gut in ihn hineinversetzen konnte. Dumonts Aufenthalt in Antibes und seine Zeit mit Florence bilden den Kern des Romans, und wir erleben den sensiblen und nachdenklichen Mann, der von seinen Gefühlen überrollt wird und sich von der neuen Situation bald vollkommen überfordert fühlt. 

Mit seinem sensiblen Erzählstil ermöglicht es der Autor dem Leser, intensiv in Dumonts Gedanken- und Gefühlswelt zu blicken. Seine Handlungsweisen konnte ich sehr gut nachvollziehen, und ich mochte den feinfühligen Dumont, der sich viele Gedanken macht und nicht mehr weiß, was richtig und falsch ist. Ich mochte auch Florence, die einen kräftezehrenden Alltag hat und nun bereit ist, neue Wege zu gehen. 

Es freut mich immer wieder, wenn ich ganz besondere Bücher entdecke. Dieses lebenskluge Buch ist für mich etwas ganz Besonderes, es ist ein Herzensbuch und erzählt eine wunderbare und dabei vollkommen kitschfreie Geschichte, in der es nicht nur um Liebe und Zärtlichkeit, sondern auch um Krankheit, Zweifel und Verantwortungsgefühl geht.

Der Roman hat mir sehr gut gefallen, er hat mich begeistert und zutiefst berührt -  absolute Leseempfehlung für diese wunderschöne und ruhig erzählte Geschichte!

Bewertung vom 27.03.2025
Wie Risse in der Erde
Hall, Clare Leslie

Wie Risse in der Erde


gut

Dreiecksgeschichte und Krimi
Im Mittelpunkt von "Wie Risse in der Erde", dem neuen Roman der britischen Autorin Clare Leslie Hall, steht die junge Beth Johnson, die mit ihrem Ehemann Frank und Schwager Jimmy eine Farm im kleinen Ort Hemston in Dorset bewirtschaftet. Das Buch erscheint weltweit in 31 Ländern und erntet von Kollegen der Autorin, wie Miranda Cowley Heller, Delia Owens und Chris Whitaker, großes Lob. Ich freute mich daher riesig auf die Lektüre - doch so richtig glücklich bin ich mit der Geschichte leider nicht geworden.

Der Roman spielt auf mehreren Zeitebenen und umfasst die Zeit von 1955 bis 1975. Er ist in fünf Hauptteile und zahlreiche kurze Kapitel gegliedert, die in erster Linie Ereignisse der Jahre 1955 und 1968 beinhalten. Die Handlung springt zwischen 1968, "früher" und "der Prozess" hin und her, was durch die Kapitelüberschriften sehr gut zu erkennen ist.

Die 17-jährige Schülerin Beth Kennedy, Tochter eines Lehrerehepaares, verliebt sich in den ein Jahr älteren Gabriel Wolfe aus begütertem Elternhaus. Die beiden verleben einen glücklichen Sommer, ehe die Verbindung zerbricht. 13 Jahre später, Beth ist inzwischen mit dem Farmer Frank Johnson verheiratet, zieht Gabriel, mittlerweile erfolgreicher Schriftsteller, mit seinem Sohn Leo wieder in sein Elternhaus ein. Es dauert nicht lange, bis Beth und Gabriel sich auf der Farm wiedersehen. Die junge Frau zögert nicht, als Gabriel sie bittet, auf Leo aufzupassen, damit er sein Buch fertigstellen kann. Das Kind erinnert sie an ihren Sohn Bobby, der zwei Jahre zuvor durch einen tragischen Unfall beim Fällen eines Baumes ums Leben gekommen ist. Obwohl Beth ihrem Mann gegenüber ein schlechtes Gewissen hat, ist sie gern mit dem Jungen -  und auch Gabriel - zusammen. Als es zu einer Tragödie kommt, bricht erneut ihre Welt zusammen ... 

Die Geschichte, die eine Mischung aus Dreiecksgeschichte und Krimi ist, ist in einfacher Sprache aus Beth' Perspektive in der Ich-Form erzählt und liest sich leicht. Bereits mit dem ersten Kapitel über den Prozess baut sich Spannung auf und steigt bis zum Ende stetig an. Was auf der Farm passiert ist und zum Tod eines Menschen führte, wird erst im letzten Viertel des Buches aufgedeckt. 

