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Bücherfreundin

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Insgesamt 256 Bewertungen
Bewertung vom 20.07.2024
Bevor wir uns vergessen
Abécassis, Éliette;Gleinig, Kirsten

Bevor wir uns vergessen


ausgezeichnet

Schöne Liebesgeschichte - ganz wunderbar erzählt
Im Mittelpunkt von "Bevor wir uns vergessen", dem aktuellen Roman der französischen Autorin Éliette Abécassis, stehen Alice und Jules, die seit über 60 Jahren ein Paar sind.

Im ersten Kapitel, wir schreiben das Jahr 2022, lernen wir Alice und Jules kennen, die Mitte Achtzig sind und sich auf einer Parkbank im Jardin du Luxembourg treffen. Die beiden sind sich sympathisch und kommen ins Gespräch, aber sie wissen nicht, dass sie sich nicht zum ersten Mal begegnen, dass ein gemeinsames langes Leben hinter ihnen liegt. 

Die Autorin erzählt die Geschichte in umgekehrter Chronologie und blättert dabei langsam die lebenslange Beziehung eines Paares auf, das durch Höhen und Tiefen gegangen ist. Alice ist 18 Jahre alt, als sie im Mai 1955 dem 22-jährigen Jules begegnet. Auf ihre zu Beginn heimliche Liebesbeziehung folgen Heirat und die Geburten ihrer beiden Kinder. Doch das Glück der beiden ist nicht von Dauer. Jules verfolgt mit viel Ehrgeiz und Fleiß seine Karriere als Architekt, während Alice sich um die Kinder und den Haushalt kümmert. Das Paar verbringt nur noch wenig Zeit miteinander, und Alice fühlt sich zunehmend von ihrem Mann vernachlässigt.

Der mitreißende Roman ist in ganz wunderbarer Sprache geschrieben und hat mich von Beginn an begeistert. Die Autorin hat die interessanten Figuren sehr authentisch skizziert. Ich mochte Alice und Jules und habe sie gern durch die Jahrzehnte begleitet, dabei nicht nur ihren Alltag erlebt, ihre Unzufriedenheit und Irrwege, sondern auch die tiefe Zuneigung gespürt, die sie verbindet. Obwohl sie so verschieden sind und unterschiedliche Eigenarten und Vorlieben haben, finden sie sich immer wieder. Jules liebt und verehrt seine Frau, dennoch können sie ihr Glück nicht bewahren. 

Die Geschichte, in der es um Liebe, Leidenschaft und Sehnsucht, Untreue und Altwerden geht, hat mir sehr gut gefallen, sie hat mich gefesselt und tief bewegt. Ich fand das Buch ganz großartig, ich mochte die kluge Sprache und den außergewöhnlichen, rückwärts gerichteten Erzählstil. Ich mochte auch Alice und Jules, auch wenn ich ihre Handlungsweisen nicht immer verstanden habe. Dass die beiden trotz aller Widrigkeiten und Enttäuschungen eine tiefe Liebe verbindet, die sie bis in hohe Alter zusammenhält, hat mich sehr berührt. Ein krönender Abschluss ist für mich der Brief am Ende des Buches, den Jules nach ihrem Kennenlernen an Alice geschrieben hat und der eine wichtige Rolle in der Geschichte spielt.

Leider umfasst das Buch nur 174 Seiten. Gern hätte ich noch viel mehr über Alice und Jules gelesen - absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Roman!

Bewertung vom 18.07.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Ergreifendes Familiendrama
Im Mittelpunkt des zweiten Romans "Kleine Monster" der österreichischen Autorin Jessica Lind stehen die Mittdreißiger Pia und Jakob sowie ihr 7-jähriger Sohn Luca. Die Eltern werden zu Lucas Klassenlehrerin zitiert, die ihnen eröffnet, dass es einen Vorfall mit einem Mädchen gegeben habe. Es sei während der Pause in der Klasse passiert, und das Mädchen habe angegeben, dass es bereits öfter dazu gekommen sei. Das Vorkommnis spricht sich sofort herum, Pia und Jakob werden unverzüglich aus der Eltern-WhatsApp-Gruppe entfernt. Während Jakob von der Unschuld seines Sohnes überzeugt ist, ist Pia verunsichert, Zweifel kommen in ihr auf. Sie versucht herauszufinden, was im Klassenzimmer passiert ist, doch Luca blockt ab. Er schweigt, und von nun an beobachtet Pia ihr Kind ganz genau ....
 
