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Stickl
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 7 Bewertungen
Bewertung vom 27.02.2021
Weiß
Kang, Han

Weiß


ausgezeichnet

Die südkoreanische Schriftstellerin, die in koreanischer Literatur promoviert hat und am Kulturinstitut Seoul doziert, teilt diesen schmalen Roman in drei Kapitel auf: Ich, Sie und Alles weiß. Jedes Unterkapitel hat zusätzlich eine eigene kurze Bezeichnung erhalten, überwiegend besteht der Titel aus Dingen, die weiß sind oder etwas mit der Farbe weiß zu tun haben, wie zum Beispiel Mond und Schneeflocken. Die Unterkapitel wirken deswegen und wegen ihrer Kürze wie lange Gedichte, die inhaltlich aufeinander aufbauen. Schließlich veröffentlicht die Autorin seit 1993 auch Gedichte. Auf diese Weise können einige Unterkapitel auch für sich, aus dem Kontext herausgenommen, gelesen und verstanden werden.
In der Geschichte verarbeitet die Protagonistin zwei Totgeburten ihrer Mutter, die vor ihrer eigenen Geburt geschahen. Dazu verlässt die Erzählerin im zweiten Kapitel die Ich-Perspektive und wechselt in die personale Erzählperspektive. Insbesondere der Tod des ersten Kindes ihrer Mutter beschäftigt die Erzählerin, hätte sie doch dann eine ältere Schwester gehabt und wäre nicht selbst die ältere Schwester für ihren jüngeren Bruder gewesen. Anlass für diesen Anflug von Melancholie und für das Nachdenken über die Gefühlswelt ihrer damals sehr jungen Mutter, die für sich und ihr Erstgeborenes keine Hilfe holen konnte, ist der Aufenthalt in einem verschneiten Ort weit entfernt von der Heimat Südkorea. Immer wieder zieht die Erzählerin Parallelen von diesem Ort zu ihrer eigenen Gefühlswelt.
Die weiße Gedankensammlung der Autorin liest sich sprachlich sehr gut. Der Satzbau ist weder zu kompliziert noch zu einfach, was sicherlich auch an der guten Übersetzung liegt. Die Geschichte kommt fast gänzlich ohne wörtliche Rede aus. Ab und an findet sich eine Frage an den Leser. Fehl- und Totgeburten sind noch immer Themen, über welche die Menschen nicht gerne sprechen. Dabei kommen sie noch heute vor und häufiger als wir denken. Die gewählte Sicht des Geschwisterkindes, das einen weiteren Bruder oder eine weitere Schwester haben könnte, eignet sich dafür, dass sich nicht nur Frauen, sondern sehr gut auch Männer in die besondere Situation hineinversetzen können. Die Autorin bleibt jedoch nicht bei der Darstellung nur von Gefühlen stehen, sondern hat ihre Erzählung mit kleineren weiteren Geschichten rund um die Erzählerin angereichert. Dadurch vermeidet sie, dass das Buch ins Philosophische abdriftet oder kitschig wird.

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Bewertung vom 26.11.2019
Virginia
Zink, Nell

Virginia


ausgezeichnet

Rasant treibt Nell Zink die Story in ihrem dritten ins Deutsche übersetzten Roman „Virginia“ voran. Der Titel steht dabei nicht nur für den US-Bundesstaat, sondern auch für die Frauen in diesem Roman, die viel zu jung in familiär schwierige Situationen manövriert werden. Peggy wird im Studium von ihrem Literautr-Professor geschwängert, ihre Tochter muss später auf zwei Jahre ihrer Jugend verzichten, da ihre Mutter ihr eine neue Identität gibt – stets auf der Flucht vor dem Ehemann. In ihrer Angst, er könne sie dauerhaft in eine psychiatrische Anstalt einweisen, trennt sich die homosexuelle Peggy von ihrem homosexuellen Professor und Ehemann, indem sie ihren Sohn zurücklassend mit ihrer Tochter auszieht und dauerhaft auf der Flucht vor ihm bleibt.

Die Autorin übt mit ihrer Geschichte auch Kritik an festgefahrenen Strukturen und Denkweisen in den USA, insbesondere in Bezug auf die Unterschiede infolge der Hautfarbe und das konservative Bürgertum.

Entsprechend sind ihre Hauptfiguren Außenseiter oder doch zumindest nicht oder nicht mehr an das bürgerliche Leben angepasst. Der Plot ist am Ende weniger überraschend als am Anfang. Die während des Lesens lang ersehnte Auflösung und Familienzusammenführung ist von einer Prise zu viel Zufall geprägt. Hinzu kommen für alle Figuren Hollywood-ähnliche Happy Ends.

Trotz einiger Längen liest sich das Buch schnell und flüssig. Der Sprachstil ist verhältnismäßig einfach, die Übersetzung aber gelungen.

Bewertung vom 07.06.2017
Nussschale
McEwan, Ian

Nussschale


weniger gut

Der neue Roman "Nussschale" von Ian McEwan ist eine kurze Geschichte über ein familiäres Dreiecksverhältnis, die keine wesentlichen Überraschungen für den Leser vorhält.