Die Kapitel über den Kriminalfall habe ich sehr gern gelesen. Ich fand den Prozess spannend und glaubhaft dargestellt. Besonders gut gefallen hat mir, dass die Identität des Opfers und des Verdächtigen über den größten Teil des Buches im Dunkeln bleibt.

Leider konnte mich die Rahmenhandlung mit Beth, Frank und Gabriel nicht so begeistern wie das Gerichtsverfahren. Sie las sich gut, fesselte und berührte mich, die Trauer der Familie um Bobby ist glaubwürdig beschrieben und mir nahe gegangen. Ich fand es sehr berührend, dass Beth sich um Leo kümmerte, und auch Beth' innere Zerrissenheit ist hervorragend dargestellt. Die Handlung war mir allerdings zu überladen mit all dem Herzschmerz, den Lügen und Tragödien. Es gab viel Drama, Verrat, Verlust und Schuld, Trauer und Reue. Es war mir von allem etwas zu viel, zu theatralisch und stellenweise unglaubwürdig. Ich habe Beth als recht egoistisch empfunden und konnte ihre Handlungsweisen nicht immer nachvollziehen, während mir Frank zu mitfühlend, zu lieb und zu verständnisvoll dargestellt war und mich mit seiner Güte und Selbstlosigkeit zusehends nervte. Die Darstellung von Gabriel, Leo und Bobby fand ich hingegen gelungen und authentisch. Dass die Familienmitglieder, die stets so liebevoll miteinander umgehen, nicht intensiv genug auf Jimmy einwirken, damit er seine Alkoholsucht bekämpft, habe ich nicht verstanden.

Der Aufbau des Buches mit den unterschiedlichen Zeitsträngen hat mir sehr gut gefallen, selbst wenn die teilweise sehr kurzen Kapitel meinen Lesefluss etwas hemmten. Auch die Beschreibung des Landlebens war interessant. Es gibt einige teils vorhersehbare Wendungen, ein großes Geheimnis wird enthüllt, und das Ende ist hoffnungsvoll, aber leider auch ziemlich kitschig.

Obwohl mich der Kriminalfall fesselte, konnte mich die Geschichte insgesamt leider nicht überzeugen.

Bewertung vom 19.03.2025
Halbinsel
Bilkau, Kristine

Halbinsel


ausgezeichnet

Großartiger Roman mit Tiefgang
Im Mittelpunkt von Kristine Bilkaus neuem Roman "Halbinsel" steht die Ich-Erzählerin Annett. Die 49-jährige Bibliothekarin lebt in Nordfriesland am Wattenmeer und hat ihre Tochter Linn nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemannes vor 20 Jahren allein großgezogen. Linn ist mittlerweile 25 Jahre alt, sie hat ihre Heimat zum Studieren verlassen und arbeitet seit einigen Monaten in Berlin für eine Umweltberatung. Bei einem Vortrag vor größerem Publikum erleidet sie einen Kreislaufkollaps. Besorgt eilt Annett zu ihrer Tochter und holt sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zur Erholung zu sich nach Hause. Wieder zurück in Berlin, entschließt sich Linn, ihren Job noch vor Ablauf der Probezeit zu kündigen, ihre Wohnung aufzulösen und in ihr Elternhaus zurückzukehren ...

Die Autorin schildert mit ganz wunderbaren Worten und viel Empathie das Zusammenleben von Mutter und Tochter, das nicht frei ist von Konflikten, Erwartungen und Enttäuschungen. Linn nimmt sich Zeit, ihre berufliche Zukunft neu zu gestalten, während der ungeduldigen Annett die Untätigkeit und Verschlossenheit ihrer Tochter Frust und Sorgen bereiten.

Die Charaktere sind mit viel Zuneigung beschrieben, Kristine Bilkau lässt uns besonders tief in Annetts Gedanken- und Gefühlswelt blicken. Ich konnte mich sehr gut in Annett hineinversetzen, ihre Unsicherheit, Sorgen und Ungeduld nachvollziehen. Sie macht sich viele Gedanken über ihre Tochter und leidet darunter, dass diese sich zurückzieht und ihren Fragen ausweicht. Auch Linn konnte ich gut verstehen, sie möchte sich ohne mütterlichen Rat und Einfluss vollkommen neu orientieren und gibt nur wenig preis von dem, was sie beschäftigt.