Die packende Geschichte ist auf zwei Zeitebenen erzählt. Während Pia sich im Hier und Jetzt verzweifelt bemüht, Luca zum Reden zu bringen, erinnert sie sich an ihre eigene Kindheit, als sie und ihre Schwestern Romi und Linda unzertrennlich waren, und sie denkt zurück an das traumatische Ereignis, das sich in der Familie ereignete, als sie in Lucas Alter war.
Auf der zweiten Erzählebene blättert sich behutsam Pias Kindheit auf. Sie ist zwei Jahre alt, als die Eltern die fast gleichaltrige Romi adoptieren. Wenige Jahre später wird Linda geboren. Sie sind eine glückliche Familie, bis es zu einer schrecklichen Tragödie kommt. Das Unglück verändert die Mutter, die sich seither immer geweigert hat, über dessen nähere Umstände zu sprechen. 
 
Die Autorin beschreibt sehr eindrücklich Pias Umgang mit der belastenden Situation, ihr Misstrauen und dessen Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung. Pia beobachtet Luca und reagiert fast panisch, als sie ihn anlässlich eines Familienbesuches aus den Augen verliert. Geht eine Gefahr von ihm aus, wenn er mit seiner 3-jährigen Cousine spielt?
 
Die Geschichte ist in klarer und intelligenter Sprache geschrieben, sie liest sich flüssig. Der Autorin ist es gelungen, die Charaktere authentisch und bildhaft zu beschreiben, sie lässt uns tief in Pias Gefühls- und Gedankenwelt blicken. Wir erleben Pias Verzweiflung und Ängste, sie quält sich, ist zwischen Liebe und Wut hin- und hergerissen. Ich hatte nicht nur großes Mitgefühl für die verunsicherte Pia, sondern auch für Luca, der dem Misstrauen seiner Mutter ausgesetzt ist. Die Lektüre ist keine leichte Kost, es geht neben Verdrängung und Trauer auch um Schuldgefühle und Ausgrenzung. Das Buch hat mir sehr gut gefallen, es hat mich gefesselt und zutiefst bewegt. 

Absolute Leseempfehlung für dieses tiefgründige Familiendrama!

Bewertung vom 15.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


ausgezeichnet

Berührend und fesselnd
Ich habe ein Faible für Romane irischer Autoren und habe mich nach dem Lesen des vielversprechenden Klappentextes sehr auf "Mitternachtsschwimmer", den Debütroman der Autorin Roisin Maguire, gefreut.  
 
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 50-jährige Grace Kielty, die in dem kleinen Dorf Ballybrady an der irischen Küste lebt und ein sehr zurückgezogenes Leben führt. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit der Vermietung des kleinen Cottages, in dem sie aufgewachsen ist, und dem Anfertigen von Quilts. Sie schwimmt bei jedem Wetter mit großer Leidenschaft im Meer, angelt und widmet sich ihrem Hund, dem sie keinen Namen gegeben hat. Kurz bevor es zum Lockdown kommt, bezieht Evan Moore, der sich am Tiefpunkt seines Lebens befindet, Grace' Cottage. Er hat sich eine Auszeit genommen und das Haus für eine Woche gemietet. Seine Ehe steckt in einer tiefen Krise, nachdem er und seine Frau Lorna ihre kleine Tochter Jessie verloren haben. Evan verbringt eine ruhige Woche im Cottage, schläft viel und widmet sich seinem Hobby, der Fotografie. Mit Beginn des Lockdowns verlängert sich Evans Aufenthalt in dem kleinen Dorf. Er lernt nun nicht nur Grace, sondern auch die Bewohner des Dorfes besser kennen. Seine Situation verändert sich, als Lorna ihn bittet, den 8-jährigen gemeinsamen Sohn Luca zu sich zu nehmen, damit sie arbeiten kann ...

