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Lu
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Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 160 Bewertungen
Bewertung vom 21.12.2024
Berlin war meine Stadt
Mann, Klaus

Berlin war meine Stadt


ausgezeichnet

Wer Interesse an Literaturgeschichte hat oder einfach einen authentischen Blick auf den „Tanz auf dem Vulkan“ der 1920er Jahre in Berlin werfen möchte, sollte sich „Berlin war meine Stadt“ von Klaus Mann anschauen. Die kleine Sammlung literarischer Texte von Klaus Mann gibt einen authentischen Einblick in das Künstler-Berlin der Weimarer Republik und beleuchtet auch die Schattenseiten einer Zeit, die zwischen Aufbruch und Abgrund schwankte.

Manchmal wirkt Manns Stil ein wenig pathetisch, doch dann war ich wieder überrascht, wie aktuell seine Inhalte sind. Die in diesem Sammelband ausgewählten Texte und Textauszüge sind persönlich, scharfsinnig und oft erstaunlich modern in ihrem Denken. Besonders interessant fand ich Manns Blick auf Themen wie Queerness und die politischen Fragen eines geeinten Europas sowie schließlich seine Flucht aus Nazi-Deutschland.

Das Buch ist sowohl äußerlich von seiner Haptik her als auch inhaltlich liebevoll gestaltet. Wer sich bisher nicht an Klaus Mann herangewagt hat, findet hier einen leichten Einstieg, der Lust auf mehr macht. Deshalb eignet sich die Sammlung mit ihrer thematischen Vielfalt und den historischen Einordnungen im Vorwort und zwischendurch auch gut für Schule und Studium. Für mich war „Berlin war meine Stadt“ eine echte Entdeckung – ein literarisches Fenster in eine Zeit und eine Stadt, die in ihrer Widersprüchlichkeit so viele Bezüge zu heute aufweist. Ein absoluter Lesetipp für alle, die sich für die Literatur der Weimarer Republik interessieren!

Bewertung vom 20.12.2024
Kursbuch 220

Kursbuch 220


ausgezeichnet

Die Jubiläumsausgabe des Kursbuchs, herausgegeben von Armin Nassehi, Sibylle Anderl und Peter Felixberger, beschäftigt sich mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Zukunft. Mit ganz verschiedenen Gesprächspartner:innen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur wird insgesamt ein vielschichtiges und dennoch zugängliches Bild von Zukunftsdebatten gezeigt.

Ich mochte die Auswahl der Themen: von der Rolle des Jüdischen in unserer Gesellschaft über Cyberkriminalität bis hin zu Geschlechterfragen und Sprunginnovationen. Persönlich haben mir die Überlegungen zum zukünftigen Narrativ der nachhaltigen Gesellschaft gefallen. Die Idee, Nachhaltigkeit mit positiven, selbstverstärkenden Veränderungsprozessen zu verknüpfen, statt sie auf eine Bürokratie-Debatte zu reduzieren, ist genau meins.

Insgesamt sind die allermeisten Interviews intelligent, unterhaltsam und prägnant. Dabei gelingt es dem Kursbuch, die Balance zwischen Reflexion und Handlungsorientierung zu halten. Natürlich gab es auch Interviews, die mich weniger überzeugt haben: Manche Interviews wirkten für mich zu abstrakt oder enthielten Positionen, die ich persönlich nicht teilen konnte. Doch genau diese Reibung macht das Lesen ja auch bereichernd und eröffnet neue Perspektiven. Das Kursbuch 220 lädt damit dazu ein, über die großen Fragen unserer Zeit nachzudenken, ohne einfache Antworten zu liefern.

Bewertung vom 18.12.2024
Der Goldhügel
Roller, Tobias

Der Goldhügel


gut

Tobias Rollers Roman „Der Goldhügel“ handelt von der Gedanken- und Gefühlswelt von Erich Kästner, der sich als Anfang 60-jähriger im Tessin erholen soll. Der Roman beleuchtet dann vor allem Kästners schwieriges Verhältnis zu Frauen und bringt dabei viele Facetten ans Licht. Besonders eindrücklich fand ich die Träume, die seine komplexe Beziehung zu seiner Mutter thematisieren. Rollers Kästner erscheint als Mensch, der vor dem Leben genauso Angst hat wie vor dem Sterben – und diese Ängste prägen sein gesamtes Handeln. Dabei konnte ich nicht anders, als Mitleid für ihn zu empfinden.

