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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Missmarie
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 28.11.2023
The Institution
Fields, Helen

The Institution


sehr gut

"Außer den Jacken und Betäubungsgewähren gab es hier gepolsterte Handschellen, Fußschellen, ein paar Kapuzen, Bissschutzvorrichtungen, zwei Teaser und zwei Schlagstöcke. Und sie hatte noch nicht einmal einen Blick in die Medikamentenkammer geworfen. Da waren manche Polizeistationen weit weniger beeindruckend ausgerüstet. [...] Man wollte hier kein Risiko eingehen."

Connie arbeitet verdeckt in einem Hochsicherheitsgefängnis auf der Station für psychisch kranke Straftäter, wenn man so will in der forensischen Psychatrie. Denn dort wurde eine hochschwangere Pflegerin grausam ermordet, um an ihr Baby zu gelangen. Das Baby soll noch am Leben sein, die Entführer erpressen Lösegeld von der Familie. So ist zumindest Profilerin Connie schnell klar: Der Mörder muss Hilfe von außen gehabt haben, möglicherweise arbeiten Personal und Insassen in diesem Fall sogar zusammen. Deswegen lässt sie sich unter einem Vorwand auf der Station einschleusen, niemand soll von ihrer wahren Identität oder dem Mord erfahren. Auf Station H, wie der Hochsicherheitstrakt heißt, begegnet Connie nicht nur unangenehmen Soziopathen, sondern auch das Personal scheint alles andere als begeistert über ihr Auftauchen zu sein. Als sich dann auch noch ein Sturm ankündigt, der droht, die Station von der Außenwelt abzuschneiden, wird Connie von den Schatten ihrer Vergangenheit eingeholt. Denn es ist nicht das erste Mal, dass sei eine psychatrische Anstalt von innen sieht.

Ich muss zugeben, dass ich bei Cover und Klappentext des Buches zunächst ziemlich skeptisch war. Auf mich wirkte die Aufmachung des Buches sehr reißerisch und ich habe eine traurigen und sehr blutigen Schocker erwartet. Doch schon mit der Leseprobe und dann bei der späteren Lektüre wurde ich in weiten Teilen vom Gegenteil überzeugt. Vorweg: Ja, der Thriller ist stellenweise sehr blutig und die Autorin Helen Fields verschont ihre Leser nicht mit Details über Schnitte oder Körperflüssigkeiten. Darauf muss man sich gefasst machen und zur Not die allzu genauen Schilderungen überspringen. Dennoch ist die Handlung und vor allem die Hauptfigur weniger platt, als ich zuvor befürchtet habe. In den meisten Thrillern, die in dieser Umgebung spielen, wird die Handlung zwangsläufig latent frauenfeindlich und man hat das Gefühl, die Opfer dienen mehr dem Handlungsverlauf als dass es tatsächlich darum geht, sie als lebendige Subjekte zu sehen. Die Hauptfigur ist jedoch so einfühlsam, auch im Umgang mit den Toten, dass die Objektifizierung auf angenehme Weise durchbrochen wird. Auch der Charakter ist so angelegt, dass Connie viel über die Station und die Insassen nachdenkt, sodass das Schema von Gut und Böse, Schwarz oder Weiß, ein ums andere Mal durchbrochen werden kann.

Abgesehen davon ist die Handlung sehr spannend - wenn auch mit einige vorhersehbaren Effekten, weswegen der Roman von mir nur vier Sterne erhält. Versierte Thriller-Leser können die ein oder andere falsch gelegte Spur schnell erkennen oder haben schon bald den richtigen Täter in Verdacht, eben weil Fields dann doch auf gängige Thriller-Muster zurückgreift. Dennoch habe ich mich gut unterhalten gefühlt.