Das Buch hat mich sehr gefesselt, es liest sich flüssig und ist in schöner Sprache geschrieben. Es hat mir viel Freude gemacht, die liebevoll gezeichneten Personen kennenzulernen. Die eigenwillige und tierliebe Grace, unter deren harter Schale sich ein weicher Kern verbirgt, habe ich sofort ins Herz geschlossen. Sie wird von den Dorfbewohnern als verrückt angesehen und ärgert sich über die Touristen, die ihren Strand aufsuchen. Ich mochte auch den traumatisierten und trauernden Evan, dem es endlich gelingt, Zugang zu seinem gehörlosen Sohn zu finden, welcher in der neuen Umgebung aufblüht, eine verständnisvolle Freundin findet und großes Interesse für Meerestiere entwickelt. Auch die Dorfbewohner mit ihren Eigenarten sind so großartig gezeichnet, dass ich sie mir gut vorstellen konnte.

Die Landschaft, die Naturgewalten und die Faszination des Meeres sind intensiv und detailreich beschrieben. Besonders berührend fand ich den Teil des Buches, in dem die Autorin Lucas Entwicklung, sein besonderes Verhältnis zu Grace und die behutsame Annährung zwischen ihm und seinem Vater beschreibt.

Ich habe den melancholischen und ruhig geschriebenen Roman, in dem es neben Trauer und Verlust auch um Liebe, Freundschaft und Hoffnung geht, sehr gern gelesen. Er hat mich gleichermaßen gefesselt und berührt - absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 14.07.2024
Himbeereis am Fluss
Parr, Maria

Himbeereis am Fluss


ausgezeichnet

Mit viel Herz und Humor erzählte Geschichte
Die norwegische Autorin Maria Parr hat mit "Himbeereis am Fluss" ein wunderbares Buch für Kinder zwischen 5 und 9 Jahren geschrieben. Das hochwertig gestaltete Kinderbuch, das im Dressler-Verlag erschienen ist, ist auf 205 Seiten in elf auch unabhängig voneinander zu lesende Kapitel gegliedert. Die einzelnen Episoden eignen sich wunderbar zum Vorlesen, sind aber auch für Erstleser geeignet. Die Schrift ist groß und gut lesbar, die Sprache altersgerecht. Die zauberhaften und farbenfrohen Illustrationen von Åshild Irgens ergänzen die Texte.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Ida und Oskar, die mit ihren Eltern in einem großen roten Haus leben. Ida ist 7, ihr Bruder 5 Jahre alt, die beiden teilen sich ein Zimmer. Sie erleben viele Abenteuer, streiten und versöhnen sich, Oskar wird eingeschult, und Ida träumt von einem eigenen Zimmer. Mit viel Herz und genauso viel Witz und Humor erzählt die Autorin Geschichten aus dem Alltag der Familie. Es geht in dem Buch auch um Veränderungen und Verluste, die für alle sehr schmerzlich sind. Altersgerecht und sehr feinfühlig beschreibt die Autorin den Umgang der Kinder mit der Krankheit und dem Tod ihres Onkels Øywind.

Die Geschichte ist aus Idas Sicht in der Ich-Form erzählt. Sie lässt uns in ihre kindliche Gefühls- und Gedankenwelt blicken und macht ihrem Ärger über Oskar Luft. Als große Schwester fühlt sie sich oft für den kleinen und chaotischen Bruder verantwortlich und muss dabei immer wieder ihre eigenen Wünsche zurückstellen. Mir hat besonders gut das Weihnachtskapitel gefallen, in dem die Familie sich rührend um den verwitweten Onkel Bulle kümmert und dabei eine große Überraschung erlebt.

Mein Fazit: ein wunderschönes Buch zum Vorlesen oder Selberlesen, für das ich mir allerdings noch ein Inhaltsverzeichnis gewünscht hätte, damit man jederzeit schnell auf die Lieblingsepisoden zurückgreifen kann, ohne lange suchen zu müssen.

Absolute Vorlese- und Leseempfehlung für dieses warmherzige Buch, das nicht nur Kinder, sondern auch vorlesende Erwachsene begeistern wird!

Bewertung vom 10.07.2024
Gussie
Wortberg, Christoph

Gussie


gut

Interessante Romanbiografie über Gussie Adenauer
Im Mittelpunkt des aktuellen Romans "Gussie" von Christoph Wortberg steht Auguste Zinsser, kurz Gussie genannt, die zweite Ehefrau von Konrad Adenauer.
 
