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Betty Literatur

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Insgesamt 85 Bewertungen
Bewertung vom 10.03.2025
Humbi und Mohna auf der wilden Wiese
Lendl, Carina

Humbi und Mohna auf der wilden Wiese


ausgezeichnet

Humbi und Mohna auf der wilden Wiese
Es ist Frühling und die Tiere verlassen ihre Winterquartiere. So auch Humbi, die Steinhummelkönigin und ihre neue Freundin die Mohnbiene Mohna.
Gemeinsam erkunden sie die Umgebung und lernen neue Freunde kennen.
Doch die Idylle ist in Gefahr, denn die Trampler (Menschen) zerstören die Natur.
Ignaz, der Igel, ist weit rumgekommen und hat bereits Erfahrungen mit Tramplern. Er berät die Tiere, was zu tun ist.
Dieses Kinderbuch ist zum Vorlesen oder selber Lesen geeignet, und zeigt aus Sicht der vielen Tiere und Insekten auf der Wiese die Zerbrechlichkeit der Natur und die Bedeutung dieser kleinen Lebewesen.
Carina Lendl erzählt phantasievoll, liebevoll und witzig die Geschichte der Insektenfreundinnen, in einer Welt voller Farben und Blüten, die schwarz-weißen Illustrationen von Hannelore Demel-Lerchster bereichern den Text und laden zum Anmalen ein. Für Kinder ab 8 Jahren.

Bewertung vom 28.02.2025
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


sehr gut

„Was ist ein Leben wert, wenn niemand sich mit dir erinnert?“

Die Erzählerin erinnert sich an ihre Kindheit und die Freundschaft mit Zeyna und Cem, mit denen sie gemeinsam ihre Kindheit in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet verbracht hat.
Es ist Ende der 80er Jahre, und wie selbstverständlich haben nicht nur die deutsche Hanna, der türkische Cem und die aus dem Libanon geflüchtete Zeyna Kontakt zueinander, auch ihre Eltern, bzw. Großeltern unterstützen sich gegenseitig.
Hanna wächst bei ihren Großeltern auf, Zeyna ist mit ihrem Vater geflüchtet. Beide haben ihre Mutter verloren.
Die beiden Freundinnen sind selber 12 Jahre alt, als Ende 1992 der Brandanschlag auf eine türkische Familie in Mölln durch rechtsextremistische Täter verübt wird, auch 2 Kinder sind unter den Opfern.
„Damals habe ich zum ersten Mal gespürt, dass keiner uns hier haben will, hast du (Zeyna) Jahre später mal gesagt.“
Das Leben im Ruhrgebiet ändert sich. Hanna erlebt die Angst und Ausgrenzung des türkischen Freundes und der libanesischen Freundin.
„Und dann fielen sie zusammen. In aller Stille.“
Die beiden Freundinnen erleben im Urlaub in Frankreich zusammen den Anschlag auf das World Trade Center in NY.
Die Wut der Menschen wendet sich gegen ihre ausländischen Mitbürger.
Zeyna verlässt die Siedlung und reist durch die Welt, sie dokumentiert Kriegs- und Fluchtfolgen der Menschen.
Aber, die Freunde bleiben füreinander da.
Und dann passiert ein Bruch, der dazu führt, dass der Kontakt zwischen den beiden Frauen endet.
„Ganze Bücher, ganze Bibliotheken könnte man füllen mit all den ungesagten Worten, den ungesagten Sätzen.“
Am Ende gelingt es der Erzählerin die Worte zu finden und sich von dem Ungesagten zu befreien.
Dieses Buch hat mich sehr berührt, die Freundschaft und Nähe der Menschen, die so selbstverständlich ist und so viel bedeutet. Die Einsamkeit und Trauer der Erzählerin um die verlorene Freundin sind spürbar, die Last, die sie mit sich trägt.
Rasha Khajat erzählt leise und eindringlich, sie nimmt uns mit in eine tiefe Verbundenheit zwischen 3 Menschen unterschiedlicher Herkunft und deren Familien. Diese Geschichte sollte es öfter geben.

