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Eat_read_sleep_in_nok
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Adelsheim

Bewertungen

Insgesamt 5 Bewertungen
Bewertung vom 02.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Alex Schulman ´ s neuer Roman führt uns zu einer Zugreise von Stockholm nach Malma. Erzählt wird aus der Perspektive von Harriet, Oskar und Yana.
Alle drei Erzählstränge beginnen in Stockholm am Bahnhof. Harriet steigt mit ihrem Vater ein, Oskar mit seiner Frau und Yana reist alleine.

Zunächst denkt man noch alle drei sitzen im selben Zug, bald lässt Schulmann jedoch durchblicken, dass es nicht nur unterschiedliche Erzählperspektiven, sondern auch unterschiedliche Zeitebenen sind - allen gemeinsam ist jedoch der Zielbahnhof: Endstation Malma.

Eindrücklich und absolut authentisch erfahren wir von Harriets Kindheit, Schulmann gelingt es außerordentlich gut zu zeigen, wie ein Kind, der willkürlichen Macht und ebensolchen Handlungen Erwachsener ausgeliefert ist.

Während Oscars Zugreise erfahren wir, was solche Kindheitserfahrungen im Erwachsenenleben Betroffener bewirken. Oskar und Harriet führen eine toxische Beziehung und manipulieren dadurch wiederum ihre Tochter Yana.

Yana wiederum macht sich in der Gegenwart abermals auf die Reise ihrer Eltern und Großeltern und versucht dadurch Erklärungen für das plötzliche verschwinden ihrer Mutter und das abweisende Verhalten ihres Vaters, der mittlerweile verstorben ist, zu finden.

Bis weit über die Hälfte des Romans, leidet man mit Harriet und Yana wegen ihrer scheinbar lieblosen Kindheit, beide werden von ihrem Vater großgezogen, die Mütter sind verschwunden. Beide Kinder nehmen ihre Umwelt sehr bewusst, beinahe hochsensibel war - absolut beeindruckend finde ich, wie sich der Autor in die Position der Kinder hineinversetzen konnte.

Je näher wir zum Ende des Romans, je näher wir der einen Station mal Marc kommen, umso schneller wechseln die Perspektiven, umso spannender die Handlung. Es werden einige Familiengeheimnisse gelüftet, darunter befinden sich Erschreckende, Erklärende aber auch zutiefst Berührende. Man wünscht sich mit dieser Erkenntnis sofort das Buch noch mal von vorne anzufangen. Ein absolut gelungener Roman und mein Lesehighlight des Jahres.

Bewertung vom 20.09.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


sehr gut

Das Setting für Lauren Groff´ s Roman ist die unberührte und dünn bis gar nicht besiedelte Wildnis in Nordamerika zu Beginn des 17. Jahrhunderts.
Die Protagonistin, genannt „das Mädchen“, sie selbst hat keinen Namen für sich und die Namen die sie von anderen bekommen hat sagen nichts über sie aus befindet sich gleich zu Beginn alleine auf der Flucht in einer für die Unbekannten und gefährlichen Gegend. Schnell merkt man, dass zwar die Bildung des Mädchens gering ist, ihr Verstand aber messerscharf. Das nötigste hat sie in Windeseile zusammen gerafft, Decken, Stiefel, ein bisschen Proviant und ein Beil. Sie flieht aus einer kleinen Siedlung, in der sie mit ihrer Herrin und deren Mann, dem Pfarrer seit ihrer Überfahrt aus England in großer Hungersnot gelebt hat. Nach und nach erfährt man vieles aus der Vergangenheit des Mädchens, wie sie als Baby ausgesetzt wurde, im Kloster lebte und schließlich bei ihrer Herrin gelandet ist. Beim Lesen fragt man sich immer wieder, was das Mädchen zu der gefährlichen, eigentlich auch zum Scheitern verurteilten Flucht ins Unbekannte bewegt hat. Sie möchte sich auf dem Weg nach Norden machen, da sie gehört hat, dass dort Franzosen leben, diesen Ort betrachtet sie als sicherer. Nach und nach erfährt man auch von ihren schlimmen Erlebnissen im Fort und ihren bisherigen Erlebnissen als namenloses, elternloses Ding, das den Reichen als Amüsierpüppchen, Wärmeflasche oder Dienstmagd gedient hat. Dies und die Brutalität der Natur schildert Groff spannend, emotional und kaum auszuhalten, da Gewalt und Missbrauch und Schmerzen immer wieder thematisiert werden. Besonders war für mich, wie das Mädchen in dieser aussichtslosen Situation in der Natur und deren Schönheit Trost findet, obwohl diese sich ihrem Schicksal gegenüber völlig gleichgültig verhält. Oft habe ich mir gewünscht, diese unberührte Natur mit den Augen des Mädchens selbst sehen zu können.

Insgesamt fand ich den Schreibstil der Autorin sehr besonders, am Anfang auch etwas gewöhnungsbedürftig, aber schnell einen Sog entwickelnd.

