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Pedi

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Insgesamt 46 Bewertungen
Bewertung vom 01.07.2024
Die Perserinnen
Mahloudji, Sanam

Die Perserinnen


sehr gut

Farbige Familiengeschichte

Fünf Frauen einer iranischen Familie, getrennt durch die Iranische Revolution.
Vor dem Sturz des Shahs führten die Valiats ein Jetset-Leben. Sportwagen, teure westliche Klamotten, Partys. Die Töchter Shirin und Sima gingen auf eine teure, nicht-relgiöse Schule. Nach der Revoution blieben Mutter Elizabeth und deren Enkelin Niaz, die Tochter von Shirin in Teheran, Shirin und Sima gingen in die USA.
Einmal im Jahr trifft sich die Familie im exklusiven Aspen. Dort eskaliert 2004, kurz vor Beginn des Romans, die Situation, Shirin wird verhaftet. Als Elizabeth und Niaz anreisen, werden alte Familiengeschichten aufgewühlt und Dinge fordern eine Klärung.
Vielstimmig erzählt Sanam Mahloudji über Herkunft und Exil, Familienbande und Verletzungen und Identität. Das ist manchmal heiter und leicht, manchmal ein wenig pathetisch, immer aber unterhaltsam und farbig.

Bewertung vom 02.05.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


sehr gut

Das Setting und Personal von Adrienne Brodeurs Roman Treibgut ist weitgehend bekannt. Es gibt unzählige Familienromane von der US-amerikanischen Ostküste, die im Sommer auf Cape Cod spielen, um Familiengeheimnisse und das Schweigen darüber kreisen und dysfunktionale Beziehungen in äußerlich sehr privilegiert erscheinenden Familien behandeln. Und tatsächlich ist auch Treibgut nicht ganz frei von gewissen Stereotypen und Klischees. Dennoch habe ich den Roman, der aus fünf verschiedenen Perspektiven erzählt wird, gern gelesen.
Das liegt sicher vor allem an der Atmosphäre eines Sommers am Meer, die mir einfach gut gefällt und von Adrienne Brodeur sehr gut einfangen wird. Zum anderen ist die zeitliche Verortung interessant (wenn auch nicht neu): Es ist 2016, das Jahr "vor Trump", der schon in den Startlöchern steht, an den aber so recht keiner - und schon gar nicht jemand aus der liberalen Demokratenklientel der Ostküste - glauben mag. Ähnlich abgeschmettert wie Präsidentenkandidatin Hilary Clinton wird auch die Künstlertochter Abby immer wieder an ihre geschlechterbedingten Grenzen erinnert.
Ganz anders geht es ihrem so ganz anders gestrickten Immobilienhai-Bruder Ken. Beide haben ihre Mutter früh verloren und werfen begehrliche Blicke auf das Küstenhaus der Familie.
Zunächst steht aber der 70. Geburtstag von Vater Adam an, der mit seiner bipolaren Störung zu kämpfen hat und nach dem Verlust der Mutter seiner Kinder noch zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat. Und nun kündigt sich die bisher verborgene uneheliche Tochter Steph an. Als fünfte Stimme hören wir Kens unglückliche Frau Jenny.
Das alles strickt Adrienne Brodeur trotz der oben genannten kleinen Einschränkungen zu einem insgesamt gut zu lesenden und auch fesselnden Roman zusammen.

Bewertung vom 04.04.2024
Lichtjahre im Dunkel
Ani, Friedrich

Lichtjahre im Dunkel


ausgezeichnet

Obwohl der Verlag bei diesem neuen Ani tunlichst den Zusatz "Kriminalroman" oder auch nur "Ein Fall für Tabor Süden" vermieden hat, wird es wieder Kritiker:innen geben, die bemängeln, es handle sich hier ja überhaupt nicht um einen Krimi. Nein, im engeren Sinn tut es das auch nicht. Und erfahrene Ani-Leser:innen wissen, dass es dem Autor selten um die Auflösung eines Falls und eigentlich auch nicht um den "Fall" selbst geht. Anis Romane sind in hohem Maß literarisch. Sie sind meist düster und melancholisch. Und auch der neue Text mit dem Ermittler Tabor Süden, einst Polizeibeamter und dann Privatdetektiv in Sachen Vermisstenfälle, schließlich der ganzen Sache ein wenig überdrüssig, macht da keine Ausnahme.