Die Professorentochter Gussie ist 19 Jahre alt, als sie Konrad Adenauer vorgestellt wird. Sie hat eine Einladung von Emma Adenauer, der Ehefrau Adenauers, zum gemeinsamen Musizieren angenommen. Fünf Jahre später, Emma ist inzwischen verstorben, heiratet Gussie den 19 Jahre Älteren, der mittlerweile Oberbürgermeister von Köln ist und drei Kinder mit in die Ehe bringt. Ihm zuliebe konvertiert sie zum katholischen Glauben. Aus der Ehe gehen fünf Kinder hervor, das erste Kind stirbt 4 Tage nach der Geburt. Gussie widmet sich hingebungsvoll ihrer großen Familie und engagiert sich auf politischem und sozialem Gebiet. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verliert Adenauer sein politisches Amt und ist gezwungen, unterzutauchen. Seine Frau wird verhaftet und muss eine folgenschwere Entscheidung treffen.
 
Auf einer zweiten Erzählebene blickt die inzwischen 52-jährige und dem Tode geweihte Gussie während ihrer letzten Tage auf ihr Leben zurück. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie noch bei den Eltern lebte, an ihren liebevollen Vater, der seiner neugierigen und wissbegierigen Tochter alle Fragen beantwortete und immer für sie da war. Er ist ganz anders als ihr ruhiger Ehemann, dessen Schweigen sie so oft zur Verzweiflung bringt und dem es schwerfällt, sein Herz zu öffnen und seine Gefühle zu zeigen.
 
Das Buch ist in einfacher Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Wir lernen Gussie als fröhliches Mädchen kennen, das mit Hingabe Geige spielt, eine gute Schülerin ist und dem ein Studium verwehrt wird, weil es als höhere Tochter für die Ehe bestimmt ist. Gussie gewinnt mit ihrer lieben und lebensfrohen Art sehr schnell die Herzen ihrer Stiefkinder und ist Adenauer eine liebende Ehefrau. Der Autor bringt uns mit viel Empathie nicht nur ihre Persönlichkeit nahe, sondern auch ihre Enttäuschung über das Schweigen ihres Mannes, Kummer, Leid, Schuldgefühle und ihre lebenslange Trauer über den Tod des erstgeborenen Kindes. 
 
Gussies Lebensgeschichte ist sorgfältig recherchiert und spannend erzählt. Auch der politische Hintergrund und die schwierigen Lebensbedingungen während der NS-Zeit sind sehr gut dargestellt.
Die Beschreibung Gussies letzter Lebenstage hat mich leider nicht überzeugt, ich fand sie stellenweise recht unrealistisch und insgesamt zu rührselig dargestellt. Das Buch beruht auf vielen tatsächlichen Begebenheiten, da wundert es mich, dass die allen Kapiteln vorangestellten Briefauszüge nicht Gussies tatsächlicher Korrespondenz entnommen wurden, sondern nur fiktiv sind. 
 
Nicht unerwähnt lassen möchte ich das schöne Cover mit dem Auszug eines Gemäldes, das Helene von der Leyen 1927 im Auftrag Konrad Adenauers von dessen damals 32-jähriger Frau angefertigt hat. Das vollständige Bild ist auf der ersten und der letzten Buchseite dargestellt. 

Bewertung vom 08.07.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

Erschütternde und bewegende Fluchtgeschichte
In seinem Debüt "Solito" erzählt Javier Zamora seine eigene, sehr persönliche Geschichte. Er ist 9 Jahre alt und lebt bei seinen Großeltern und seinen Tanten in einem kleinen Ort in El Salvador. Seine Eltern haben wegen des Bürgerkriegs ihre Heimat verlassen, den Vater hat Javier mit zwei Jahren zum letzten Mal gesehen. Die Mutter folgte dem Vater drei Jahre später. Im März 1999 beauftragen Javiers Eltern den Schlepper Don Dago, ihren Sohn zu ihnen nach Kalifornien zu bringen. Die Reise soll zwei Wochen dauern. Am 6. April ist es soweit, außer Javier und Don Dago werden noch 6 weitere Personen dabei sein.