Bewertung vom 08.02.2025
In einem Zug
Glattauer, Daniel

In einem Zug


sehr gut

In einem Zug - Daniel Glattauer
Der Liebesroman-Schriftsteller Eduard Brünhofer teilt sich auf seiner Zugfahrt von Wien nach München das Zugabteil mit einer „frühen mittelalten Frau“, die ihn rasch in einen Dialog verwickelt.
Und während seine Gedanken darum kreisen, die passenden Antworten zu geben oder ihre nächste Frage vorauszusehen, merkt er, dass er sich in einer ausweglosen Situation befindet: Sie fragt. Er antwortet. „Und sie giert nach Antworten. Nach meinen Antworten. Je intimer, desto besser. Sie setzt dabei das gesamte Areal bläulich schimmernden Moosgrüns ihrer Augen ein.“
Sie will alles über seine Vorstellung von der Liebe wissen, wie es ihm und seiner Frau gelungen ist, nach so vielen Ehejahren, ihre Liebe zu bewahren. Sie selber zweifelt an seinem Konzept, ihre Beziehungen verlaufen eher wenig erfolgreich. Im Moment befindet sie sich auf dem Weg zu ihrem Liebhaber, der aber verheiratet ist.
Der Autor, nicht mehr ganz jung, im Moment wenig erfolgreich mit seinen Schreibversuchen, ist geschmeichelt von dem Interesse der jüngeren, attraktiven Frau, die sich als Therapeutin vorstellt. Sie verbringen die 4 Stunden Zugfahrt in intensivem Austausch, unterstützt durch einige Minifläschchen Wein und Sekt aus dem Bordrestaurant.
Dieses Buch ist kein Liebesroman, sondern ein Roman über die Liebe.
Glattauer spielt mit Sprache, es ist ein kleines Kammerspiel, das er hier inszeniert.
Die humorvollen, selbstkritischen Zwischentöne des alternden Mannes, vielleicht auch des Autors, sind überaus überzeugend.
In den spielerische Dialogen zeigen beide Gesprächspartner ihre Gesichter und tauschen ernsthafte Gedanken aus. Und kann kommt noch, kurz vor München, der große Wendepunkt, kritische Stimmen sagen, völlig konstruiert und unrealistisch, ich sage, das ist das Recht der Literatur und des Autors. Dieser Autor betrachtet auch gern zum Schluss schon einmal kritisch aus Perspektive des Verlegers sein eigenes „Werk“.
Ein unterhaltsames Buch, das man „in einem Zug“ durchliest. Mir hat es sehr gefallen. (Auch der ethisch-unmoralische Exkurs des Autors über seinen Alkoholkonsum.)

Bewertung vom 03.02.2025
Eine Frau
Aleramo, Sibilla

Eine Frau


sehr gut

Eine Frau - Sibilla Aleramo

aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
mit einem Nachwort von Elke Heidenreich
Der autobiografische Roman von Sibilla Aleramo wurde erstmals 1906 veröffentlicht, die Autorin gilt als Wegbereiterin des Feminismus in Italien.
Sibilla wächst als ältestes von 4 Kindern in durchaus freien und privilegierten Verhältnissen auf, sie genießt Bildung und verehrt ihren Vater, einen Naturwissenschaftler.
Durch den Umzug der Familie von Mailand nach Süditalien verändert sich das soziale Umfeld. Die Menschen in Süditalien halten an alten Traditionen fest, viele leben in einfachen Verhältnissen, es gibt kaum geistige Anregung für das junge Mädchen. Schon früh übernimmt sie Aufgaben in der Fabrik des Vaters.
Das Verhältnis der Eltern zueinander wird immer angespannter, die Mutter wird depressiv, der Vater wendet sich einer anderen Frau zu. (Vielleicht in anderer Reihenfolge)
In ihrer Einsamkeit und Suche nach Nähe:
„Ich wollte an mein Glück glauben, an meine Gegenwart und meine Zukunft, ich wollte die große Liebe finden, diese Liebe mit sechzehn Jahren, die für ein junges Mädchen die geheimnisvolle Poesie des Lebens verkörpert.“, lässt sie den Kontakt eines jungen Fabrikarbeiters zu, der dies ausnutzt und sich gewaltsam ihren Körper nimmt.
Sie geht die Ehe mit diesem Mann ein, der völlig unter ihrem Niveau ist und ihr aber seine Macht durch körperliche Gewalt beweist.
„Indem ich eine Verbindung mit einem Menschen eingegangen war, der mich unterdrückt und klein gemacht hatte, als ich jung und ungeschützt war, hatte ich geglaubt, damit der Natur, meinem Schicksal als Frau zu gehorchen.“
In der lieblosen Ehe wird ein Sohn geboren, der der jungen Frau Kraft und Halt gibt.
Und sie fängt an, sich mit gesellschaftspolitischen Themen und auch der Rolle der Frau zu beschäftigen, schonungslos, offen und ehrlich analysiert sie die Zustände der Gesellschaft und deren verlogene Moral.
„Das war mein Leben. Behandelt zu werden wie ein Gegenstand, der zu gefallen hatte, meine Seele war gefangen.“
Sie möchte ausbrechen aus diesem Leben, schafft es über viele Jahre nicht, sich von dem brutalen Ehemann zu trennen, weil sie dann auf ihr Kind verzichten müsste.
Sie ist erst 25 Jahre alt, als sie diese schwere Entscheidung trifft und ihr Kind nicht mehr sehen wird.
Dieser Roman ist der Hilferuf einer jungen Frau, die unter Lieblosigkeit, Ausbeutung, Einsamkeit und Gewalt in der Ehe leidet. Die große Offenheit, die für die Zeit ungewöhnlichen Gedanken einer Frau über Freiheit, die Rollen von Mann und Frau sowie Liebe und Sexualität sind beeindruckend.
Schonungslos analysiert sie schon früh ihre Situation, es ist ein langer, schwerer, schmerzhafter Prozess bis zu ihrer Befreiung.
Die konservativen, patriarchalischen Verhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Italien sind erschreckend und bleiben doch immer noch aktuell, überall in der Welt. Jeden Tag.

