Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
SK

Bewertungen

Bewertung vom 16.04.2024
Herrndorf
Rüther, Tobias

Herrndorf


weniger gut

Spannende Akzente, wenig neue Erkenntnisse, stilistisch unsicher und teils am Leser vorbeigeschrieben

Tobias Rüthers Biographie über Wolfgang Herrndorf trägt den unbestimmten Artikel „eine“ im Titel und nach der Lektüre des gebundenen Buchs kann man feststellen, es ist tatsächlich nicht „Die Biographie“ von Wolfgang Herrndorf geworden.

Rüther nähert sich Wolfgang Herrndorfs Lebensgeschichte respektvoll und die persönliche Wertschätzung des Biographen ist im ganzen Text spürbar. Der Aufbau des Buchs ist erfreulich klar gehalten, er folgt Herrndorfs Lebensweg von der Kindheit und Jugend im Elternhaus und der sich anschließenden ersten großen Station in Nürnberg, den wichtigen Reifejahren dort, die den Maler zum Schriftsteller formten. Die für Wolfgang Herrndorf entscheidende, unheimlich dichte Zeit in Berlin wird in mehreren Kapiteln behandelt: Herrndorfs erste Texte im Internetforum der höflichen Paparazzi, die beginnenden literarischen Erfolge, dann die niederschmetternde Diagnose, welche den Höhepunkt des künstlerischen Schaffens befeuert und zuletzt der sich schon zu Lebzeiten abzeichnende Nimbus, einer der besten zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller zu sein.

Gerade in dieser hervorstechenden Zeit der Berliner Jahre darf ein Leser aber mehr erwarten. Denn Wolfgang Herrndorfs eigenes Tagebuch und sein persönlichster Text „Arbeit und Struktur“ wird durch die Biographie viel zu oft lediglich sekundiert, der Erzähler wechselt quasi von der ersten in die dritte Person, aber die Perspektive bleibt doch sehr nah an Herrndorfs eigenen Empfindungen und Beobachtungen in dieser Zeit. Interessierte Leser dürften mehr Hintergründe und längere Gespräche mit Freunden und Angehörigen begehren. Es bleibt unklar, ob der Biograph hier hätte tiefer gehen können oder ob die Gespräche mit Beteiligten tatsächlich nicht mehr ergeben haben. Dass offenbar mit Kathrin Passig, einer durchaus zentralen Figur in Herrndorfs Leben, kein Gespräch möglich war, ist bedauerlich, hier hätte der Autor zumindest begründen können. So werden zwar geschickt Zitate von Kathrin Passig eingestreut, die sich aber aus anderen Quellen speisen und so bleibt die Biographie hier intransparent.

Was Rüther durchaus sauber herausarbeitet und auch mit wörtlichen Zitaten immer wieder belegt, ist das Desinteresse Herrndorfs, sich mit Politik, einer bestimmten Haltung oder Fragen des Zeitgeists auseinanderzusetzen, sondern sich in (s)eine ganz eigene Welt zurückzuziehen, die es ihm ermöglichte seine Texte hervorzubringen. Dabei ging es Wolfgang Herrndorf nicht darum dem Feuilleton oder gar dem akademischen Betrieb – man denke hier an die Kunsthochschule in Nürnberg oder dem ironisierten Feindbild des Germanisten – zu gefallen. Herrndorf konnte offenbar hart im Urteil mit sich aber auch anderen sein, seine sarkastischen Provokationen zielten in keine Richtung, kannten keine Agenda, waren frei.

Das ist der Autor der Biographie nicht und an diesem Punkt wird Tobias Rüther Herrndorf nicht gerecht. Denn die Biographie beugt sich dem Zeitgeist, will ihm gefallen, es recht machen und sie tut das feige, indem „sanft“ gegendert wird. Was hätte Wolfgang Herrndorf für diesen „Germanistenstreich“ wohl übriggehabt?

Freunde und Freundinnen, Studenten und Studentinnen, Lehrer und Lehrerinnen usf. Ständig werden diese aufgeblähten und sinnlosen Wortpaare verwandt. Aber auch die Verlaufsform wird gerne genutzt, selbst wenn sie unsinnig ist wie auf Seite 51: „Umso stärker wirkt seine aus der Zeit gefallene Lasurmalerei auf die anderen Studierenden wie eine Provokation.“ Also nur im Moment des Studierens ist sie eine Provokation, sobald der Student etwas Anderes tut, ist die Lasurmalerei in Ordnung? Hier scheint der Autor bewusst die Gender-Ideologie über den Sinn des eigenen Textes zu stellen, das ist bemerkenswert.

Es gibt weitere stilistische Auffälligkeiten, die die Lektüre erschweren: Da wäre die fehlende Distanz zum Internetforum in dem Herrndorf schrieb. Dessen Mitglieder werden im Buch durchgängig als „Pappen“ bezeichnet, das war mir persönlich zu viel Nähe zu diesem wichtigen Personenkreis. Eher albern für einen Autor mit 50 Jahren ist die Verwendung des Jugendworts „prank“ statt einfach Streich oder Scherz zu nehmen. Auch der viel zu junge Anglizismus „strange“, um eine Szene in den 1980er Jahren zu beschreiben, ist ein wenig… seltsam, eigenartig, merkwürdig, fremd, komisch, sonderbar und kurios. Unangenehm auffällig ist die krampfhafte wiederholte Erwähnung der Zeitung für die Rüther seit über zwanzig Jahren schreibt. Es werden zwar auch andere Publikationen zitiert, aber das Gleichgewicht ist gestört.

Trotz dieser Kritik ist das Buch für Freunde von Wolfgang Herrndorfs Werk eine erhellende Bereicherung, es könnte nur mehr Tiefgang bieten, um das tragische Leben dieses Ausnahmeautors zu würdigen. Die stilistischen Mängel wären leicht vermeidbar gewesen. So bleibt die Hoffnung auf die Zukunft und „Die Biographie“.