Die Flucht ist schwierig und gefährlich, viele Meilen müssen in mehreren Etappen mit dem Boot, in Bussen, LKWs und zu Fuß bewältigt werden. Immer wieder stößt die Gruppe an ihre körperlichen Grenzen, die langen Fußmärsche in nächtlicher Kälte und sengender Hitze bei Tag über viele Stunden sowie Hunger und quälender Durst machen ihr zu schaffen. Zwischen den Etappen kommt es zu Wartezeiten, die die Flüchtlinge meistens hinter verschlossenen Türen in heruntergekommenen Häusern verbringen müssen.

Javier Zamora erzählt die Fluchtgeschichte als Ich-Erzähler und gewährt uns dabei einen intensiven Blick in die Seele und Gedanken des 9-jährigen Jungen, der er damals war. Wir begleiten ihn auf der langen Reise und erleben nicht nur seine Sorgen, Nöte und Ängste, sondern spüren auch seine Einsamkeit und seine Sehnsucht nach körperlicher Nähe und Zuwendung. Er passt sich der Gruppe an, möchte tapfer und stark sein, seine Eltern sollen stolz auf ihren Jungen sein. 

Die bewegende Geschichte über die siebenwöchige Odyssee ist packend und mitreißend in schöner Sprache erzählt. Sie hat mich gleichermaßen gefesselt und erschüttert, die emotionalen Abschiedsszenen haben mich zu Tränen gerührt. Ich habe mit Javier mitgelitten und ihm gewünscht, dass alles gut geht und er bald seine Eltern wiedersehen darf. 
Die Figuren sind authentisch beschrieben, neben Javier habe ich Patricia in mein Herz geschlossen, die sich des Jungen annimmt, und Chino, der sich selbstlos um andere kümmert und Javier Sicherheit und Nähe gibt.

In dem Buch geht es um Familie, Mitgefühl, Mut und Nächstenliebe, Ausdauer und Hoffnung, und es behandelt das wichtige und aktuelle Thema Migration. Es hat mich traurig und wütend gemacht wegen der Schwierigkeiten und Gefahren, denen Menschen ausgesetzt sind, die sich auf die Flucht in ein fremdes Land begeben, um dort ein besseres und sicheres Leben zu führen.

Der Autor verwendet zahlreiche spanische Ausdrücke und Redewendungen, deren Übersetzung in einem 16-seitigen Glossar am Buchende zu finden ist. Der Lesefluss leidet leider durch das häufige Vor- und Zurückblättern. Ich finde, es ist nicht unbedingt erforderlich, jedes spanische Wort zu verstehen, um zu begreifen, was passiert. Vieles ergibt sich aus dem Zusammenhang, ich habe daher weitgehend darauf verzichtet, mir die Übersetzungen anzusehen.

Absolute Leseempfehlung für dieses mitreißende Buch, das unter die Haut geht! 

Bewertung vom 02.07.2024
Das Pfauengemälde
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


sehr gut

Anspruchsvolles und mitreißendes Debüt
In ihrem Debütroman "Das Pfauengemälde" erzählt Maria Bidian die Geschichte der Cutterin Ana, die zwei Jahre nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters Nicu in dessen Heimat Rumänien reist. Nach langer Prozessdauer soll ihre Familie endlich vor über 70 Jahren von den Kommunisten enteigneten Besitz zurückerhalten. Dazu gehört neben dem Rumänischen Haus nebst Einrichtung und weiteren Immobilien auch das Pfauengemälde, ein Familienerbstück, von dem Nicu seiner Tochter oft erzählt hat. Er hatte sich immer gewünscht, das Bild, das er liebte, zurückzubekommen und an Ana zu vererben.

Bei der Großfamilie in Rumänien angekommen, erwarten Ana zahlreiche Formalitäten. Doch es gibt Probleme, da ihr rumänischer Pass gerade abgelaufen ist und der deutsche nicht akzeptiert wird. Nun ist sie den Mühlen der Bürokratie ausgeliefert, sie muss lange Wartezeiten in Kauf nehmen, immer wieder legen die Behörden ihr Steine in den Weg. Während die Familie plant, wie die Renovierung des Rumänischen Hauses vonstatten gehen soll, träumt Ana von dem Gemälde, das ihrem Vater so viel bedeutet hat ....