Viola Ahorn beauftragt Tabor Süden nach ihrem Mann Leo zu suchen, der seit einer Woche nicht mehr nach Hause gekommen ist. Um das gemeinsame Schreibwarengeschäft steht es nicht zum Besten. Leos Bemühungen, Geld aufzutreiben, waren offensichtlich nicht von Erfolg gekrönt. Nach einer Auseinandersetzung in seiner Stammkneipe verschwindet er spurlos und
wird nach einer Woche tot im Kofferraum eines Autos gefunden.
Tabors Ex-Kollegin, Oberkommissarin Fariza Nasri, übernimmt die Ermittlungen und immer mehr auch die Handlung. Süden verschwindet zeitweise ganz daraus.
Es kommen wieder reichlich eigenwillige Gestalten, dunkle Kneipen und verkorkste Lebensläufe vor. Die Geschichte ist gewohnt düster-melancholisch, eigenwillig und wortgewaltig.
Also ein typischer Ani - kein gewöhnlicher Krimi. Ich mag´s.

Bewertung vom 27.03.2024
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


ausgezeichnet

Es gibt viele Romane über das Weggehen und Wiederkommen. Eine besondere Variante ist die der meist jungen Menschen, die den Osten Deutschlands nach der Wende verlassen haben. Vor allem Frauen und überdurchschnittlich Gebildete konnten oft nicht schnell genug die Heimat in der ehemaligen DDR verlassen - mit den nun bekannten Problemen für diese Gegenden.
Auch Kathleen ist diesen Weg gegangen. Die Ich-Erzählerin verließ den kleinen (fiktiven) Ort Kosakenberg im Osten von Brandenburg und lebt als Grafikdesignerin in London. Da ihre Familie noch dort wohnt, kehrt sie zu verschiedenen Anlässen immer wieder dorthin zurück. Passenderweise ist der Roman auch in zehn Heimfahrten gegliedert. Bei jeder dieser Heimfahrten verschiebt sich etwas. Die Schwester und der Bruder gehen fort, der Vater verlässt die Mutter, die Großmutter stirbt. Es bleiben die Kindheitsfreundin Nadine - quasi ein Gegenmodell zu Kathleen und das Elternhaus, Als die Mutter dies verkaufen will, fragt sich Kathleen, wohin sie zurückkehren kann.
Immer schwang auch ein Schuldgefühl bei ihr mit - "Gehen, ein Vergehen" heißt es einmal.
In der Grundstimmung melancholisch, aber immer wieder mit feinem Humor durchzogen, kna

Bewertung vom 26.02.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


sehr gut

Mutternichts - eine Mutter droht nach ihrem Tod ins Nichts zu verschwinden. Die Erzählerin, ihre Tochter, hat es versäumt - und das ist so sehr Klischee wie jedem vertraut - mit ihr über ihr Leben vor dem Muttersein zu reden. Aus kindlichem Desinteresse, aus Scheu, Angst oder auch Respekt vor dem Schweigen. Denn die Mutter war immer eine große Schweigerin, eine, die sich schon zu Lebzeiten wegduckte, klein machte. Aber warum war das so? Sicher, die Familie war bitterarm. Wir hören Geschichten über Bauernhöfe in Südtirol, die gerade so das Nötige für die Bauern abwarfen. Über Familien voller Kinder, sich krank schuftender Frauen, die nahezu immer schwanger gewesen sein müssen, über Erben, die immer nur an den ältesten Sohn fielen. Die jüngeren mussten sich irgendwo sonst verdingen oder bei der Verwandschaft unterkriechen, abhängig von deren Wohlwollen. Für Frauen blieb nur die Option, sich gut zu verheiraten.

