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Snowbird

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Insgesamt 7 Bewertungen
Bewertung vom 12.10.2024
Scheue Wesen
Chambers, Clare

Scheue Wesen


gut

England, 1964. Helen, Mitte 30, ledig, ist Kunsttherpeutin in einer psychatrischen Einrichtung. Seit drei Jahren unterhält sie eine Beziehung zu Gil, einem Psychotherapeuten, der in der gleichen Einrichtung praktiziert. Doch zu ihrem Bedauern hat diese Beziehung keine Zukunft, denn Gil ist verheiratet und hat von vornherein klar gemacht, dass die Trennung von seiner Familie keine Option ist. Sie lässt sich sehr von Gil beeinflussen, und mehr und mehr wird ihr klar, dass sie in einem unguten Abhängigkeitsverhältnis feststeckt und ihr Leben sehr, zu sehr, nach seinen Bedürfnissen ausrichtet. Dabei vergisst sie, selbst zu leben.

Dann wird sie zufällig eines Tages dazugerufen, als ein neuer Patient aufgenommen wird. William ist wie sie in den Dreißigern, jedoch wirkt er verwahrlost und verschroben. Kein Wunder, denn er war für gute zwanzig Jahre völlig von der öffentlichen Bildfläche verschwunden und lebte mit zunächst drei, zuletzt noch einer Tante zurückgezogen und versteckt vor der Öffentlichkeit. Das Schicksal des künstlerisch begabten jungen Mannes geht Helen nahe, und so sucht sie nach Hinweisen und legt seine Vergangenheit und den Ursprung seines abgeschiedenen Lebens frei.

Der Roman gibt interessante Einblicke in die Abläufe in einer psychatrischen Klinik in den 60er Jahren. Zentral ist auch die Frage, aufgebracht durch Gil, der sich an R. L. Laings antipsychatrischem Ansatz orientiert, was normal ist und was nicht, und ob es nicht normal überhaupt gibt, oder ob es nicht vielmehr darum geht, gesellschaftlich kompatibel zu sein und normal somit lediglich eine Vereinbarung ist. Heute würde man dies vielleicht unter Schubladendenken fassen, wobei die Gesellaschaft in den 60ern vermutlich weit weniger großzügig war verglichen mit heute, welches Verhalten gesellschaftlich noch akzeptabel ist und welches nicht.

Gut illustriert wird dies auch durch Helens pubertierende Nichte, die eines Tages Patientin in der Einrichtung wird. Die Ursache ist harmlos: sie pubertiert, ist nicht mehr gut lenkbar, und damit kommt ihre Mutter nicht zurecht. Wobei Pubertät historisch betrachtet ein Phänomen des späteren 20. Jahrhunderts ist. Was nicht bedeutet, dass es sie vorher faktisch nicht gegeben hätte.

Die kurzweilig zu lesende Geschichte ist multiperspektivisch erzählt. 1964 erleben wir aus der Sicht von Helen. Diese Handlungsebene wird unterbrochen durch Rückblicke aus Williams Sicht, die chonologisch rückwärts angeordnet sind. Und manchmal gibt es auch einen allwissenden Erzähler. Die Idee zu Clare Chambers Roman geht auf einen wahren Fall zurück. Die psychologischen Aspekte dieses Romans sind für mich definitiv der interessantere Teil und hätten nach meinem Geschmack noch stärker herausgearbeitet werden dürfen. Etwas zu auserzählt empfinde ich das Beziehungskonstrukt von Helen und Gil. Besonders das Intro hätte hier kürzer gefasst werden können, es braucht schon eine ganze Weile, bis die Story zur eigentlich relevanten Handlung kommt.

Aus dem Englischen übersetzt wurde der Roman von Wibke Kuhn. Diese Information habe ich der Website des Verlags entnommen, denn im Buch wird die Übersetzerin leider nicht namentlich genannt.

Bewertung vom 07.10.2024
Die Töchter des Zauberers
Seemann, Annette

Die Töchter des Zauberers


ausgezeichnet

Ich bin total begeistert von diesem sehr kurzweilig geschriebenen Buch, weil ich auf unterhaltsame Weise viel Neues über die Familie Mann erfahren habe. Vor allem wusste ich kaum etwas über die Vielschichtigkeit der Töchter Monika und Elisabeth, über Monika eigentlich gar nichts. Ein Umstand, der sich aus diesem aufschlussreichen Buch heraus erklärt. Annette Seemann inspiriert mich zu weiterer Lektüre von den und über die Manns.