Als großer Kästner-Fan habe ich mich gefreut, wie oft seine Bücher und Gedichte subtil in den Text eingewoben wurden. Auch die Quellenangaben und das einordnende Nachwort haben mir gut gefallen, denn sie unterstreichen den semi-biografischen Charakter des Romans. Trotz dieser gelungenen Einblicke fand ich den Roman stellenweise aber etwas langatmig. Im Verlauf wiederholen sich viele Motive: Kästners Weigerung, sich mit seinen Sorgen auseinanderzusetzen und sein Desinteresse am Innenleben anderer Menschen. Was den Stil des Romans betrifft, ist er eher an Thomas Mann als an Kästner angelehnt. Für mich ein kleiner Wermutstropfen, da ich persönlich Kästner oder auch Heinrich Mann wesentlich mehr mag als Thomas.

Alles in allem habe ich „Der Goldhügel“ mit Gewinn gelesen, weil ich über das spätere Leben Kästners kaum etwas wusste. Für Fans von Erich Kästner und interessierte Leser*innen, die sich von einer etwas anderen Erzählweise nicht abschrecken lassen, ist das Buch definitiv einen Blick wert.

Bewertung vom 15.12.2024
Das mörderische Christmas Puzzle
Benedict, Alexandra

Das mörderische Christmas Puzzle


ausgezeichnet

„Das mörderische Christmas Puzzle“ hat mich dieses Adventswochenende richtig gefesselt. Ich muss zugeben, dass es etwas spannender und düsterer war, als ich es sonst bei (weihnachtlicher) Krimikost mag, aber trotzdem war letztendlich noch genug Weihnachtsstimmung dabei.

Der Roman handelt von Edie O’Sullivan, der Rätselrentnerin, die in ein gefährliches Spiel verwickelt wird, bei dem Heiligabend zur tödlichen Deadline wird. Während Edie immer mehr Puzzleteile zur Lösung des Rätsels zusammensetzt, wird klar, dass sie auch in ihrer eigenen Vergangenheit nach verlorenen Stücken suchen muss. Dabei lernt sich die 80jährige noch einmal selbst ganz neu kennen, was ich eine gelungene Storyline fand. Auch mit 80 kann man noch Neuanfänge wagen!

Im Vergleich zum letzten Weihnachtskrimi der Autorin fand ich dieses Buch viel stärker: die Handlung dichter, die Charaktere auserzählter, die Spannung höher und es gab keine plötzlichen Gewaltschilderungen, mit denen man nicht gerechnet hatte. Und obwohl der Krimi definitiv an der Grenze zu dem ist, was ich noch „gemütlich" nennen würde, kommt am Ende doch ein Hauch Weihnachtsstimmung durch. Wenn du also Spannung, ein bisschen Nervenkitzel und clevere Rätsel liebst, bist du hier richtig. Aber Achtung: Hier wird gemordet – also nix für schwache Nerven!

Bewertung vom 14.12.2024
Paddy Clarke Ha Ha Ha
Doyle, Roddy

Paddy Clarke Ha Ha Ha


sehr gut

Ich habe „Paddy Clarke Ha Ha Ha“ von Roddy Doyle, das in neuer Übersetzung von Alexandra Rak im Goya Verlag erschienen ist, nun beendet – und wow, was für ein emotionaler Abschluss! Der Roman wird aus der Sicht des 10jährigen Paddy erzählt, der im Irland der 60er Jahre aufwächst und die Veränderungen der Zeit miterlebt. Es war eine Lektüre, die mich vor allem zu Beginn etwas herausgefordert hat, weil die Erzählweise so sprunghaft ist, ähnlich wie die Gedankenwelt eines zehnjährigen Jungen. Diese kurzen Anekdoten sind teils einfach sehr unterhaltsam, teils aber auch beunruhigend, weil sie immer wieder aufzeigen, wie stark Gewalt den Alltag von Paddy und seinen Freunden prägt.

Paddy und seine Freunde treiben jede Menge Streiche, doch diese scheinen oft wie ein Ventil für die schwierige Realität zu sein. Die Dynamik zwischen den Charakteren – besonders zwischen Paddy und seinem Bruder Francis (genannt Sinbad) – hat mich zunehmend beschäftigt. Es liegt etwas Unausgesprochenes in der Luft, das mich nicht losgelassen hat. Immer wieder wird deutlich, dass die Welt der Kinder nicht von Dauer sein wird: Veränderungen und zunehmende Entfremdung zeichnen sich ab, ob durch den zunehmenden Verkehr oder die Streitigkeiten der Erwachsenen.