Das Buch, dessen Handlung einen Zeitraum von etwa 5 Monaten umfasst, hat mir sehr gut gefallen, der ruhige und schöne Erzählstil hat mich begeistert. Ich mochte auch die Passagen, in denen Annett sich an die Zeit erinnert, als sie und Johan ein Paar wurden, heirateten und später mit der kleinen Linn in das Haus von Annetts Großtante einzogen. Sie vermisst ihren Mann immer noch schmerzlich, ihre Zwiesprache mit dem Verstorbenen fand ich sehr berührend.

Ich habe die Geschichte, die neben der Mutter-Tochter-Beziehung, Loslassen, Trauer und Verlust auch das wichtige Thema Klimaschutz beinhaltet, sehr gern gelesen, sie hat mich gefesselt und berührt. Ich mochte die beiden Frauen, denen es nicht leichtfällt, Verständnis füreinander aufzubringen und die sich nur sehr behutsam wieder einander annähern. 

Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen und lebensklugen Roman!

Bewertung vom 15.03.2025
Der ewige Tanz
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

Mitreißende Geschichte über eine vergessene Ikone
In seinem neuen Roman "Der ewige Tanz" widmet sich Steffen Schroeder dem aufregenden und exzessiven Leben der in den 1920er-Jahren berühmten Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber.

Im Sommer 1928 befindet sich die 29-jährige Anita im Berliner Bethanien-Krankenhaus. Sie leidet unter einer fortgeschrittenen Tuberkulose und wird von starken Schmerzen geplagt. Die junge Frau, die sich darüber bewusst ist, dass sie die Krankheit nicht überleben wird, blickt zurück auf ihr bewegtes, viel zu kurzes Leben.

Die kleine Anita wächst bei ihrer Großmutter Lu in Dresden auf, die ihr schon früh einschärft, sich niemals von einem Mann abhängig zu machen. Die Mutter des Mädchens singt und tanzt in einem Berliner Kabarett, der Vater, ein erfolgreicher Geigenvirtuose, hat die Familie wegen der Eifersucht seiner Frau verlassen und sucht keinen Kontakt zur Tochter. Anita beschließt früh, auch Tänzerin zu werden. Nachdem ihre Großmutter mit ihr nach Berlin gezogen ist, wo die beiden gemeinsam mit Anitas Mutter eine Wohnung beziehen, nimmt Anita Tanzstunden bei der ehemaligen Tänzerin Rita Sacchetto. Sie tanzt mit Hingabe und Leidenschaft, und schon bald hat sie ihren ersten Auftritt im Apollo-Theater. Es folgen Solotanzabende, mit 18 Jahren wird sie als Tänzerin für den Stummfilm entdeckt und bekommt eine Hauptrolle. Sie wird als neues Wunder der Tanzkunst gefeiert, mit ihren aufreizenden und akrobatischen Tänzen begeistert sie ihr Publikum. Doch ihr Erfolg währt nur wenige Jahre ...

Wir begleiten Anita Berber bis zu ihrem frühen Tod, erleben ihre Kindheit, Jugend, die Jahre ihres Ruhms und die Zeit danach. Das Verhältnis zur Mutter ist schwierig, da diese ihr den Erfolg neidet und ihr ihre Zuneigung entzieht. Die Großmutter bleibt lange ihre wichtigste Bezugsperson. Anita hat viele Verehrer, sie genießt den Erfolg, trinkt zu viel Alkohol und nimmt Kokain und Morphium. Sie heiratet dreimal, fühlt sich aber auch zu Frauen hingezogen. In der Modewelt setzt sie neue Akzente, als sie sich einen Smoking schneidern und ein Monokel anpassen lässt. 

Die Geschichte ist in schöner Sprache erzählt und liest sich sehr flüssig, die Charaktere sind bildhaft skizziert. Der Zeitgeist ist ganz wunderbar eingefangen, und es war spannend, in die zwanziger Jahre einzutauchen. Wir erleben Anitas phänomenalen Aufstieg und ihren traurigen Abstieg, und wir lernen ihre Ehemänner kennen. Sie hatte Mut und Ehrgeiz, brach Tabus, sorgte für Skandale und führte ein selbstbestimmtes, aber auch selbstzerstörerisches Leben. Sehr interessant fand ich die Beschreibung der Umstände, die zu dem bekannten Gemälde führten, das Otto Dix von der Künstlerin anfertigte. 