An die sechs Kinder, jeweils im Zweiergespann paarweise mit einigen Jahren Abstand zu den nächsten beiden geboren, wurden von ihren Eltern sehr hohe Erwartungen gestellt. Der Leistungsanspruch, den Thomas und Katia Mann hatten, war außergewöhnlich hoch. Da war es ein Glück, dass alle ihre Kinder auf musischem und literarischem Gebiet außerordentlich begabt waren. Diese Begabungen wurden von den Eltern entsprechend gefördert. Das war es dann aber auch. Die Liebe der Eltern war sehr ungleichmäßig auf die Kinder verteilt, ebenso Lob und Anerkennung. Thomas Manns Belange hatten stets Vorrang vor den Bedürfnissen der Kinder. Katia, die als Privatsekretärin und Impressario für ihren Mann agierte, war mit den zusätzlichen Aufgaben der Haushaltsführung und Kindererziehung häufig überfordert. Diesen Umstand nutzten vor allem Erika und Klaus bereits in der frühen Pubertät aus und entzogen sich der Kontrolle der Eltern völlig, so dass man hier von Wohlstandsverwahrlosung sprechen kann.

Mit vielen Details gespickt zeichnet AS den Weg der Familie Mann über 100 Jahre vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Tod der letzten Mann-Tochter Elisabeth im Jahr 2002 nach. Erika und Elisabeth sind die Lieblingskinder des Vaters. Alle drei Mädchen bewundern ihn sehr und bringen ihm viel Liebe entgegen.

Monika, die mittlere Tochter, hat es jedoch sehr schwer in dieser Familie, denn sie entspricht nicht den Vorstellungen der Eltern, und deren Desinteresse an ihr färbt auf die Geschwister ab. Das zeigt sich in diverser Hinsicht. Sie ist nicht androgyn wie ihre Schwestern, sondern sehr feminin in Aussehen und Verhalten. Sie kennt keinen Standesdünkel, ein Merkmal, mit dem sie besonders bei Katia und Großmutter Pringsheim sehr aneckt. Wahrscheinlich ist sie das authentischste Kind der sechs, denn sie verstellt sich nicht, spielt keine Rolle, auch nicht, um zu gefallen. Doch das macht es ihr schwerer als den anderen, ihren Weg im Leben zu finden. Am Anfang des Krieges erleidet sie ein schweres Trauma und benötigt Jahre, um sich davon zu erholen. Aber weder ihre Eltern noch ihre Geschwister, mit Ausnahme von Klaus, der ihr gegenüber positiv gesinnt ist, sind bereit, das anzuerkennen und verweigern Verständnis und Hilfe in dem Umfang, in dem sie beides bräuchte. Kurzum, es ist egal, was Monika macht, sie kann nichts richtig machen.

Erika ist zeitlebens eine Getriebene und zeichnet sich durch ein extrem hohes Arbeitspensum aus. Sie ist zunächst Schauspielerin, gründet dann ein Kabarett, wird Journalistin, Autorin und Nachlassverwalterin ihres Vaters und Bruders. Im Exil wird sie vor allem für den Vater unentbehrlich. Elisabeth, die Jüngste, muss sich nicht beweisen, sie wird um ihrer selbst Willen geliebt und lebt ganz nach ihren Vorstellungen. Auch ihr Leben ist reich und außergewöhnlich: sie befasst sich intensiv mit Meeresbiologie, ist die einzige weibliche Mitbegründerin des Club of Rome und erhält in Kanada eine ordentliche Professur für Seerecht.

Das Verhalten der Eltern Mann gegenüber Monika und in Teilen auch gegenüber den Söhnen, um die es hier jedoch nicht primär geht, hat mich erschüttert. Finanziell haben sie sich nicht lumpen lassen, aber emotional kann ich diese Eltern nur als verkümmert bezeichnen. Ich habe Katia Manns ungeschriebene Memoiren nicht gelesen, erfahre aber hier, dass Monika dort mit keinem Wort erwähnt wird. Als ob es sie gar nicht gäbe. Und auch Thomas Tagebuchaufzeichnungen müssen für sie und Michael erschütternd gewesen sein. Was macht das mit einem Kind? Erika, die Nachlassverwalterin, hätte das alles gerne unter der Decke gehalten, aber irgendwann hat die langmütige Monika nicht mehr mitgespielt und sich gleichberechtigt geäußert. Aber das lest am besten selbst. Es ist sehr, sehr spannend.