Bewertung vom 20.01.2025
Von Norden rollt ein Donner
Thielemann, Markus

Von Norden rollt ein Donner


sehr gut

Das Buch taucht ein in die Niedersachsen-Nostalgie der Lüneburger Heide und führt uns die trügerische Idylle vor.
Hannes, 19 Jahre alt, ist Schäfer einer Heidschnuckenherde in der Lüneburger Heide und setzt damit die Tradition der Familie fort.
Auf dem Hof leben 3 Generationen mehr oder wenig friedlich miteinander. Die Arbeit mit den Tieren bestimmt den Tagesablauf, die Gespräche miteinander sind wenig und wortkarg.
Jannes erinnert sich an eine fast verloren gegangene Zeit seiner Kindertage, z.B. das Schützenfest.
„Der Geruch von Altmännerschweiß und Bier, gesogen in schrankmuffigen Stoff. Schulterklopfer, trübe Augen, seliges Grinsen.“
Ein Wolf sorgt für Unruhe in der Region, die Bauern fürchten um ihre Tiere und fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.
Jannes hat auf seinen Wanderungen mit den Tieren durch die Heide merkwürdige Begegnungen, er wird von Erinnerungen aus der Vergangenheit verfolgt und findet keine Ruhe, bis er das Geheimnis gelüftet hat.
Der Roman ist sprachlich sehr gelungen, die akribische, detailverliebte Beschreibungen der Umgebung, die karge Sprache der Bauern, die wortgewaltige Beschreibung der Natur zeigen den Alltag in der Heide, die sich in der Balance zwischen Tradition und Fortschritt befindet.
Dieses starken Bilder könnten direkt zu einem Anti-Heimatroman verfilmt werden.
Die historischen Abgründe des „Idylls“, Zwangsarbeiter, Heimatvertriebe, Arbeitslager und Unmenschlichkeit erinnern an eine grauenhafte Zeit, die die Menschen gern verdrängen
Ein sehr spannendes, empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 07.01.2025
Die Vegetarierin
Kang, Han