Ich habe das mitreißende Buch sehr gern gelesen - klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 14.03.2025
Der Fall Leon
Apler, Florian;Schütz, Volker

Der Fall Leon


ausgezeichnet

Erschütternd und bewegend
Der junge Familienvater Florian Apler ahnt nicht, dass die Ereignisse am frühen Morgen des 28.8.2022 sein Leben für immer verändern werden. Er ist mit seinem 6-jährigen Sohn Leon unterwegs in St. Johann, als er von einem Unbekannten brutal niedergeschlagen wird. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, ist Leon verschwunden. Wenig später wird der Junge tot geborgen, er ist in der Kitzbüheler Ache ertrunken. Ein halbes Jahr später wird Florian Apler des Mordes an seinem Sohn beschuldigt und festgenommen. 522 Tage wird er unschuldig im Untersuchungsgefängnis verbringen, ehe er in einem drei Tage dauernden Gerichtsprozess am 1. August 2024 von den acht Geschworenen einstimmig freigesprochen wird.

Gemeinsam mit Volker Schütz, einem Rechtsanwalt, der mit der Familie Apler befreundet ist, hat Florian Apler seine Geschichte, die zu einem großen Teil auf den Tagebuchaufzeichnungen aus der langen Zeit seiner Inhaftierung basiert, aufgeschrieben. Er erzählt mit sehr viel Liebe von seinem kleinen Sohn Leon, der mit einem seltenen Gen-Defekt, dem Syngab Syndrom, zur Welt gekommen ist. Florian Apler erklärt, was die Krankheit für die Familie bedeutet hat und berichtet über den Alltag mit Leon, der nicht sprechen konnte und ständige Betreuung benötigte.

Der Autor beschreibt in seinem Buch die Erfahrungen, die er mit der Polizei und der Justiz machen musste. Zahlreiche Ermittlungs- und Verfahrensfehler reihten sich aneinander, entlastende Beweise, Videoaufnahmen und Gutachten von Seiten der Verteidigung wurden vom Gericht nicht zugelassen. Auch über die Zeit seiner Inhaftierung berichtet er und über die Willkür, der er ausgesetzt war. Florian Apler lässt den Leser tief in seine Seele blicken, wir erleben neben seiner tiefen Trauer um Leon auch seine Ängste, tiefste Verzweiflung und seinen Zorn. Familie und Freunde gaben ihm durch ihre Briefe viel Kraft, sie alle haben den Glauben an ihn und seine Unschuld nie verloren.

Das aufrüttelnde Buch ist in schöner Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Neben Fotos und Zeichnungen enthält es Auszüge aus Briefen, die Florian Apler von seiner Familie und seinen Freunden während seines Gefängnisaufenthaltes erhalten hat. Auch die emotionale Aussage des Autors vor Gericht ist wortgetreu wiedergegeben.

Am Ende siegte die Gerechtigkeit, aber bei mir bleiben Zorn, Unverständnis und Betroffenheit zurück. Polizei und Justiz haben in diesem Fall jämmerlich versagt, doch niemand wurde zur Rechenschaft gezogen, eine Entschuldigung erfolgte nie, die Entschädigung für 522 Gefängnistage ist kaum der Rede wert.

Absolute Leseempfehlung für dieses mutige Buch, das unter die Haut geht und mich zutiefst berührt und erschüttert hat!

Bewertung vom 06.03.2025
Zwei Frauen, zwei Räder, ein Zelt
Willers, Tanja;Hochedlinger, Johanna

Zwei Frauen, zwei Räder, ein Zelt


ausgezeichnet

Spannende Fahrradreise durch 21 Länder
Der österreichische Verlag Tyrolia hat "2 Frauen, 2 Räder, 1 Zelt - Durch 21 Länder von Kapstadt nach Wien" der Autorinnen Tanja Willers und Johanna Hochedlinger veröffentlicht. Das Taschenbuch ist äußerst liebevoll und sehr hochwertig gestaltet und enthält zahlreiche Fotos, die die Fahrradreise der beiden Frauen anschaulich dokumentieren.

Die Idee zu der Reise ist geboren, als Tanja mit einem gebrochenen Bein auf dem Sofa ihrer Schwester in Kapstadt liegt. Es sollte allerdings noch 1 1/2 Jahre dauern, bis Tanja und Johanna ihre Idee umsetzen und nach Kapstadt fliegen. Von dort aus geht es los, mit ihren beiden Fahrrädern, einem Zelt und zahlreichen Taschen, die alles enthalten, was sie für ihre Reise benötigen.