AS hat das Bild einer dysfunktionalen Familie gezeichnet, anders kann ich das nicht definieren, und damit hat sie den großen Thomas Mann in gewisser Weise von seinem Sockel gestoßen. Als Autor war er genial, als Mensch jedoch nicht, und als Vater schon gar nicht. Und Katia war leider kein ausgleichendes Element, denn sie stand ihm diesbezüglich in Nichts nach. Man könnte sagen, sie hatten sich verdient.

Das Buch enthält eine Reihe von Familienfotos, die auch einen optischen Einblick in das Familienleben gewähren.

Annette Seemann ist promovierte Germanistin. Sie hat diverse Bücher über Weimar geschrieben, wo sie auch lebt. Auch mit Peggy Guggenheim, Frida Kahlo und Schillers Schwester Christophine hat sie sich beschäftigt.

Bewertung vom 30.09.2024
Im Land der Wölfe
Koester, Elsa

Im Land der Wölfe


ausgezeichnet

Elsa Koester ist stellvertretende Chefredakteurin bei der Wochenzeitung Der Freitag. 2019 verbrachte sie beruflich eine Woche in Görlitz. Ihre Beobachtungen dort inspirierten sie zu diesem sehr lesens- und nachdenkenswerten Roman.

Nana lebt in Berlin, sie ist Coach und kommt jetzt in die fiktive sächsische Stadt Grenzlitz an der deutsch-polnischen Grenze, um dort Katja Stölzer zu coachen, die Bürgermeisterkandidatin der Zukunftsgrünen. Denn in Grenzlitz sind demnächst Wahlen, und die Zukunftsgrünen, die Konservativen und die Blauen sind in etwa gleichauf.

Stölzel und ihre Parteifreunde geben sich allerdings wenig kooperativ, man könnte auch sagen, sie mauern. Das mag daran liegen, dass Nana nicht aus Sachsen kommt und das Terrain nicht kennt. Weiß sie überhaupt, mit wem sie es hier zu tun hat? Sie versucht eine Annäherung, kommt mit den Leuten ins Gespräch und hört sich an, was sie bewegt. Eine dieser Personen ist Falk Schloßer, rechte Hand des Spitzenkandidaten der Blauen, der wie Katja in Grenzlitz aufgewachsen ist. Man kennt sich und hat im Alltag miteinander zu tun. Aber über das Private hinaus mit den Blauen reden? Kommt das beim Wähler richtig rüber? Ja, sagt die Coachin. Man muss doch den politischen Gegner kennen und wissen, wie der tickt, damit man ihm begegnen kann.

Gegen ihren Willen und ihre Überzeugung fühlt Nana sich zu Schloßer hingezogen. Das ist ihr selbst suspekt, doch da ist etwas in beider Vergangenheit, das sie gegenseitig anzieht, denn sie haben ähnliche Erfahrungen gemacht.

Von Nanas Vergangenheit erzählt der Roman in einer parallelen Handlung. Nana tauscht E-Mails aus mit ihrem Bruder Noah, der jetzt aber lieber ihre Schwester sein möchte. Damit kommt Nana nicht klar. Noah war ihr Beschützer, ihr Kümmerer, wenn die heimwehkranke und psychisch angeschlagene Mutter dazu nicht in der Lage war. Diese Rolle will er jetzt nicht mehr. Doch damit will Nana sich nicht auseinandersetzen, denn dann kommt raus, das Noah sich nicht in jeder Hinsicht gut gekümmert hat. Zuerst war mir nicht klar, warum die Autorin mit Noah das Thema der Gender-Identität aufmacht, da sie dieses bereits bei einer anderen Person einfließen lässt. Dort ist das für Nana völlig in Ordnung, aber bei Noah hat sie Schwierigkeiten, es anzunehmen. Toleranz kann bröckelig werden, wenn man persönlich involviert ist. Ich vermute, dass EK diesen Punkt illustrieren möchte.