Roddy Doyle schafft es aus meiner Sicht, eine Kindheit in all ihrer Unschuld und Härte einzufangen. Die Figuren wirken so lebendig, dass ich sie fast greifen konnte. Das Ende fand ich herzzerreißend. Ein Roman für alle, die vielschichtige Coming-of-Age-Geschichten lieben!

Bewertung vom 30.11.2024
Moralische Ambition
Bregman, Rutger

Moralische Ambition


sehr gut

Rutger Bregman, bekannt durch seinen Bestseller „Im Grunde gut“, den ich sehr mochte, meldet sich mit „Moralische Ambition“ zurück. Das Buch handelt von historischen Vorbildern moralischer Ambition – von Abolitionisten und Suffragetten bis hin zu Held:innen des Widerstands und Bürgerrechtsbewegungen. Es stellt zentrale Fragen: Wie werden große Ideen in die Tat umgesetzt? Und wie kann jede:r Einzelne angesichts globaler Krisen aktiv werden?

Bregman gelingt es, mit seinen Geschichten über Pionier:innen und Veränderer:innen zu berühren und zu motivieren. Der Ton des Buches ist direkt, ein Appell, der Leser:innen nicht nur zum Nachdenken, sondern vor allem zum Handeln auffordert. So wird im Buch betont: „Benutzen Sie es nicht, um irgendwem Vorwürfe zu machen, sondern um sich selbst in Bewegung zu setzen.“ Das hat mir persönlich gut gefallen, auch die Erklärung, dass Awareness ohne darauffolgende Taten und das Engagement, sich in einen Gesetzgebungsprozess einzubringen, wenig bringt, fand ich durchaus augenöffnend.

Die leichte und zugängliche Sprache des Buches ist ein weiteres Plus. Trotz des ernsten Themas liest sich Moralische Ambition schnell und angenehm, was den Übergang von der Reflexion zur Umsetzung erleichtert. So anregend Bregmans Buch auch ist, es bleibt leider nicht ohne Schwächen. Es fällt auf, dass die Argumentation oft auf Anekdoten und Einzelstatistiken fußt. Dies unterfüttert die Erzählung zwar emotional, ersetzt aber keine fundierte Analyse. So werden komplexe Probleme teilweise zu stark vereinfacht. Beispielsweise wird die Vision einer durch Sonnenenergie betriebenen Welt zwar enthusiastisch dargestellt, aber die praktischen und politischen Hindernisse – sowie die Notwendigkeit, den Energieverbrauch im globalen Norden tatsächlich zu senken – werden nur am Rande gestreift. Hier hätte ich mir gewünscht, dass den Leser:innen mehr Ambiguität zugemutet wird.

Moralische Ambition ist damit kein Buch, das die Probleme systematisch erschließt und erklärt, aber es ist eines, das etwas in Bewegung setzen will. So gibt es auch eine zum Buch passende Website. Ich hoffe daher, dass es trotz der Abstriche viele Leser:innen finden wird und tatsächlich Veränderungen anstoßen kann.

Bewertung vom 26.11.2024
Das perfekte Grau
Jamal, Salih

Das perfekte Grau


sehr gut

Dieser Roman war aus meiner Sicht verdient auf der Hotlist der unabhängigen Verlage. „Das perfekte Grau“ überzeugt durch eine außergewöhnliche Mischung aus sprachlicher Schönheit, humorvollen Momenten und Lebensweisheiten bzw. -beobachtungen, die mich berührt haben. Sätze wie „Flucht ist endlose Einsamkeit“ (S. 36) verleihen der Geschichte eine poetische Tiefe, die man nicht so leicht vergisst. Gleichzeitig hat der Roman mir einen Einblick in Lebenswelten gegeben, die mir fremd sind – und genau das ist für mich eine der größten Stärken der Literatur, wie dies im Roman auch beschrieben wird.

Erzählerisch klug konzipiert, führt der Roman mit Dante, Mimi, Rofu und Novelle vier völlig unterschiedliche Charaktere zusammen, die jeweils aus ganz eigenen Gründen auf der Flucht sind. Ihre Reise – eine Art Road Trip, der sich über Boot, Fahrrad und Bahn erstreckt – ist nicht nur eine äußere Flucht, sondern auch eine innere Suche. Es ist spannend zu verfolgen, ob ihre Einsamkeit durch die Gemeinschaft gelindert wird und ob aus Zweckgemeinschaft Freundschaft entstehen kann. Die Eigenwilligkeit der Figuren hat mir besonders gut gefallen. Die Charaktere sind alles andere als klischeehaft oder kitschig, sondern bis auf eine Ausnahme sehr vielschichtig – tatsächlich hat sich der Charakter des Ich-Erzählers für mich am wenigsten erschlossen.