Es ist ein eine einzigartige Geschichte des Überlebenskampfes einer Frau, der auch unsere Sicht auf die Natur und unseren heutigen Umgang mit ihr verändert.

Bewertung vom 01.08.2023
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


ausgezeichnet

Elena Fischer erzählt in ihrem Debütroman die Geschichte der 14-jährigen Billie, einer naiven, irgendwie altklugen und eigensinnigen Protagonistin. Gleich zu Beginn erfahren wir, dass Billies Mutter gestorben ist, aber da die Autorin in Schleifen rückwärts erzählt tut das der Dramatik absolut keinen Abbruch. Wir erfahren aus Billies Sicht wie sie aufgewachsen ist, in einer kleinen Wohnung in einem Hochhauskomplex, die Mutter Marika versucht mit 2 Jobs ihnen „ein gutes Leben“ zu ermöglichen. Trotzdem ist das Geld immer knapp, Billie hat nicht viele Kleider und am Monatsende gibt es meist nur Nudeln mit Ketchup oder Kartoffelbrei aus der Tüte. Reich macht Billie aber die Fantasie ihrer Mutter, ihre starke Liebe und der Zusammenhalt unter den Nachbarn.
Über ihre Herkunft erzählt Marika Billie allerdings nichts, sie weiß nicht wer ihr Vater ist und hat auch keinen Kontakt zur Familie ihrer Mutter in Ungarn. Eines Tages steht allerdings die ungarische Großmutter vor der Tür und bringt so einiges ins Rollen und die Vergangenheit an den Tag. Billie sieht plötzlich auch die Fehlbarkeit ihrer Mutter, dennoch möchte sie lieber wieder ihr Mutter-Tochter- Leben zu zweit zurück, bis ein schrecklicher Unfall Billies Mutter das Leben kostet. Völlig verloren macht sie sich auf die Suche nach ihrem Vater und ein verrückt, melancholischer Roadtrip zur Nordsee beginnt. Ob sie ihn findet, möchte man nicht verraten. Jedenfalls aber entwickelt sich Billie in ihrem Kokon der Trauer und findet die Bedeutung der Herkunft und ihren Platz im Leben und…

Fischer schildert gekonnt aus der Sicht eines Teenagers wie soziale Ungerechtigkeit und Armut heute aussehen - besonders in den Szenen mit Billies Freundin Lea und deren Familie wird die Spalte zwischen Mittel- und Unterschicht deutlich - das alles wird aber nicht mit Zeigefinger erzählt. Gut gefallen haben mir auch Billies literarische Schreibambitionen, die gekonnt durch kurze Notizbucheinträge eingeflochten werden und die Schilderung der starken innigen Mutter-Tochter-Beziehung. Mit Billie wütend wurde ich aber auch über das Verschweigen von Billies Vater - das verantwortlich war für das große Loch in das sie nach dem Tod der Mutter gefallen ist. Ich empfehle das Buch jedem der über den Verlust eines geliebten Menschen lesen will, jedem der gerne eine besondere coming-of-age-Geschichte lesen möchte und jedem der Geschichten mit gutem Ende liebt.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Jaap Robben lässt uns in seinem Roman „Kontur eines Lebens“ die Lebenslinien von Frieda Tendeloo entlanggehen. Abwechselnd auf zwei Zeitebenen, einmal in den 60iger Jahren als Frieda eine junge Frau ist und in unserer heutigen Zeit, in der Frieda im Seniorenheim lebt, erzählt uns Robben Friedas Lebenslauf. Die Rückblicke und Zeitsprünge bringen Spannung ins Leseerlebnis.
Als Tochter einer streng katholischen Familie wächst sie behütet auf, verliebt sich allerdings eines Nachmittags bei einem Spaziergang stürmisch und bedingungslos in Otto. Obwohl Otto verheiratet ist und Frieda familiär und religiös beeinflusst, sind ihre Gefühle füreinander so stark, dass sie, wenn auch heimlich diese Liebe leidenschaftlich leben - zumindest bis Frieda schwanger wird - eine Unerhörtheit in der damaligen Zeit. Damit ändert sich alles: ihre Familie verstößt sie, sie verliert ihren Job, keiner vermietet ihr ein anständiges Zimmer und auch Otto distanziert sich, hilft ihr aber finanziell. Authentisch und emotional schildert Robben wie es Frauen in Friedas Situation in der damaligen Zeit erging - wie die Gesellschaft, obwohl vielleicht einzelne Verständnis hätten, sich der geltenden Moral beugt und kein Erbarmen mit einer „Sünderin“ zeigt.
Unvergessliche Bilder schafft er mit seiner Sprache und den Schilderungen über die heruntergekommene Unterkunft für Frieda oder ihre Behandlung während der Geburt von Ärzten und Schwestern - man fragt sich wie man nur so herzlos sein konnte.
Verständlich dass Frieda diese Erlebnisse verdrängt: „Halt den. Mund, Mädchen, Vergiss das Kind. Du wirst es nie finden. Tu was die Nonnen sagen und schweig. Schweig“ und das tut Frieda. Dieses unterdrückte Schweigen und die Unwissenheit machen eine sehr unbequeme und unberechenbare Frau und Mutter aus ihr, was ihre zweite Liebe, ihr Ehemann Louis und der gemeinsame Sohn öfter aushalten müssen.
Erst als Louis überraschend stirbt und Frieda Louis Füßen hinterherschaut als ihn die Bestatter wegbringen, brechen die schmerzlichen Erinnerungen an zwei andere, kleine, blauweiße Füßchen hervor und bringen Frieda am Lebensende dazu, nachzuforschen wohin diese Füßchen verschwunden sind. Sie sucht endlich nach Antworten und nach Otto - mehr möchte ich dazu nicht verraten - denn dieser Roman ist unbedingt lesenswert und packt einen erst so richtig, je weniger man weiß.
Wunderbar gelingt es Robben Liebe, Mutterliebe, Verlust, Tod und Trauma authentisch, emotional und persönlich erfahrbar zu machen. Auch die Szenen im Altenheim sind wahrhaftig und ergreifend geschildert. Das alles in einer poetischen Sprache gehalten, bewirken, dass die Konturen von Friedas Leben scharf werden und man diese Protagonistin und ihr Schicksal nicht wieder vergisst.