Nun beginnt eine abenteuerliche und nicht immer ungefährliche Reise, die die beiden durch 21 Länder in Afrika, Asien und Europa führen wird. Sie legen an 445 Tagen insgesamt rund 24.000 Kilometer zurück, bei teils extremen Temperaturen, bei Regen und Wind. Dabei stoßen sie oftmals an ihre Grenzen, sie streiten und versöhnen sich. Auf ihrer Reise begegnen sie neben Einheimischen immer wieder interessanten Menschen, die wie sie das Abenteuer und neue Herausforderungen suchen.

Ich habe das in schöner Sprache geschriebene Buch sehr gern gelesen, es hat mich gefesselt und zutiefst beeindruckt. Die Erlebnisse der beiden Frauen sind so spannend und lebendig geschildert, dass ich oft das Gefühl hatte, dabei zu sein. Ich habe ihre Kraft und Ausdauer bewundert, mit denen sie die einzelnen Etappen und auftretende Probleme bewältigt haben. Sehr hilfreich fand ich das umfangreiche Kartenmaterial, das es mir ermöglichte, die Route genau zu verfolgen. Zwischen den Aufzeichnungen der Autorinnen finden sich immer wieder einseitige Einschübe über wichtige Themen, wie z.B. die richtige Ausrüstung, Kommunikation. Fahrrad, Essen, Trinkwasser, Kriminalität, Finanzen, Reiseapotheke und vieles mehr. Auch diese Seiten fand ich sehr interessant, da sie mir viele Fragen beantworteten, die sich mir im Laufe der Lektüre stellten.

Sehr gut gefallen haben mir die vielen unterschiedlichen und faszinierenden Eindrücke, die das Buch vermittelt. Jedes Land hat seine Besonderheiten, und immer wieder begegneten den Autorinnen gastfreundliche und hilfsbereite Menschen. Sie erlebten zahlreiche beglückende Momente, kosteten von Speisen, von denen sie noch nie zuvor gehört hatten, wurden aber auch hartnäckig angebettelt und manchmal sogar verfolgt.

Es hat mir sehr viel Freude bereitet, Tanja und Johanna auf ihrer Reise zu begleiten, und ich kann mir vorstellen, dass ihr unterhaltsamer und interessanter Bericht viele Reiselustige dazu motiviert, ferne Länder mit dem Fahrrad zu entdecken.

Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 05.03.2025
Mickey und Arlo
Dick, Morgan

Mickey und Arlo


gut

Das Vermächtnis
In ihrem Debütroman "Mickey und Arlo" erzählt die kanadische Autorin Morgan Dick die Geschichte zweier Frauen, die sich begegnen und nicht ahnen, dass sie Halbschwestern sind.

Aus der Zeitung erfährt Mickey Morris, dass ihr Vater, Adam Kowalski, nach langer und schwerer Krankheit im Alter von 61 Jahren verstorben ist und seine Ehefrau Leonora und die Tochter Charlotte hinterlässt. Die Nachricht trifft sie nicht besonders, da ihr Vater sie und ihre Mutter verlassen hat, als sie 7 Jahre alt war und ihnen hohe Schulden hinterließ. Das ist lange her, mittlerweile ist Mickey 33 Jahre alt, arbeitet seit 12 Jahren mit viel Freude und Hingabe als Lehrerin einer Vorschulklasse und hat ein ernstes Alkoholproblem. Sie fällt aus allen Wolken, als sie einen Anruf vom Anwalt ihres Vaters erhält, der ihr mitteilt, dass sie 5,5 Millionen Dollar erbt unter der Voraussetzung, dass sie innerhalb von drei Monaten sieben Psychotherapiesitzungen absolviert.

Auf einer zweiten Erzählebene begegnen wir Arlo, einer 25-jährigen geschiedenen Psychotherapeutin. Sie hat ihren alkoholkranken Vater bis zu dessen Tod gepflegt und kann nicht begreifen, dass sie in seinem Testament keine Erwähnung findet. Als Mickey zu ihrer ersten Therapiesitzung bei Arlo erscheint, ahnen die Frauen nicht, dass sie ihrer Halbschwester gegenübersitzen, von deren Existenz sie zwar wissen, sie aber nie kennengelernt haben ...