Bedauerlicherweise fehlt bereits der Ausgangssituation der Geschichte die hinreichende Logik: Wenn die schwangere Ehefrau des wohlhabenden Dichters nur an sein Geld will, weshalb trennt sie sich dann noch vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes und dem Mord an ihrem Mann von diesem? Sie wäre als Ehefrau doch viel weniger tatverdächtig gewesen als als Geliebte des Bruders des Ermordeten. Das wahre Liebe zu ihrem Schwager kaum der Grund sein kann, wird vor allem am Ende des Buches deutlich: Die Geliebten hegen reges Misstrauen gegeneinander und unterstützen sich gegenseitig nur widerwillig. Dies lässt die Hauptfiguren unsympathisch auf den Leser wirken. Am ehesten hat der Leser noch mit dem Ermordeten Mitleid, der jedoch aus der Sicht der Schwangeren auch als nicht liebenswert und unattraktiv dargestellt wird.
Die angebliche Neuheit in der Literatur, dass ein ungeborenes Kind der Erzähler der Geschichte ist, lässt sich in bekannten Blockbustern wie zum Beispiel in „Guck mal, wer da spricht“ wiederfinden. Diese Konstruktion war erforderlich, um den eher langweiligen und überkonstruierten Plott aufzuwerten und das Buch interessant zu machen.

Allerdings hält der Autor es an vielen Stellen nicht ein, dass der ungeborene Säugling nur das weiß, was er aus dem Bauch der Mutter mitbekommt. Er wird vielmehr als allwissend dargestellt, der über Podcasts, die die Mutter hört, bereits ein umfassendes Wissen über das Weltgeschehen hat. Schmunzeln kann der Leser da schon eher über das Alkoholproblem des Embryos und seiner Mutter, wenn dies auch in der Wirklichkeit nicht gerade lustig ist, da die negativen Einflüsse auf die Kindesentwicklung durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft bekannt sind.

Da das Buch endet, sobald das Baby auf der Welt ist, kommt der innere Konflikt des Babys zwischen der Liebe zu seinen zerstrittenen Eltern, dem Hass auf den Onkel und den Alkoholkonsum seiner Mutter und seinen mit den Folgen des Mords an seinem Vater auf seine eigene Zukunft nicht mehr ausreichend zum Tragen, sondern wird nur angedeutet.

Bei den zahlreichen, eher philosophisch anmutenden Monologe des ungeborenen Babys neigt der Leser dazu, diese mangels Relevanz für die Grundgeschichte zu überspringen.

Der Plott als solcher eignet sich gut für eine Aufführung an einem kleinen Theater, da auch der Schauplatz auf den 288 Seiten nicht wechselt.

Das Ende des Romans wirkt realitätsfern: Zum einen ist es utopisch, eine große Immobilie umgehend nach dem Tod des Eigentümers verkaufen und mit dem Kaufpreis nach wenigen Tagen fliehen zu können, zumal noch nicht einmal das Erbe festgestellt war. Dies fiele auch sehr auf und ließe leicht Rückschlüsse auf das Tatmotiv zu. Zum anderen löst das Platzen der Fruchtblase keine umgehenden so starken Wehen aus, dass das Baby innerhalb von wenigen Minuten auf die Welt kommt.

An diesen Stellen fehlt es an Recherchen des Autors und an einem aufmerksamen Lektorat.

Trotzdem lässt sich das Buch gut und schnell lesen, was nicht zuletzt auch am guten Sprachstil des Bestseller-Autoren McEwan liegt. Das Buch ist unterhaltsam und eher leichte Lektüre. (sp)

Bewertung vom 01.11.2016
Da geht einer
Bienwald, Susanne

Da geht einer


sehr gut

„Da geht einer“ – und er geht sehr weit: von München nach Hamburg, eine Strecke, die wir heutzutage selbst ungern mit dem Schnellzug ICE zurücklegen. Der Businessman von heute nutzt aus Zeitgründen lieber den Flieger.

Doch Christian Friedrich Hebbel feilt noch an seiner Karriere. Der schwere Gang in der Winterszeit soll seine Dichterlaufbahn beflügeln. Der junge Jurist erwartet Neuaufträge in Hamburg und ein besseres Netzwerkumfeld als in München. Den Zugang dazu sollen ihm seine Hamburger Ex-Freundin Elise Lensing und Amalie Schoppe, Initiatorin seines Stipendiums und selbst Autorin, - nochmals - vermitteln.

Während seiner Wanderung schreibt Hebbel an dem Drama „Judith“, nach der biblischen Geschichte von Judith und Holofernes, das 1840 am Berliner Hoftheater uraufgeführt wird. Mit diesem Lichtblick in der Tasche, endlich ein großes Werk verfasst zu haben, führt Hebbel seinen Weg immer weiter fort, auch wenn ihm das Geld und die saubere, heile Kleidung ausgegangen sind.

Der Roman von Susanne Bienwald gibt in der Ich-Perspektive einen Einblick in das beschwerliche und ärmliche Leben von Künstlern im 19. Jahrhundert. Ein rasches Vernetzen mit Mentoren und Gönnern wie heute war nicht möglich. Es konnten nur Briefe geschrieben und sich in persönlichen Gesprächen vis-a-vis dargestellt werden.

Dem jungen Hebbel liegt die Selbstvermarktung jedoch nicht. Allerdings ist diese auch nur in Gedanken in des Dichters Kopf Thema. Wie Hebbel in Hamburg letztlich aufgenommen wird, erfährt der Leser nicht mehr. Abenteuer auf seiner Wanderung sind eher wenig gefährlich und aufregend.
Was als Eindruck zurückbleibt, sind die Existenz- und Versagungsängste Hebbels sowie seine Ärmlichkeit, die sogar seinen kleinen Hund Hänschen in Lebensgefahr bringt.

Fazit: Schön, dass eine Autorin sich einmal eines solchen historischen Themas annimmt und die Recherchen dazu nicht scheut. Schließlich machen wir uns doch beim Lesen vor Gedichten oder Theaterstücken meist keine größeren Gedanken, unter welchen Bedingungen sie zustande kamen.