Es hat mir viel Lesefreude bereitet, die Ich-Erzählerin Ana, die auch nach zwei Jahren immer noch sehr unter dem Tod ihres Vaters leidet, auf ihrer Reise zu Nicus Wurzeln zu begleiten. Sie wird liebevoll von der Familie aufgenommen und erfährt Einzelheiten über Nicus Zeit als Widerstandskämpfer, seine Inhaftierung, die Flucht nach Deutschland und die Umstände, die zu seinem Tod geführt haben. Intensiv blicken wir in Anas Gedanken- und Gefühlswelt. Sie erinnert sich nicht nur an zahlreiche Begebenheiten während ihrer Ferienaufenthalte mit dem Vater in Rumänien, sie denkt auch daran, dass sie zu spät kam, als es ihm schlecht ging, und quält sich mit Schuldgefühlen.

Das anspruchsvolle Buch ist in sehr schöner Sprache geschrieben, es hat mich gefesselt und berührt. Die Figuren sind so authentisch und liebevoll gezeichnet, dass ich sie mir gut vorstellen konnte. Eindrücklich beschreibt die Autorin die heutige und damalige Politik in Rumänien, Demonstrationen und Aufstände. Ich fand es sehr interessant, viel über die Lebensumstände der Rumänen zu erfahren, ihre familiären und religiösen Traditionen und Rituale. Sehr gut gefallen hat mir auch der Blick zurück auf Nicus Leben in Deutschland, wo es ihm schwer gemacht wurde, beruflich Fuß zu fassen. Seine lebenslange und tiefe Verbundenheit mit der Heimat hat mich sehr berührt.

Ich habe die mitreißend erzählte Geschichte sehr gern gelesen. Leseempfehlung!

Bewertung vom 26.06.2024
Das erste Licht des Sommers
Raimondi, Daniela

Das erste Licht des Sommers


ausgezeichnet

Großartige und faszinierende Fortsetzung mit Tiefgang
Die italienische Schriftstellerin Daniela Raimondi hat mit "Das erste Licht des Sommers" einen Generationenroman über die Familie Casadio geschrieben, der an ihren Debütroman "An den Ufern von Stellata" anknüpft, welcher es 2020 auf Anhieb auf die italienische Bestsellerliste geschafft hatte. Die Bücher können durchaus unabhängig voneinander gelesen werden, ich denke aber, dass das Lesevergnügen gesteigert wird, wenn man das erste Buch gelesen hat und die Familienstrukturen und Zusammenhänge bereits kennt.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Norma Martiroli, die 1947 geboren wird. Ihre Eltern Guido und Elsa sind erst 20 Jahre alt, als sie aufgrund Elsas unverhoffter Schwangerschaft heiraten. Normas Mutter bringt ihrer Tochter wenig Zuneigung entgegen, während Guido ihr ein herzlicher und liebevoller Vater ist. Ihre Cousine Donata, die Tochter von Guidos Zwillingsbruder Dolfo und dessen Frau Zena, ist ihre liebste Freundin. Regelmäßig verbringt Norma die Sommerferien bei ihren Großeltern in Stellata, wo sie den gleichaltrigen Elia kennenlernt. Die beiden sind als Kinder unzertrennlich und treffen sich während der Ferien jeden Tag zum Spielen. Ihre Wege trennen sich, und erst Jahre später begegnen sie sich in London wieder, wo Norma nach einem Schicksalsschlag auf eine Sprachenschule geht. Norma und Elia verlieben sich ineinander und heiraten ... 

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Wir begleiten Norma über eine Zeitspanne von fast 70 Jahren, vom Tag ihrer Geburt bis 2015. Die zweite Erzählebene erstreckt sich über einen Zeitraum von nur wenigen Monaten. Norma kehrt mit ihrer schwer an Krebs erkrankten Mutter Elsa nach Stellata zurück, um sie während ihrer letzten Lebensphase zu unterstützen und zu begleiten.

Das Buch ist in wunderschöner Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Wir begleiten Norma auf ihrem Lebensweg, erleben ihre Kindheit, Liebe und Glück, aber auch ihre Tragödien und ihr Leid. Liebevoll und mit viel Empathie beschreibt Daniela Raimondi neben Norma auch die anderen Familienmitglieder mit ihren Emotionen, Gedanken und Träumen.
Ich konnte in Normas Leben und ihre Gefühls- und Gedankenwelt eintauchen, habe mich mit ihr gefreut und war traurig über ihre Enttäuschungen und Schicksalsschläge. Es war schön, vielen Personen aus dem ersten Band wieder zu begegnen, neue Menschen kennenzulernen und ihre Wege zu verfolgen. 