Nana ist anders, als ich mir einen Coach vorstelle. Sie wirkt auf mich wenig gefestigt und könnte zuweilen selbst Coaching vertragen. Unklar ist mir, warum und wie sie eine Person unterstützen möchte, die den Eindruck vermittelt, das gar nicht zu wollen. Die Schlüsselfigur in diesem Roman ist Falk Schloßer. Als Justizvollzugsbeamter hat er einen sicheren Beruf, als Langzeitsoldat mit Auslandseinsätzen hat er über den heimischen Tellerrand geblickt, und als getrennt lebender Vater weiß er um die Notwendigkeit von Absprachen und Kompromissen. Er ist nicht gesellschaftlich abgehängt. Warum also ist er bei den Blauen? Er ist intelligent, hat gute Umgangsformen, ist sprachlich eloquent, kann eine Argumentationskette aufbauen. Das sind Eigenschaften, die er auch in den Dienst einer anderen Partei stellen könnte, z. B. den der Zukunftsgrünen. Welcher Punkt im Leben entscheidet darüber, wo wir uns politisch verorten, welche Haltungen wir einnehmen? Nana und Falk haben vergleichbare Kindheitserfahrungen gemacht, vermutlich fühlen sie in bestimmten Belangen ähnlich, haben auch ähnliche Eigenschaften, trotzdem sind sie ideologisch extremst auseinander. Wo ist der Kipppunkt im Leben? Das ist eine der zentralen Fragen des Romans.

Lösungsvorschläge bietet EKs Roman nicht an. Er zeigt aber auf exemplarische Weise auf, wie sich eine Gesellschaft aufheizen kann, wenn Haltungen in zentralen Fragen auseinanderdriften und wenn es keine eindeutigen Mehrheiten mehr gibt. EK hat einen sehr treffenden Roman zur Zeit geschrieben, durch den ich mich am Anfang etwas durchbeißen musste, der mich dann aber auf eine Art absorbiert hat, dass ich mich bei der Lektüre wie eine Person im Geschehen fühlte.

Bewertung vom 20.09.2024
Sing, wilder Vogel, sing
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


sehr gut

In den Jahren 1845 bis 1849 wurde die irische Bevölkerung Opfer einer furchtbaren Hungersnot. Ausgelöst durch die Kartoffelfäule kam es mehrere Jahre hintereinander zu Missernten. Kartoffeln waren das Hauptanbauprodukt und demzufolge auch das Hauptnahrungsmittel der ländlichen Bevölkerung. Mangels Erträgen waren die Pächter bald mittellos und konnten den Mangel an Kartoffeln nicht kompensieren. Die Regierung hätte den Export von Weizen untersagen können, um die eigene Bevölkerung zu unterstützen - hat sie aber nicht. Über eine Millionen Menschen bzw 12% der Bevölkerung starben an Hunger. Weitere 2 Millionen wanderten aus, um diesen furchtbaren, ausweglosen Verhältnissen zu entkommen.

Eine davon ist die junge Honora, der außer ihrem Leben nichts geblieben ist. Doch das stand von Anfang an unter keinem guten Stern, denn bei ihrer Geburt starb ihre Mutter, und dies macht sie, kombiniert mit einem Aberglauben, zur lebenslangen Außenseiterin in der irischen Gesellschaft. Honora tickt anders als ihre Zeitgenossen, und das macht sie zusätzlich verdächtig. Auf dem Schiff nach Amerika trifft sie Mary, mit der sie sich zusammentut, zunächst in New York, später im westlichen Territorium. Nach schwierigen Jahren ordnet sich Honoras Leben, doch sie kann langfristig nicht aus ihrer Haut, was neue Konflikte hervorruft. Im Territorium ist es, wie schon in Irland, ihre besondere Beziehung zur Natur, die ihr Kraft und Halt gibt. Die Hinwendung Honoras zur indigenen Bevölkerung dieses weiten Landes ist für sie vor diesem Hintergrund nur noch ein kleiner Schritt.

Jacqueline O’Mahony bescheibt eine von Armut, Ausbeutung, Aberglauben und Bildungsferne geprägte Welt. Die Landbevölkerung hat nichts zu Essen, kann die Pacht nicht mehr aufbringen und ist den Mächtigen völlig ausgeliefert. Honora trägt diese Bürde wie ein Kainsmal durch ihr Leben. Sie kann zwar Irland verlassen, aber Irland lässt sie nicht los.

Die Autorin vermischt die Tragödie einer jungen Frau, eingebettet in historisches Geschehen, mit Elementen eines Abenteuerromans. Sie lässt ihre Protagonistin von Anfang an kritisch auf die Landnahme im Territorium blicken. Geprägt und sensibilisiert durch die Ausbeutung in Irland stellt sie die Frage nach den Besitzansprüchen für das Land. Dürfen die neuen Siedler ihre Parzelle ihr Eigen nennen? Wem hat das Land vorher gehört? Oder wem gehört es noch? Ein Pony mit unklarem Besitzerstatus wird zum Sinnbild für diese Fragen.