Die Vegetarierin


ausgezeichnet

Die Südkoreanerin Han Kang, Gewinnerin des Literaturnobelpreises 2024, erhielt bereits im Jahr 2016 für diesen Roman den britischen Man Booker Preis.
„Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie für nichts Besonderes. Bei unserer ersten Begegnung fand ich sie nicht einmal attraktiv.“
Der Ehemann ist froh, eine Frau zu finden, „die an Durchschnittlichkeit kaum zu überbieten war“, denn er selber ist auch voller Unzulänglichkeiten.
Yong-Hye regelt den Haushalt und bereitet ihm die Mahlzeiten zu. Eines nachts steht sie erstarrt in der Küche und vernichtet alle tierischen Produkte.
„Ich hatte einen Traum“, sagt sie als Erklärung und ernährt sich von nun an vegetarisch. Schlaflos quält sie sich durch die Nacht, verweigert den Sex, da ihr Mann nach Fleisch riecht
In Südkorea gilt Vegetarismus als subversiv und so ist sie von nun an eine „Ausgestoßene“, „Auffällige“. Die Situation eskaliert, als ihr strenger patriarchalischer Vater sie mit Gewalt zwingen will, Fleisch zu sich zu nehmen.
Sie verletzt sich mit einem Messer und wird in eine psychiatrische Klinik eingeliefert.
Ihr Traum wirkt surreal, fast kafkaesk, die Gedanken handeln von Fleisch, Blut, Tod und den Seelen der Tiere, die sie in sich spürt, verbunden mit einem unsagbaren Ekel. Erleichterung findet sie, wenn sie sich entblößt, sich von ihrem BH befreit und die Sonne auf ihren Körper scheinen lässt.
Ihr Schwager, Videokünstler, leidet unter einer verstörenden Phantasie, er sieht Yong-Hye in seinen phantasievollen Träumen voller Sinnlichkeit.
Besonders fasziniert ihn die Vorstellung eines Mongolenflecks oberhalb ihres Gesäßes. Und er wünscht sich diesen Körper mit Blumen zu bemalen, um sich mit ihr zu vereinen.
Sie lässt sich auf das Videoprojekt ein, genießt ihre Nacktheit und will die wunderschönen Blüten auf ihrem Körper behalten. Er bewundert ihre grenzenlose Schönheit, „der Körper, der an eine feurige Blume erinnerte“, lässt sich selber auch bemalen und findet gemeinsam mit ihr Erfüllung.
Die Situation eskaliert, als die Schwester das Paar entdeckt, das Leben der Familie ist zerstört, alle leben fortan getrennt voneinander, Yong-Hye wieder in einer Psychiatrie, in der sie sich weigert, überhaupt noch Nahrung zu sich zu nehmen, sie möchte sich zu einem Baum verwandeln.
Die Schwester kümmert sich weiterhin um sie, zunächst immer mit dem vernünftigen, realitätssicheren Blick, doch dann auch verstehend, die Wandlung ihrer Schwester begreifend und den Blick auf ihr eigenes Leben ändernd.
Dieses faszinierendes Buch ist äußerst verstörend und doch so realistisch. Die Akte der Auflehnung und des Widerstands, der Ruf, nein, „Schrei“ nach Freiheit und Selbstbestimmung sind so eindringlich und erschütternd, aber auch die große Sehnsucht nach Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Phantasie werden endlich zu Ende gedacht.
Ich bin so froh, dass ich dieses Buch gelesen habe, ein großartiges Stück Literatur in leiser und eindringlicher Sprache, gewaltigen Bildern, wechselnden Erzählperspektiven. Dank an die Übersetzerin Ki-Hyang Lee!

Bewertung vom 02.01.2025
Glück
Thomae, Jackie

Glück


sehr gut

Ist das Glück erst perfekt, wenn der Kinderwunsch erfüllt ist?
Zwei berufliche erfolgreiche Frauen ohne feste Partnerschaft sehen sich mit dieser Frage konfrontiert.
Marie-Claire, 39 Jahre alt, erfolgreiche Journalistin, denkt über einen möglichen Kinderwunsch nach und rechnet sich ihre Chancen aus.
Sie seziert den gesellschaftlichen Erwartungsdruck, paarweise zu leben, denkt über die Rituale der Partnerwahl nach und kann sich keinen Partner für ihr ungeborenes Kind vorstellen.
Anahita, Anfang 40, erfolgreiche Politikerin, mit komplizierten eigenen familiären Kontexten („Migrationsschmonzettenhintergrund“), Senatorin, alleinstehend, kinderlos, beschäftigt sich mit der Frage ob sie ihr eigenes „Singleshaming“ endlich ablegen kann. Auch für sie „tickt“ die biologische Uhr.
Neben diesen Frauen begegnen uns auch spannende „Nebenfiguren“, Anahitas Mutter, die trotz großartiger Bildung und Intelligenz sich ganz dem Leben ihres Mannes widmet und im depressiven Rückzug endet, Lydia, Mutter von 3 Kindern, die sich den gesellschaftlichen Erwartungen anpasst,
Maren, spiritueller Coach, die in ihrem Retreat kinderlose Menschen therapiert.
Und dann ist da noch Dr. Nonnenmacher, Ärztin aus Überzeugung, die an ihren Patientinnen ein Medikament zur Verlängerung der Fruchtbarkeit testet.
In diesem Buch geht es um Erwartungsdruck, gesellschaftliche Normen sowie weibliche Selbstbestimmung und die Suche nach dem Glück.
Die individuellen Wege und Entscheidungen dieser Frauen sind spannend und zeigen vielleicht neue Möglichkeiten auf, sich von gesellschaftlichen Normen und Zwängen sowie Geschlechterrollen zu befreien.
Die Autorin schafft es, dieses ernste Thema sehr witzig und unterhaltsam, nachdenklich, analytisch und zukunftsweisend anzugehen.