Die Geschichte mit den Schwerpunktthemen Alkoholabhängigkeit, Verlust und Trauer ist in einfacher Sprache abwechselnd aus der Sicht von Mickey und Arlo erzählt. Sie ist stellenweise humorvoll und liest sich sehr flüssig. Nach und nach lernen wir die Protagonistinnen kennen, die geprägt sind von sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit ihrem Vater. Mickey ist die verlassene und bindungsunfähige Tochter, die in materiell eher ärmlichen Verhältnissen bei ihrer Mutter aufgewachsen ist. Die vom Vater an sie weitergegebene Alkoholsucht will sie nicht wahrhaben. Arlo hingegen lebte in materieller Sicherheit, wurde vom wohlhabenden Vater verwöhnt und tat alles, um ihm zu gefallen, bis hin zur Aufopferung während seiner letzten Lebensmonate. 

Die Autorin beschreibt die Gefühls- und Gedankenwelt der Frauen sehr intensiv, wir erleben außer den Therapiestunden nicht nur, wie sie sich behutsam einander annähern, sondern auch ihre unterschiedlichen Erinnerungen an den Verstorbenen, ihre Trauer und Wut. Mickeys Alkoholabhängigkeit bleibt sowohl privat als auch im beruflichen Bereich nicht folgenlos, während Arlo der Selbstmord einer Patientin immer noch beschäftigt und belastet. 

Ich habe den ungewöhnlichen Roman, in den die Autorin eigene Erfahrungen hat einfließen lassen, bis zum hoffnungsvollen Ende gern gelesen. Er hat mich gefesselt und berührt, jedoch war mir das ernste Thema Alkoholismus etwas zu leicht und oberflächlich abgehandelt. Die Nebenfiguren empfand ich - bis auf den kleinen Ian und Mickeys Nachbarin Daria - als wenig authentisch, einige Passagen des Buches, wie z.B. die Schilderung der Beerdigung, fand ich ziemlich überzogen und unrealistisch. 

Trotz einiger Schwächen Leseempfehlung und 3 Sterne!

Bewertung vom 28.02.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


sehr gut

Faszinierende Familiengeschichte
Nach ihrem erfolgreichen Debütroman "Fleishman steckt in Schwierigkeiten", der 2019 für den National Book Award nominiert war, hat die amerikanische Autorin Taffy Brodesser-Akner nun "Die Fletchers von Long Island" veröffentlicht.

Die jüdisch-amerikanische Familie Fletcher hat beträchtlichen Wohlstand erlangt, seit Zelig Fletcher 1942 als blinder Passagier mit einem Ozeandampfer von Polen nach Amerika gekommen ist und ein erfolgreiches Unternehmen gründete, das Styropor produziert. Seit seinem frühen Tod führt sein Sohn Carl die Firma.
Am 12. März 1980 wird Carl auf dem Weg zur Arbeit vor seiner Haustür in Middle Rock auf Long Island von zwei Männern überwältigt. Sie ziehen ihm einen Sack über den Kopf und entführen ihn in seinem eigenen Auto. Nach 5 Tagen fordern die Entführer die Hinterlegung eines Lösegelds in Höhe von 250.000 Dollar. Nur 10 Minuten, nachdem Carls Ehefrau Ruth, die mit ihrem dritten Kind schwanger ist, der Forderung nachgekommen ist, wird Carl freigelassen. Wenig später führen markierte Geldscheine das FBI auf die Spur der Entführer, das restliche Lösegeld bleibt unauffindbar, der Fall wird geschlossen.

Es gab ein Leben vor der Entführung, nun beginnt das Leben danach, und die Familie Fletcher versucht, den Vorfall hinter sich zu lassen, indem sie nicht mehr über das Geschehene redet. Nachdem Carl aus dem Krankenhaus entlassen wird, zieht er mit Ruth und den beiden Söhnen Nathan und Bernard, genannt Beamer, in ein Verwalterhaus auf dem Anwesen seiner Mutter Phyllis. Im gleichen Jahr wird Jennifer geboren.

40 Jahre später ist klar, dass das Verbrechen bei allen Familienmitgliedern tiefe Spuren hinterlassen hat. Die Autorin dokumentiert die emotionalen Auswirkungen und stellt dabei besonders die Kinder von Carl und Ruth in den Fokus. Nathan, der ältere Sohn, ist Anwalt geworden und leidet unter Tics und Angststörungen, die seine Karriere behindern. Sein Bruder Beamer ist Drehbuchautor mit mäßigem Erfolg, er führt ein exzessives Leben mit zu viel Drogen und Affären. Jenny, die Klügste der Geschwister, lehnt den familiären Reichtum ab und distanziert sich von ihrer Familie. 