Bewertung vom 11.04.2023
Männer sterben bei uns nicht
Reich, Annika

Männer sterben bei uns nicht


sehr gut

Annika Reich erzählt in ihrem Roman „Männer sterben bei uns nicht“ die Geschichte einer Familie, die versucht einen patriarchalen Status, beinahe eine Herrschaft über ein großes Anwesen am See und über alle Familienmitglieder aufrecht zu erhalten - koste es, was es wolle- Hauptsache ohne die Männer der Familie.
Das Anwesen umfasst fünf Häuser, eines wird von der Großmutter bewohnt, eines an den Wochenenden von deren Tochter Marianna und Enkeltochter Olga, eines von der Schwiegertochter und deren Töchtern Leni und Luise, das andere von Großmutter Vera, das fünfte Haus steht leer, ist stets abgeschlossen und die rätselhafte Großmutter richtet es mit diversen „männlichen Gegenständen“ ein.

Erzählt wird das Ganze aus Sicht der Enkelin Luise, Mitglied der jüngsten Generation der Familie und Lieblingsspross der über alles herrschenden unerschütterlichen Großmutter.
Luise, die ihr Leben lang einerseits durch die Bevorzugung und die damit verbundene besondere Fürsorge ihrer Großmutter profitiert hat , gleichzeitig aber auch spürt, Dass sie deshalb von den anderen Familienmitgliedern gemieden und von ihrer Großmutter als „die Erbin“ instrumentalisiert wurde - reflektiert anlässlich des Todes ihrer Großmutter, auf verschiedenen Zeitebenen die Familiengeschichte und – geheimnisse der Frauen.

Annika Reich beschreibt die Szenen in denen Luise ein Kind ist, atmosphärisch dicht, man spürt, schmeckt und erlebt diese Abschnitte förmlich mit der Ich-Erzählerin Luise - während die Abschnitte der erwachsenen Luise eher nebulös und flach bleiben.
Es ist eine schillernde, aber auch rätselhafte Welt, eine besondere Großmutter - Enkeltochter-Geschichte , aber Reichs Frauenfiguren polarisieren. Am liebsten würde man mit ihnen auf dem Anwesen leben, aber andererseits fragt man sich wozu das ganze Schweigen und Verschweigen - nur um den Schein zu wahren? Vieles bleibt für die ich-Erzählerin im Dunkeln, wichtige Familienereignisse erfährt sie erst am Grab der Großmutter. Warum war die Abschiebung der unfolgsamen Schwester Leni notwendig? Warum verbannt die Großmutter, sowohl ihre tote, als auch ihre lebende Schwester? Warum sind die Männer nicht da - nicht mal zu Besuch? Woher kommt das ganze Geld? Gab es Verbindungen zum Nationalsozialismus?
Dies alles lässt die Autorin offen und man muss sich die Fragen selbst beantworten. Nicht offen lässt sie allerdings die Tatsache, wie schwer emotionales Erbe wiegen, wie einfach Macht missbraucht werden kann und wie wir uns so leicht unseren zugedachten Rollen fügen, ohne zu hinterfragen.
Der Roman hallt nach, gerade weil nicht alle Fragen beantwortet werden, besonders über die Frauen der zweiten und dritten Generation wünscht man sich mehr zu erfahren. Und er regt zum Nachdenken an - über an Bedingungen und Erwartungen geknüpfte Liebe in Familien, über das emotionale Erbe über Generationen hinweg und vor allem wie wir dem gewahr werden können.
Eine aufweckende Lektüre für alle, die gerne Familienromane lesen.