Die Urgroßmutter der Erzählerin musste bereits ihre Kinder fortgeben, nachdem ihr Mann im Bach ertrank - Unfall oder Freitod? Und auch die Großeltern gaben die Mutter mit vier Jahren zu Verwandten, mit acht Jahren wurde sie zur "Dirn", zum Mädchen für alles auf einem anderen Hof. Es müssen Tage voller emotionaler Kälte, Hunger und Arbeit gewesen sein. Erschwert noch durch die Tatsache, dass die Geschwister daheimbleiben durften. Warum musste sie gehen, warum haben die Eltern sie nicht haben wollen? Die Mutter sprach nicht darüber, sprach überhaupt nicht viel. Die Tochter hat sie nie gedrängt. Und nun ist sie tot, so unspektakulär gegangen wie sie gelebt hat.

Die Tante gibt ein wenig Auskunft, ein Foto verleiht den vielen Familienmitgliedern ein Gesicht, ein Besuch beim alten Hof illustriert ein wenig ihr Leben. Trotzdem bleibt sie der Tochter oft ein Mutternichts, das ihr doch so vertraut ist.

Bewertung vom 22.01.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


sehr gut

Wir sitzen im Dickicht und weinen - der ungewöhnliche Buchtitel zusammen mit dem farbintensiven, künstlerischen Buchcover hat mein Interesse geweckt. Es geht um Familie, um Mutter-Sohn- und Mutter-Tochter-Beziehungen - nicht unbedingt neu, hier aber interessant umgesetzt. In kurzen, die Zeitebenen wechselnden Kapiteln wird von Valerie erzählt, die an einem Scheideweg ihres Lebens steht. Der sechzehnjährige Sohn will unbedingt ein Auslandsjahr absolvieren, sich von der überbehütenden Mutter lösen. Das fällt der Mutter schwer - nachvollziehbar. Gleichzeitig wird bei ihrer Mutter Krebs diagnostiziert, was auch diese Beziehung auf ein neues Level habt, denn bisher stand es damit nicht zum Besten. Und auch jetzt fühlt sich Valerie nur verpflichtet, sich um ihre Mutter zu kümmern.
Neben der Gegenwartsebene führt Felicitas Prokopetz ihre LeserInnen zurück in Valeries Kindheit und in die der Mutter. So werden überlieferte Rollenbilder, vererbte Verhaltensmuster deutlich. Ein gelungenes, schönes Debüt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.10.2022
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


ausgezeichnet

Fernando Aramburo, der mit seinem Roman Patria ein vielbeachtetes und sehr glungenes Buch über zwei im baskischen Freiheitskampf der 1980er Jahre zerrissene Familien schrieb, hat nun mit Die Mauersegler ein mit 830 Seiten sehr umfangreiches Werk vorgelegt, das auf den ersten Blick im Gegensatz zu Patria ganz unpolitisch daherkommt. Toni, ein 54 Jahre alter Philosophielehrer ist des Lebens überdrüssig und beschließt, am 1. august des kommenden Jahres aus dem Leben zu scheiden. bis dahin will er alles geregelt haben und für seinen Sohn Nikita, Mitte 20 und ein ziemlicher Versager, eine Art Lebensbeichte zu schreiben. Warum er sterben will, weiß er selbst nicht genau. Zwar ist er von der schönen Amalia, die sich mehr zu Frauen hingezogen füht, geschieden und sein Leben ist recht eintönig, sein Bruder Raoul hasst ihn und die Mutter beginnt, dement zu werden. Dennoch geht es ihm, objektiv gesehen, recht gut. Er hat einen besten Freund, "Humpel", dem es seit einem Attentat und dem dadurch bedingten Verlust eines fusses viel schlechter geht und mit Agueda eine alte Freundin, die ihn liebt. Seine Hündin Pepa liebt er sehr. Und mit seiner Sexpuppe Tina verlebt er die eine oder andere schöne Stunde. Dennoch vergeht er vor Selbstmitleid, ist ein unbelehrbarer Misanthrop, ein ewig grantelnder Macho. Warum man ihn dennoch irgendwie mag liegt an der Selbstironie und dem Zynismus, mit dem er nicht nur auf seine Umwelt, sondern auch auf sich selbst schaut.
Die Mauersegler ist ein kluger, humorvoller, tragikomischer Text über unsere oberflächliche Gegenwart, in den Kommentaren Tonis zu Politik und Gesellschaft nicht immer korrekt, spöttisch und auch auf die lange Stecke sehr vergnüglich.