Ich habe den Roman ganz gerne gelesen, er ist spannend, traurig, zu Tränen rührend und liest sich flott weg. Allerdings konnte ich, ganz ähnlich wie ihre Zeitgenossen, Honora nur bedingt nahe kommen, und ich frage mich auch, ob die Autorin nicht ein wenig zu viel gewollt hat, erscheint mir die Handlung doch etwas überfrachtet mit der Geschichte der irischen Hungersnot einerseits und der ethisch-moralischen Frage nach der Landnahme in Amerika andererseits.

Die Autorin Jacqueline O’Mahony ist 1972 in Irland geboren und wurde bereits im Alter von 14 Jahren von der Zeitung Irisch Examiner als „Young Irish Writer of the Year“ ausgezeichnet. Dieser Roman wurde von pociao und Roberto de Hollanda aus dem irischen Englisch übersetzt.

Bewertung vom 15.09.2024
Akikos stilles Glück
Sendker, Jan-Philipp

Akikos stilles Glück


ausgezeichnet

Gleich vorweg: Akikos stilles Glück war ein großes Lese-Glück für mich. Japan, dieses so weit entfernte, lange Zeit in sich abgeschlossene Land, erscheint mir oft fremd, unzugänglich und unkompatibel. Sendkers Protagonistin Akiko hat es mir jetzt ein Stück näher gebracht.

Akiko ist eine junge Frau, Endzwanzigerin, Buchhalterin, ledig und ohne jeglichen Familienanhang. Damit entspricht sie ganz und gar nicht der Norm, doch Akiko kann gut mit sich alleine sein. Deshalb beschließt sie, inspiriert von einer Freundin, sich selbst zu heiraten. Was? Dachte ich, als ich das las. Das hatte ich noch nie gehört. Aber in Japan ist Solo-Wedding nicht unüblich. Gleichzeitig trifft sie zufällig den jungen Mann wieder, der in der High School ihre erste Liebe war. Kento ist heute ein Hikikomori. Noch etwas, das ich nicht kannte. Hikikomoris sind Menschen, die sich der Gesellschaft verweigern und die meiste Zeit ihre Wohnung nicht verlassen, weil ihnen alles zuviel ist - Menschen, Geräusche, Gerüche. Diese Wiederbegegnung ist es, die Akiko ins Grübeln bringt: wer ist sie? Mag sie sich? Was will sie, was erwartet sie von ihrem Leben? Woher kommt sie? Eine Phase der Selbstreflexion und des Rückblicks in ihre Vergangenheit mit ihrer alleinerziehenden Mutter beginnt. Doch anstelle von Antworten ergeben sich zunächst weitere Fragen.

Am Beispiel seiner Figur Akiko gewährt Sendker Einblicke in das japanische Arbeitsethos, in Familienstrukturen, in gesellschaftliche Konventionen. In mancherlei Hinsicht ticken Japaner völlig anders als wir, aber in bestimmten Bereichen unterscheiden wir uns nicht. Akiko lebt in der 40-Millionen-Metropole Tokio, könnte ihr Leben aber auch in Hamburg, Paris oder London führen. Ich konnte ihr nahe kommen, bin mit ihr U-Bahn gefahren, habe neben ihr an der Bar gesessen und konnte ihre Gedankengänge nachempfinden. Sendker hat mit ihr eine lebensechte Figur erschaffen, der ich gerne weiter auf ihrem Weg zur Selbstfindung folgen werde. Irgendwo las ich, dieses Buch sei der Auftakt zu einer Japan-Triologie. Nun warte ich gespannt auf die Fortsetzung und werde derweil andere Titel von Sendker lesen.

Im Anhang gibt es ein Glossar, welches im Text verwendete japanische Begriffe erklärt. Das Buch ist mit einem Lesebändchen ausgestattet und hat, wie ich finde, ein sehr schönes Cover, das auf mich sehr ausgeglichen wirkt und damit gut zu seiner Protagonistin Akiko passt.

Bewertung vom 25.08.2024
Beale Street Blues
Baldwin, James

Beale Street Blues


ausgezeichnet

James Baldwin wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat der dtv-Verlag seine Romane und Essay-Bände neu aufgelegt. Miriam Mandelkow hat sie neu übersetzt.

„Beale Street Blues“ erzählt die Geschichte von Vonny und Tish, einem jungen Liebespaar im New York der 70er Jahre. Die beiden kennen sich von Kindheit an, und plötzlich war sie da, die Liebe. Alles könnte so schön sein, denn gerade haben sie einen Speicher in Harlem bezogen, in dem der bildende Künstler Vonny auch arbeiten kann, und sie wollen heiraten, denn Tish ist schwanger. Doch bevor es dazu kommt, wird Vonny von einem rassistischen Polizisten verhaftet und für eine Straftat angeklagt, die er nicht begangen hat.