Der Roman erinnert in manchen Momenten mit dem gelungenen Mix aus Handlungs- und Figurenzentrierung an Wolfgang Herrndorfs „Tschick“, was auf dem Cover ja auch angedeutet wird. Dennoch setzt „Das perfekte Grau“ eigene Akzente und vermeidet es, in gängige Muster zu verfallen. Die Reise der vier ist von Pannen, kuriosen Begegnungen und skurrilen Momenten geprägt, aber gleichzeitig immer wieder durchzogen von nachdenklichen Passagen und existenziellen Fragen. Dieser Wechsel zwischen Leichtigkeit und Tiefe macht die Lektüre so abwechslungsreich. Ich empfehle den Roman daher allen mit Spaß an lebensklugen Gedanken, die auf der Suche nach einer facettenreichen und originellen Geschichte sind.

Bewertung vom 23.11.2024
Zuversicht jetzt
Fromm, Sara

Zuversicht jetzt


sehr gut

Sara Fromms Buch „Zuversicht jetzt“ bietet genau das, was der Titel verspricht: eine motivierende und praxisnahe Anleitung, wie wir angesichts der zahlreichen globalen Krisen aktiv werden können. Die Autorin schafft es, Hoffnung zu wecken, ohne dabei die Realität zu beschönigen. Statt eine weitere Problemanalyse vorzulegen, richtet sie den Blick gezielt auf Handlungsmöglichkeiten – ein Ansatz, der in Zeiten von Klimaangst und politischer Frustration erfrischend und dringend nötig ist.

Besonders gelungen fand ich die Kapitel, in denen Fromm anhand historischer und aktueller Beispiele sozialer Bewegungen zeigt, wie kollektiver Protest Veränderungen bewirken kann. Auch die Theorie über das Funktionieren und Wirken sozialer Bewegungen fand ich sehr spannend, da ich mich damit noch nie befasst habe: Warum braucht es einerseits die Reformer:innen, aber auch die Rebell:innen? Das habe ich jetzt sehr viel besser verstanden.

Für mich persönlich, als jemanden, der bereits politisch aktiv ist, waren einige der Inhalte allerdings weniger neu, deshalb haben sich einige Kapitel für mich etwas gezogen. Dennoch hat das Buch einen Mehrwert, da es nicht nur Aktivist*innen, sondern auch Menschen anspricht, die erst am Anfang ihres Engagements stehen. Es schafft den Spagat zwischen grundlegender Einführung und praxisnahen Tipps für Erfahrene, indem es gleichzeitig Strategien für Resilienz und das Vermeiden von Burnout vermittelt. Gerade diese Aspekte fand ich besonders wertvoll, da ich selbst kenne, dass man sich schnell verausgabt - und die Erkenntnis, dass es kollektive Lösungen braucht (statt nur individuell Grenzen zu setzen), ist zwar naheliegend, ich hatte mir das aber nie so vor Augen gehalten.

Fromms Stil ist klar, motivierend und immer auf Augenhöhe mit den Leser*innen. Ihre eigene Erfahrung als Aktivistin und Trainerin fließt spürbar in ihre Vorschläge ein, wodurch sie praktische Handlungsschritte mit eigenen Anekdoten nachvollziehbar und greifbar macht. Deshalb kenne ich jetzt auch wesentlich mehr Gruppen und NGOs als vor dem Lesen. Das Buch ist schon mein zweites aus dem Löwenzahnverlag, den ich definitiv weiter im Auge behalten werde, weil hier ein ganz tolles Verlagskonzept verfolgt wird. Für alle, die sich angesichts der Weltlage oft ohnmächtig fühlen, ist dieses Buch eine echte Empfehlung – nicht zuletzt, weil es zeigt, wie wir gemeinsam stärker sein können.

Bewertung vom 04.11.2024
Bright Young Women
Knoll, Jessica

Bright Young Women


ausgezeichnet

Der Roman zeigt eindrucksvoll und empathisch, wie der berühmte „zweite Anschlag“ funktioniert, also der Anschlag auf die Überlebenden, der nach dem tatsächlichen Verbrechen durch das Verhalten der Öffentlichkeit, der Polizei und der Gerichte verübt wird: dadurch, dass den Überlebenden nicht geglaubt wird, sie nicht in Sicherheit gebracht werden und den Opfern die Schuld in die Schuhe geschoben wird.