Bewertung vom 06.09.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


sehr gut

Marta und Dani sind ein junges, modernes Paar Anfang Dreissig und leben in Barcelona. Sie ist Fotografin, er schreibt fürs Fernsehen. Wie viele junge Paare haben sie das Thema "Kinder" auf ein irgendwann stattfindendes Später verschoben. Doch wie so oft, holt sie die Realität ein, Marta wird schwanger. In wechselnden Perspektiven schildert Marta Orriols die Gefühle der Beiden, ihre Ängste, Zweifel, Erwartungen. Marta möchte das Kind nicht. Ihre Freiheit ist ihr wichtig. Aber was möchte Dani?
In einer klaren, ruhigen Sprache erzählt Marta Orriols von einer Entscheidung, die Beide nicht treffen wollten und die ihre Beziehung in ein ganz anderes Licht rückt. Wird ihre Liebe diese Zerreißprobe bestehen? Wie wird sich Marta entscheiden?
Die Autorin bleibt nah bei ihren Figuren und deshalb werden sie den Leser:innen ganz plastisch. Das ist unaufgeregt und sehr präzise geschildert.

Bewertung vom 29.03.2021
Worauf wir hoffen
Mirza, Fatima Farheen

Worauf wir hoffen


ausgezeichnet

Ein wundervoller, gefühlvoller, aber überhaupt nicht kitschiger Familienroman! "A place for us", so der Originaltitel. Eine muslimische Migrantenfamilie in Kalifornien, die Eltern sehr dem Glauben und den Traditionen verhaftet, die Kinder zwischen ihnen und dem modernen Leben hin und her gerissen. Nicht alle drei schaffen den Spagat gleich gut. Während die Mädchen allenfalls im Stillen rebellieren - und dennoch ihren Weg gehen - sucht Sohn Amar die Konfrontation mit dem Vater. Jeder in der Familie sucht ihn, seinen Platz im Leben, die Eltern hoffen, ihren Kindern möglichst viel von ihren Werten und Überzeugungen weiterzugeben. Sie tun das aus Liebe, aber riskieren, sie zu verletzen, zu vertreiben. Die Geschwister sind sich innig zugetan, und doch brodelt da immer ein wenig Eifersucht und Konkurrenz.
Für einen Debütroman sehr ausgereift und klug. Für mich eine wirkliche Entdeckung!

Bewertung vom 22.05.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


sehr gut

Eine alte Dame am Ende ihres sehr eigenständig geführten Lebens und eine Dankbarkeit, die sie nie aussprechen konnte.
Eine junge Frau, die sie aus Dankbarkeit begleitet.
Delphine de Vigan webt daraus ein Kammerspiel von großer Zurückhaltung und Wärme. Ihr geht es um die Würde, die in jedem Leben bis ans Ende steckt. Auch wenn das Alter den einen oder anderen Stolperstein dazwischen wirft.
„Alt werden heißt verlieren lernen. Heißt jede oder fast jede Woche ein weiteres Defizit, eine weitere Beeinträchtigung, einen weiteren Schaden verkraften müssen.“
Mich hat die Autorin mit ihrem schmalen Buch sehr erreicht.