Bewertung vom 16.11.2024
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Hefter, Martina

Hey guten Morgen, wie geht es dir?


gut

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Martina Hefter
Juno, Mitte 50, ist Performancekünstlerin und lebt mit ihrem schwer erkrankten, an den Rollstuhl gebundenen Mann Jupiter in Leipzig. Der Alltag ist schwierig, finanziell und auch emotional, das Paar hat sich entfremdet. Juno lebt in ihrer „eigenen“ Welt, die aus Ballett, dem obsessiven Interesse an den Planeten sowie dem neu entdeckten Faible für Tattoos besteht. Sie hadert mit dem Älterwerden und sorgt sich um die Veränderungen ihres Körpers.
Ihre schlaflosen Nächte überbrückt sie, indem sie sich auf Anfragen fremder Männer im Internet einlässt, wohl wissend, dass es sich bei deren Profilen um sogenannte „Love-Scammer“ handelt; Männer die sich das Profil eines gut situierten, gutaussehenden „weißen“ Mannes zulegen, um einsamen Frauen die große Liebe vorzuspielen und sie dann finanziell ausnehmen. Juno „spielt“ mit diesen Männern im Internet, sie legt sich selber falsche Identitäten zu und brüskiert die Männer mit ihren abschweifenden Gedanken und Phantasien.
Als sie mit Benu aus Nigeria chattet und diesen als Scammer enttarnt, setzen die beiden trotzdem den Kontakt fort, die Chats bestehen aus Belanglosigkeiten „Hey, guten Morgen, wie geht es dir?“ und trotzdem begleiten sie ihren Alltag. Sie beginnt, sich mit der Lebenssituation der Menschen in Nigeria zu beschäftigen. Sie recherchiert aber auch über die Machenschaften der Love-Scammer und den Schaden, den die Opfer erleiden.
Der Buch endet, wie auch der Alltag weitergeht, belanglos, ohne Ende ohne Plan.
Der Roman der diesjährigen Preisträgerin des Deutschen Literaturpreises hat mich leider nur stellenweise überzeugt. Die vermutlich starken autobiographischen Anteile sorgen für eine fehlende literarische Tiefe. Das Fragmentarische, das Programm ist, aneinandergesetzte Szenen und Gedanken, unausgereifte Themen, die ausgebaut hätten werden können. Besonders enttäuschend fand ich die mangelnde sprachliche Innovationsbereitschaft.

4 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.11.2024
Vierundsiebzig
Othmann, Ronya

Vierundsiebzig


sehr gut

Ronya Othmann Vierundsiebzig
„Auch die Sprache ist eine Waffe“
„Ich kenne keine êzîdische Familie, in der nicht jemand umgebracht wurde.“

Ronya Othmann berichtet in ihrem Buch über den74. Genozid 2014 in Shingal, der an der êzîdischen Bevölkerung durch die IS-Kurden im Nord-Irak verübt wurde.
Die Autorin ist Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch êsîdischen Vaters.
2018 fliegt sie nach Kurdistan, in das Camp Ashti im Irak in der Nähe der iranischen Grenze.
Sie versucht eine Sprache zu finden, für das Geschehene an ihrem Volk, das eigentlich sprachlos macht.
„Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist.“
„Ich schreibe: Ich habe gesehen. Das Ich ist ein Zeuge. Es spricht, und doch hat es keine Sprache.“
„Versuche ich zu schreiben, ist es, als würde ich einzelne Stücke zusammennähen.“
Ronja besucht das Dorf der Großeltern, in dem sie als Kind war, 2014 flieht die Großmutter aus Syrien nach Deutschland, sie ist traumatisiert.
Während ihrer Recherchen in Kurdistan, aber auch in Deutschland, erfährt Ronya von den grauenhaften Taten, die ihrem Volk angetan wurden.
Das Verbrechen in Shinghal ist nicht in Worte zu fassen, verschleppte und verkaufte Frauen und Kinder, Vergewaltigungen. grauenhafte Hinrichtungen.
Die Berichte von Augenzeugen sind kaum zu ertragen
Sie will die Motive der IS-Kämpfer verstehen, aber die Frage nach dem „warum“ kann nicht beantwortet werden. Sie besucht die Peschmerga-Einheiten in zerstörten Landschaften, Kämpferinnen gegen den IS, Frauen die selber Opfer waren.
Ronja sammelt die Geschichten der überlebenden Frauen, die vom IS verkauft und versklavt wurden.
Sie besucht Gerichtsprozesse in Deutschland, in denen die Menschen angeklagt werden, die Frauen und Kinder versklavt haben.
2022 reist sie abermals an die heiligen Orte der Esîden, sie ist auf der Suche nach ihren Wurzeln, ihrer Identität. Der kulturelle Genozid führt zum Aussterben des êzîdischen Volkes.
Die êzîdischen Regeln, z. B. nur untereinander zu heiraten werden in Deutschland aufgeweicht, auch sie selber stammt aus einer multikulturellen Ehe.
Die Sprachlosigkeit der Autorin, ihre Hoffnung, der Versuch, Distanz zu dem Geschehenen zu finden, werden deutlich: „Wenn der Text fertig ist, kann ich alles vergessen.“ Aber auch „Für diesen Text gibt es kein Ende“ und „Ich will das Ich aus meinem Text streichen.“
2023 erkennt der Deutsche Bundestag den Genozid an den Eziden an.
Dieses Buch ist sicher kein Roman, denn es gibt definitiv keine Fiktion, es ist eher ein autobiografisch geprägtes Sachbuch, eine Historie der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung des êzîdischen Volkes, eine Reportage, ein Essay, eine Reisebeschreibung.
Einschließlich Glossar.