Die Autorin beschreibt Normas Beziehung zur Mutter sehr beeindruckend. Ich konnte gut nachfühlen, dass Norma unter Elsas Gefühlskälte sehr gelitten hat und es sie ein Leben lang schmerzte, dass es nie eine herzliche Umarmung von ihrer Mutter gegeben hat. Sehr berührend fand ich, dass sie Elsa trotz des schwierigen Verhältnisses auf dem letzten Stück ihres Weges begleitet hat.

Sehr gut gefallen hat mir, dass die Autorin wie bereits im ersten Buch das Leben der Familienmitglieder mit den jeweiligen geschichtlichen und politischen Gegebenheiten und Ereignissen verknüpft hat. Ich habe das vollkommen kitschfreie Buch, in dem es neben Familie und Freundschaft, Liebe, Verrat und Verzeihen auch um die Offenbarung eines gut gehüteten Geheimnisses sowie seherische Fähigkeiten geht, mit großer Begeisterung gelesen, es hat mich von Beginn an bis zum stimmigen Ende gefesselt und zutiefst berührt. 

Ich war bereits von "An den Ufern von Stellata" sehr angetan und hatte daher hohe Erwartungen an die Fortsetzung - ich bin nicht enttäuscht worden und vergebe sehr gern 5 Sterne.

Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.06.2024
Das Waldhaus
Webb, Liz

Das Waldhaus


sehr gut

Spannendes Debüt
In ihrem Thrillerdebüt "Das Waldhaus" erzählt die britische Autorin Liz Webb die Geschichte der 37-jährigen Hannah Davidson. Die Ich-Erzählerin hat ein massives Alkoholproblem, als sie sich dazu entschließt, ihren Job in einem Schreibwarenladen aufzugeben und in ihr Elternhaus zurückzukehren, um ihren demenzkranken Vater Philip, einen ehemaligen Physikprofessor, zu versorgen. Ihre Mutter Jennifer lebt nicht mehr, sie ist vor 23 Jahren unter mysteriösen Umständen im Wald hinter dem Haus ums Leben gekommen. Ob es sich um Mord oder Selbstmord handelte, konnte nicht geklärt werden. Philip ging in den vorzeitigen Ruhestand, veröffentlichte nie wieder ein Buch und lebt seither völlig zurückgezogen. Reece, Hannahs älterer Bruder, ist fest davon überzeugt, dass der Vater die Mutter getötet hat. Er hat sein Elternhaus zwei Wochen nach dem Tod der Mutter verlassen, um in Cambridge zu studieren. Mittlerweile ist er ein unter dem Namen Ryan Patterson erfolgreicher und beliebter Schauspieler. Der Kontakt zwischen den Geschwistern wurde im Laufe der Jahre immer weniger und ist inzwischen weitgehend eingeschlafen.

Hannah hat ihren Vater nie für schuldig am Tod der Mutter gehalten. Sie ist daher sehr überrascht, als er sie für ihre Mutter hält und um Verzeihung bittet. Hat ihr Vater die Mutter doch ermordet? Hannah will herausfinden, was in der damaligen Nacht passiert ist und bittet Chris Manning, der damals die polizeilichen Ermittlungen leitete und mittlerweile nach einer Schussverletzung im Rollstuhl sitzt und seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, ihr bei der Suche nach der Wahrheit zu helfen ...

Das Buch ist mehr ein Familiendrama als ein Thriller, dennoch fand ich es spannend. Wir begleiten Hannah bei ihren Ermittlungen und lernen neben den Familienmitgliedern auch die Nachbarn kennen, Libbie und Frank Roberts sowie ihren Sohn Marcus, der einst der beste Freund von Reece war. Auch im beruflichen Umfeld der Mutter, die als Fotografin arbeitete, sowie in ihrem Freundeskreis gibt es verdächtige Personen, zu denen Hannah Kontakt aufnimmt. Es kommt zu einigen Wendungen, der Aufdeckung von Familiengeheimnissen und unerwarteten Erkenntnissen über das Leben der Mutter, so dass die Suche nach dem Täter trotz der geringen Anzahl Verdächtiger spannend bleibt.