Das Buch ist in schöner und klarer Sprache geschrieben, die Autorin verfügt über eine beeindruckende Beobachtungsgabe und skizziert ihre Protagonisten sehr genau. Ich habe die Geschichte bis zum überraschenden Ende sehr gern gelesen, auch wenn mir keine der Figuren wirklich sympathisch war und der mittlere Teil, in dem es um das Leben von Nathan, Beamer und Jenny geht, etwas zu sehr in die Länge gezogen ist. 

Sehr gut gefallen hat mir, dass die Autorin dem Leser einen tiefen Einblick in das jüdische Leben mit all seinen Sitten und Ritualen ermöglicht. Ich mochte auch die gesellschaftskritischen Aspekte des Buches, auf die detaillierten Schilderungen der regelmäßigen Besuche eines Familienmitglieds bei einer Domina hätte ich dagegen gut verzichten können. 

Leseempfehlung für diesen faszinierenden Roman, der einmal mehr zeigt, dass Reichtum allein nicht glücklich macht.

Bewertung vom 26.02.2025
Portrait meiner Mutter mit Geistern
Edel, Rabea

Portrait meiner Mutter mit Geistern


ausgezeichnet

Bewegender und faszinierender Generationenroman
Im Mittelpunkt von "Portrait meiner Mutter mit Geistern", dem aktuellen Roman von Rabea Edel, dessen Handlung sich durch mehrere Generationen zieht, steht Martha, die Mutter der Autorin.

Zu Beginn lernen wir die Ich-Erzählerin Raisa kennen, Marthas Tochter. Die beiden sind erst vor kurzem mit einsetzender Schulpflicht des Mädchens wieder in Marthas Heimatort sesshaft geworden. Sie waren auf Wanderschaft und blieben nie lange an einem Ort. Raisa ist nun 7 Jahre alt und beginnt, Fragen nach ihrem Vater und ihren Großeltern zu stellen, die sie nie kennengelernt hat. Doch ihre Mutter schweigt, und es wird Jahre dauern, bis sie sich ihrer Tochter behutsam auf eine ganz besondere Art und Weise öffnet.

Die Geschichte fordert den Leser, sie enthält zahlreiche Zeitsprünge, es geht vor und zurück und umgekehrt. Man muss sich einlassen auf diese anspruchsvolle Lektüre, aufmerksames Lesen ist erforderlich, um den Faden nicht zu verlieren. Der Stammbaum auf den beiden ersten und letzten Buchseiten ist äußerst hilfreich, um jederzeit die Familienstruktur nachvollziehen zu können. Ohne diesen Stammbaum wäre ich verloren gewesen, zumal die Handlung zurückgeht bis in die zwanziger Jahre. Der Leser lernt nach und nach viele Personen kennen, und langsam setzen sich die vielen Puzzlestücke zu einem Ganzen zusammen.

Das Buch gab mir zu Beginn viele Rätsel auf, die Zeitsprünge irritierten mich und störten meinen Lesefluss, doch im Laufe der Handlung faszinierte es mich immer mehr und ließ mich tief eintauchen in die Geschichte einer Familie, in der viel zu oft geschwiegen wurde. Neben Raisa und Martha lernen wir auch Marthas Mutter Selma und Großmutter Dina kennen, verfolgen ihre Lebenswege und erleben dabei ihre Tragödien und ihr Leid. Eine besondere Rolle kommt Jakob zu, der unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit 25 Jahren nach Amerika ausgewandert ist und dessen Schicksal mich ganz besonders berührt hat.

Rabea Edels Sprache ist klar und eindringlich, den sehr speziellen Erzählstil fand ich nicht nur aufgrund der vielen Zeitsprünge etwas gewöhnungsbedürftig. Nicht nur ihre Protagonisten, sondern auch die Nebenfiguren zeichnet die Autorin so bildhaft und authentisch, dass ich sie mir gut vorstellen konnte.
Am Ende bleibt manches offen, es bleibt Raum für eigene Gedanken. Ich habe die fesselnde Geschichte, in der es neben Liebe und Verlust, Schweigen, Lügen und Gewalt auch um traumatische Ereignisse und verdrängte Erinnerungen geht, sehr gern gelesen, sie hat mich gleichermaßen erschüttert und zutiefst berührt.

Absolute Leseempfehlung!