Die Informationen über das êzîdische Volk sind wichtig, wir wissen viel zu wenig über diese Kultur, die eigentlich nur mündlich überliefert wird. Das ist der große Verdienst der Autorin.
Ich hätte mir gern etwas mehr Struktur gewünscht, eine Bündelung der Informationen. Die Zerrissenheit der Autorin kommt allerdings genau dadurch zum Ausdruck, sie möchte „alles“, was sie herausgefunden hat, in die Welt weitertragen. Und das ICH stellt die Verbindung zwischen diesen vielen Textsorten her.

Bewertung vom 10.10.2024
Hasenprosa
Kames, Maren

Hasenprosa


sehr gut

Hasenprosa -Maren Kames
Shortlist Deutscher Buchpreis 2024
„Der Himmel war lila. Die Sterne nickten wieder. Die Wiese unter uns schmatzte zufrieden.“
Ein Albtraum oder ein Märchen? Die Erzählerin begibt sich auf Reisen in die Vergangenheit
in rasender Geschwindigkeit und mit atemloser Prosa.
In dem grenzenlosen Spiel in Zeit und Raum, dem „Rutschen ins Erdinnere“ und dem Durchstreifen der Galaxien erleben sie und ihr Begleiter, eine sehr gebildeter Hase, verschiedene Erdzeitalter. Während die Erzählerin auf den Grund ihres Herzens taucht, werden vor allem die Erinnerungen an die Großeltern, ihren „Wandverwandtschaften“, wach.
Der Hase? Ich weiß nicht, ob er eine tiefere Bedeutung hat. Er ist einfach da. Das ist auch gut so, denn er ist ein sicherer Begleiter.
Die überbordende Lust am Sprachspiel „…denn als ich mir derart zurückgelassen probeweise und für den Sowiesobedarf einen Engel morste, gingen zwei Buchstaben verloren, ein anderer schlich sich zielstrebig nach vorne, und so war, was ich herausbekam, letztendlich ein Igel.“ ist überwältigend, ich kann nicht sagen welche Wortneuschöpfungen mir am besten gefallen haben. Herrlich ist auch das Spiel mit fehlender Sprache. „Es taugte nichts.“
Neben der „Donner down memory lane“ fließt auch Gesellschaftskritik ein.
„Es hing eine Dringlichkeitspenetranz und Wichtigtuerei in der Luft, dass es nicht zum Aushalten war…“
Aber vor allem liebt Maren Kames, die Experimente mit der Sprache, sie schreibt nicht, sie „scribbelt“, widersetzt sich literarischen Traditionen, liebt absurde und skurrile Elemente, sie nutzt die Leichtigkeit, den Humor und die Absurdität jedoch durchaus zur Ergründung tiefer Themen.
Hasenprosa gibt es tatsächlich auch als literarische Gattung, geprägt durch Christian Morgenstern: „Der Hase schreibt, wie er schreibt. Man nennt es Hasenprosa.“
Auch das sprachliche Vorbild Friederike Mayröcker wird durch passende Zitate gewürdigt.
Ich mag dieses wunderbare Buch sehr.