Tish ist die Erzählerin dieser Geschichte, die so ausweglos erscheint und dennoch voller Hoffnung ist und voller Liebe. Die Freude auf das erwartete Baby zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung, dieses kleine Wesen ist der Hoffnungsschimmer am Horizont und der Motor, der die Familie kämpfen lässt. Baldwin wirft uns mitten hinein in die Handlung. Es gibt eine Erzählzeit und eine erzählte Zeit. Schicht um Schicht wird freigelegt, was zu Vonnys Verhaftung führte. Dabei hatte ich das Gefühl, immer bereits ein wenig mehr zu wissen, als er Tish berichten lässt. Es ist die immer gleiche Gesichte von weißer Überlegenheit, die Baldwin uns hier erzählt, sie könnte 1950 spielen oder 1910 oder heute. Beim Lesen hatte ich „I can’t breathe!“ im Ohr. Ein bisschen anders läuft es hier ab, der Polizist legt nicht selbst Hand an, aber er weiß, an welchen Schrauben er drehen muss.

Die Geschichte eines Freundes diente Baldwin als Inspiration für diesen Roman, zu dem Daniel Schreiber ein sehr schönes Nachwort geschrieben hat. Ich habe zum ersten Mal Baldwin gelesen und freue mich sehr, mit diesem wunderbaren Buch den Einstieg in sein Werk gefunden zu haben. Hiermit lege ich es euch dringend ans Herz.

Bewertung vom 16.08.2024
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


ausgezeichnet

Reza ist 9 Jahre alt, als er in den 80er Jahren mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland flieht, wo er fortan in einer Plattenbausiedlung in Bochum lebt. Reza ist ein äußerst sensibler, kluger Junge und später junger Mann, dem Khani eine wunderbare, poetische, bildhafte und fein ziselierte Sprache in den Mund legt. Rezas Leben wird geprägt durch Erfahrungen, Herkunft, Erziehung und Umfeld. Seine akademisch gebildeten Eltern, die alles dafür tun, Land und Leute zu verstehen, ahnen wenig davon, wie vollkommen konträr zu ihrer inneren Haltung die Zustände draußen in ihrem Wohnviertel sind.

Khani lässt Reza und seine Eltern viele Beobachtungen über Deutsche machen, die sehr vielsagend und aufschlussreich, ja teilweise erschütternd sind, für die uns selbst aber die Feinfühligkeit fehlt. Es gibt eine Szene, in der Reza und seine Eltern Kornelkirschen pflücken, die sie aus dem Iran kennen, die in Deutschland nicht so verbreitet sind. Eine Menge Leute beobachten das und schauen seltsam, sagen aber nichts, bis eine Frau anmerkt, dass die Kirschen giftig seien. Später sagt Rezas Vater: „Warum haben die anderen (…) nichts gesagt? Sie glauben, dass die Kirschen giftig sind, sehen, dass wir sie (…) essen und sagen nichts.“ ( S. 59) Ja, warum? Ist das symptomatisch für Deutsche? Falls ja, dann lässt es tief blicken. Ich kenne Kornelkirschen nicht, aber an dieser Stelle schäme ich mich stellvertretend für alle, die geschwiegen haben. Die besondere Weisheit des Vaters, seine Sicht auf Dinge und die Art, wie Khani ihn diese in Worte fassen lässt, beeindruckt mich sehr.

Das einleitende Kapitel beginnt mit dem Satz „Du warst fünf.“ Ich denke, dass es an seinen Sohn gerichtet sein soll, denn Khanis Biografie lässt vermuten, dass er Reza seine eigenen, persönlichen Erfahrungen andichtet. Auf knappen 200 Seiten erschafft er einen Lebenslauf von der Kindheit bis ins Erwachsenalter. Da fehlt kein Satz, er bleibt keinerlei Erklärung schuldig. Kein Wort ist zu viel.

Behzad Karim Khani hat kein schönes, aber ein sehr gutes Buch geschrieben, an dem man sich abarbeiten kann, abarbeiten muss. Ein Buch, das sehr viel Stoff zum Nachdenken, Hinterfragen und zur Selbstreflexion liefert, und das ist nicht immer angenehm. Wer sich gerne mit zwischenmenschlichen Beziehungen, Migration und Fremdsein beschäftigt wird diesen Roman sehr gerne lesen.