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@lesefin__
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 18.09.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


ausgezeichnet

„Liebe und Zuneigung wurden in unserer Familie ausschließlich durchs Essen ausgedrückt. Vielleicht lag es daran, dass Eltern und Kinder sich selten eine Muttersprache teilten, und vielleicht auch daran, dass uns das Sprechen nur für Kritik und überzogene Erwartungen diente. Aber das Essen wurde nie kritisiert.“

Dieser Roman ist eine eindrucksvolle Familiengeschichte, die uns durch die verzweigten Verbindungen einer jüdischen Familie in Berlin führt. Im Mittelpunkt steht eine Protagonistin, die mit ihrer eigenen Identität, ihrer Rolle als Mutter und den Herausforderungen, ihr Kind in einer jüdischen Tradition zu erziehen, ringt. Dabei lebt die Familie nicht streng religiös, sondern führt ein weitgehend säkulares Leben – was die Frage nach der jüdischen Erziehung besonders herausfordernd macht.
Wie erzählt man also seiner Tochter vom Holocaust und von Figuren wie Hitler und Anne Frank, ohne sie zu überfordern? Dabei wird der innere Konflikt der Mutter spürbar – wann ist der richtige Zeitpunkt, um über solche traumatischen Kapitel der Geschichte zu sprechen? Und was passiert, wenn die Tochter dann plötzlich orthodox werden möchte? Die Spannung zwischen familiären Wurzeln und individueller Entwicklung wird hier spannend dargestellt.
Sergej, der Ehemann der Protagonistin, ist ein talentierter Musiker, der nach außen hin stets Kontrolle ausstrahlt. Doch auch bei ihm beginnt die Fassade zu bröckeln, und seine Unsicherheiten treten allmählich zutage. Grjasnowa schafft es, die inneren Kämpfe der Charaktere eindringlich und nachvollziehbar zu schildern.

Dann ist da noch die Reise der Protagonistin nach Gran Canaria zum 94. Geburtstag von Maya, der Schwester ihrer Großmutter. Obwohl die Protagonistin nur wenig Bezug zu ihrer in Israel lebenden Verwandtschaft hat, lässt sie sich überreden, die Reise anzutreten. Der Urlaub entpuppt sich als anstrengend. Besonders die unterschiedlichen Ansichten der Verwandten über Erziehung und Familiengeschichte stehen im Mittelpunkt der familiären Spannungen. Nach und nach wird deutlich, dass Maya, eine Holocaust-Überlebende, die Erinnerung an die Vergangenheit manipuliert, um das eigene Überleben in einem bestimmten Licht darzustellen. Grjasnowa wirft hier die Frage auf, inwieweit Erinnerung ein formbares Konstrukt ist und wie sich individuelle Geschichten über Generationen hinweg verändern können.

Ich finde, das Buch ist gekonnt geschrieben. Es verbindet Vergangenheit und Gegenwart auf eine spannende Weise und behandelt dabei hochaktuelle Themen wie jüdische Identität, familiären Zusammenhalt und die Herausforderungen der Erziehung. Der Schreibstil ist flüssig und atmosphärisch dicht, der Spannungsbogen von Anfang an vorhanden. Besonders beeindruckend ist die Tiefe, mit der Grjasnowa die emotionalen und historischen Themen miteinander verwebt. Dieses Buch ist nicht nur eine bewegende Familiengeschichte, sondern auch ein relevantes Werk über das Weiterleben nach traumatischen Erfahrungen und die Bedeutung von Erinnerung. Grjasnowa gelingt es, tiefgründige Fragen über Identität, Tradition und Geschichte in einer Weise zu erzählen, die zugleich spannend und emotional fesselnd ist. Ein Roman, der lange nachhallt.

Bewertung vom 13.08.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


sehr gut

Rasha Khayat: Ich komme nicht zurück

„Wir zwei. Wir drei. Wir alle. Neun Jahre alt, zwölf Jahre alt, achtzehn Jahre alt, fünfundzwanzig Jahre alt, dreiunddreißig Jahre alt.
Versuche zu rekonstruieren, welches wohl die letzten Bilder sind.
Schaue mir die Mädchen an, die jungen Frauen und denke - ihr wusstet gar nicht, wie frei ihr wart, wie glücklich. Ihr wart zu unglücklich, um das zu sehen.“
Dieser Roman behandelt viele wichtige Themen und schafft es, diese auf eine prägnante und gefühlvolle Weise zu verknüpfen. Es geht um Freundschaft, Einsamkeit und das Gefühl des Verlorenseins in einer Welt voller Menschen, die einen doch allein lässt. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung von Wahlfamilien und den emotionalen Bindungen, die über die biologische Familie hinausgehen.
Im Zentrum der Geschichte steht die Kindheitsfreundschaft von Hanna, Zeyna und Cem. Die drei wachsen im Ruhrgebiet auf und sind unzertrennlich. Mit zunehmendem Alter leben sie sich immer weiter auseinander, wie das oft so ist. Die Freundschaft bleibt dennoch bestehen; sie sind schließlich wie eine Familie und können sich immer aufeinander verlassen. Doch ein bestimmter Vorfall trennt Hanna und Zeyna und sie gehen getrennte Wege.
Als in der Gegenwart die Corona-Pandemie ausbricht und Hannas Großmutter stirbt, bei der sie aufgewachsen ist und die auch für Zeyna eine Mutterfigur war, fühlt sich Hanna zunehmend einsam. Sie sehnt sich nach der alten Freundschaft und möchte alles mit Zeyna klären, doch Zeyna verweigert den Kontakt. Cem steht, wie so oft, zwischen den beiden und will sich dieses Mal nicht einmischen.
Durch die geschickten Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit erfahren wir immer mehr über Hannas Leben und ihre Freund*innen. Die Erzählung richtet sich mit einem „Du“ direkt an Zeyna und verstärkt dadurch die emotionale Tiefe der Geschichte. Khayat gelingt es, die Gefühle der Figuren eindrucksvoll zu vermitteln und uns in ihren Bann zu ziehen.

Ich habe dieses Buch an einem Tag verschlungen. Es ist unglaublich fesselnd und tiefgründig. Man kann es kaum aus der Hand legen, da man ständig wissen möchte, wie die Geschichte ausgeht: Werden die beiden ehemaligen Freundinnen sich wieder treffen? Was genau hat den Bruch zwischen ihnen verursacht und warum herrscht diese Funkstille? Gleichzeitig behandelt der Roman wichtige Themen wie die Einsamkeit während des Lockdowns und den Verlust von geliebten Menschen.
Ein ist ein beeindruckendes Buch, das mit viel Gefühl und Tiefe die Leser*innen in eine Welt voller Emotionen und spannender Wendungen entführt.