All dies passiert auch Pamela und ihren Verbindungsschwestern, nachdem zwei ihrer Mitglieder im Verbindungshaus brutal von einem Serienmörder ermordet wurden. Ich bin kein großer Fan von True Crime oder Thrillern, weil hier meistens die Perspektive des Täters untersucht wird. Aber obwohl die Geschichte, die im Roman erzählt wird, von Serienmörder Ted Bundy inspiriert ist, kommt sein Name im gesamten Roman nicht vor: Die Geschichten und Perspektiven der überlebenden Opfer und die Empathie mit den Opfern stehen im Mittelpunkt, was den Roman in meinen Augen besonders aktuell und relevant macht.

Und auch wenn die geschilderten Geschehnisse teilweise so furchtbar sind, dass ich zwischendurch eine Lesepause brauchte, sind sie immer so feinfühlig und nicht zu drastisch beschrieben, dass die Würde der Opfer gewahrt wird. Deshalb und sicher auch wegen der großartigen Übersetzerin Jasmin Humburg liest sich der Roman sehr flüssig. Dadurch, dass die Kapitel Einblicke in die Perspektive unterschiedlicher Opfer zu unterschiedlichen Zeiten geben, liest sich der Roman zusätzlich sehr abwechslungsreich und die Spannung bleibt bis zum Schluss hoch, obwohl ich persönlich eigentlich schon vor Lesen des Romans wusste, wie die Geschichte ausgehen würde.

Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war die unglaubliche Widerstandskraft und Resilienz der überlebenden Opfer. Der Roman zeigt, wie sie Schmerz und Trauma in positive Handlungen umwandeln. Das macht trotz des vielen Frusts darüber, dass auch heute noch Frauen und anderen marginalisierten Opfern nicht geglaubt wird und Männer für ihre Mittelmäßigkeit bewundert werden, ein bisschen Hoffnung! Ich habe den Roman insgesamt sehr gerne gelesen und er hat mich sehr beschäftigt. Das kommt definitiv nicht bei jedem Buch, das ich lese, vor. Eine kleine Kritik spreche ich jedoch aus: Der Roman ist sehr amerikanisch, weil die Todesstrafe gegen den Täter nicht infrage gestellt wird, das fand ich teilweise unangenehm. Jasmin Humbug hat wie immer großartig übersetzt.

Bewertung vom 02.11.2024
Das Wesen des Lebens
Turpeinen, Iida

Das Wesen des Lebens


ausgezeichnet

„Das Wesen des Lebens“ war für mich eine unerwartet positive Überraschung - ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich den Roman so sehr mag! Vom Stil erinnert es mich mit seiner poetischen Schreibart ein wenig an Florian Illies, den ich als Autor auch sehr mag. In diesem Buch geht es jedoch nicht um Kultur, sondern um die Geschichte der Naturwissenschaften und des Artensterbens am Beispiel des Skeletts der Stellerschen Seekuh.

Anhand des Skeletts der Stellerschen Seekuh entfaltet sich ein faszinierender und gleichzeitig melancholischer Erzählstrang, der die Zerstörungskraft der menschlichen Neugier, das Streben nach Erkenntnis und dessen oft tragische Konsequenzen für die Umwelt beleuchtet. Mit der Seekuh reist man von der Beringsee des 18. Jahrhunderts und den rauen Bedingungen der Großen Nordischen Expedition über die russisch-amerikanische Kompanie in Alaska im 19. Jahrhundert bis zu den Vogelinseln vor Helsinki Mitte des 20. Jahrhunderts und lernt durch die Verbindungen der Seekuh und ihrer Forscher:innen auch weitere ausgerottete Arten kennen. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich normalerweise nicht so sehr für die Geschichte der Naturwissenschaften interessiere. Turpeinen erzählt aber so schön und schafft es auch, einfühlsam Perspektiven für Hoffnung aufzuzeigen, dass ich zwischendurch vor Trauer und Rührung ein paar Tränchen verdrücken musste. Wer hätte das gedacht?

„Das Wesen des Lebens“ ist für mich eine richtige literarische Entdeckung gewesen - ein absolutes Muss für alle, die es auch gerne mal nachdenklich und etwas melancholisch mögen und definitiv nicht nur für Menschen, die sich für Artensterben und Naturwissenschaften interessieren!