Der spektakuläre Showdown ist für meinen Geschmack etwas zu dick aufgetragen, und das Ende hätte ich mir weniger kitschig gewünscht. Die Charaktere sind sehr gut skizziert, allen voran Hannah, die nicht gerade sympathische und anstrengende junge Frau, die bis zur Bewusstlosigkeit trinkt. Gut gefallen haben mir die Beschreibungen der unterschiedlichen Familienbeziehungen, ganz besonders die Beziehung der Geschwister zueinander. Das Buch liest sich sehr flüssig, und ich habe mich gut unterhalten gefühlt. Der Autorin ist es gelungen, mich auf falsche Fährten zu locken, erst kurz vor dem Ende habe ich die Auflösung geahnt.

Ich empfehle das Buch allen Lesern, die gern ruhig geschriebene Thriller mit viel familiärem Beiwerk lesen.

Bewertung vom 13.06.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


sehr gut

Fesselnd und berührend
Die Ich-Erzählerin Zora del Buono ist gerade 8 Monate alt, als ihr Vater Manfredi del Buono, ein 33-jähriger angesehener Oberarzt, schwer verunglückt. Er sitzt neben seinem Schwager in dessen VW Käfer, als das Fahrzeug des 28-jährigen E.T. bei einem riskanten Überholmanöver mit überhöhter Geschwindigkeit frontal mit dem VW Käfer zusammenstößt. Der Vater erleidet neben einem Genickbruch zahlreiche weitere Verletzungen und verstirbt wenig später. Zora wächst bei ihrer Mutter auf, die nie wieder heiraten wird. Sie hat eine glückliche Kindheit und vermisst ihren Vater, an den sie keine Erinnerungen hat, nicht. Die Mutter spricht nur selten über ihn, die Tochter kann dann ihren Schmerz nicht ertragen. Viele Jahre später, Zora ist mittlerweile 60 Jahre alt, und ihre demenzkranke Mutter lebt in ihrer eigenen Welt, macht sie sich Gedanken darüber, was aus E.T. geworden ist und wie er all die Jahre mit seiner Schuld gelebt hat. Sie beginnt zu recherchieren ...

Das Buch ist in einem sehr speziellen, etwas gewöhnungsbedürftigen Stil geschrieben. Wir begleiten die Autorin bei ihren Recherchen, ihren Besuchen im Pflegeheim, erleben intensive und tiefgründige Kaffeehaus-Gespräche mit ihren Freunden Isadora, Henri und Munz. Wir folgen ihren zahlreichen Gedankensprüngen, die uns in die Vergangenheit führen und interessante Einblicke in Zoras Leben und das Leben ihrer Familie ermöglichen.

Es erleichtert Zoras Suche nach dem Unfallverursacher, dass sie aus alten Dokumenten ihrer Mutter den vollständigen Namen von E.T. erfährt. Dank der Unterstützung eines Mitarbeiters des Staatsarchivs gelangt sie sogar in den Besitz der Prozessakten. Sie führt zahlreiche Telefonate und persönliche Gespräche, nach und nach setzen sich viele Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen. Nun ist der Mann, durch dessen Schuld das Leben des Vaters ausgelöscht wurde, kein Fremder mehr, er hat ein Gesicht bekommen. Zora ist überrascht über das Ergebnis ihrer Recherchen und muss das Bild, das sie sich von E.T. gemacht hat, korrigieren.

Das Buch, das auch private Fotos enthält, ist in klarer, fast sachlicher Sprache geschrieben und hat mich sehr gefesselt. Es ist ein Buch nicht nur über Zoras Leben und ihre Suche nach dem Unfallverursacher, es geht neben Themen wie Verlust und Trauer, Schuld und Vergebung auch um Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Die Gedankengänge der Autorin haben mich teilweise sehr berührt, ebenso ihre Gespräche mit der demenzkranken Mutter. Sehr interessant fand ich auch die Ausführungen zur Schweizer Rechtsprechung und den Volksabstimmungen. 

"Seinetwegen" hat mir sehr gut gefallen - Leseempfehlung von mir!