Bewertung vom 08.10.2023
Ich träumte von einer Bestie
Blazon, Nina

Ich träumte von einer Bestie


sehr gut

Rezension Ich träumte von einer Bestie

„ ,Na ja, solche Leute, die früher wegen ihres Aussehens auch im Zirkus aufgetreten sind, wurden halt [als Freaks] bezeichnet. […] Die Frau mit dem Bart, der Elefantenmensch, siamesische Zwillinge…´ ,Genau: früher! Kein Grund, sie heute so zu nennen!`“

Fleur, die Protagonistin in Nina Blazons Roman „Ich träumte von einer Bestie“, ist Datenforensikerin und setzt sich mit Herzblut für diejenigen ein, die heute als freaks im Internet gehandelt werden. Ehrenamtlich versucht sie, Pädophilen das Handwerk zu legen und jungen Mädchen beizustehen, deren Nacktbilder ins Internet gelangen. Als ihr leiblicher Vater stirbt, zu dem die junge Frau schon seit der Kindheit keinen Kontakt mehr hat, geht ein unerwartetes Erbe in Luxemburg mit der Todesnachricht einher. Überredet von Bruder Max macht Fleur sich auf den Weg ins Nachbarland und von dort bald weiter nach Frankreich. Denn im Nachlass ihres Vaters findet sich die Ahnenforschungsergebnisse ihrer Großmutter und einen Hinweis auf einen Diebstahl einer Reliquie.

Der Leser begleitet Fleur bei ihren Recherchen im Ausland und taucht bald ein in eine sagenumwobene Welt rund um die Wolfsbestie in der Auvergne. Ein Werwolf oder eine Wolfsbestie soll dort für Angst und Schrecken gesorgt haben. Die Gräfin, die zur Jagd auf die Bestie bließ, ist möglicherweise eine ferne Verwandet von Fleur. Während der Recherchen lernt der Leser Fleur immer besser kennen. Die Figur wirkt anfangs sperrig, unfreundlich und unsympathisch, in ihrer kühlen Überlegtheit aber auch faszinierend. Je mehr man über ihre Geschichte erfährt, desto mehr Verständnis bringt man für die Protagonistin auf. Die ein oder andere geschickt gestreute Information führt zu einer überraschenden Wendung am Ende des Romans.

Obwohl „Ich träumte von einer Bestie“ eine ganz andere Geschichte erzählt, als jene, die ich beim Lesen des Klappentextes vermutet habe, habe ich mich gut unterhalten gefühlt. Ob einige Nebenhandlungen wie die Trennung von Fleurs Bruder von seiner Jugendliebe oder die Ermittlungen ihres Stiefvaters hier tatsächlich relevant sind, sei einmal dahingestellt. Insgesamt hat Nina Blazon mit diesem Roman den historisch belegten Stoff rund um die Bestie in der Auvergne gelungen literarische aufgearbeitet und dabei gezeigt, dass sie nicht nur Kinder- und Jugendliteratur überzeugend schreiben kann. Besonders überzeugt hat mich das unterschwellige Plädoyer, dass Andersartigkeit und Abnormalität keinen Unterhaltungseffekt hat und man sich daher zweimal fragen sollte, Bilder vermeintlicher freaks im Netz zu teilen.

Bewertung vom 20.08.2023
Alles ist schwer, bevor es leicht ist
St. Ange, Caroline von

Alles ist schwer, bevor es leicht ist


sehr gut

"Es ist längst überfällig, dass wir Schule neu denken und an die Realität des modernen Lebens anpassen."

Denn im System Schule, so Lerncoach Caroline von St. Ange, geht es nicht unbedingt darum, das Lernen und den Fortschritt der Kinder zu fördern. Vielmehr befinden wir uns in einem verkrusteten System, das viele Dinge einfach aus dem Grund tut, weil das schon immer so gemacht wurde. Das Ergebnis: Lernfrust, Stress mit den Hausaufgaben und Versagensängst. Gegen vieles davon kennt die Bildungsinfluencerin ein passendes Mittel. Während der Corona-Pandemie ist ihr Account von zahlreichen Eltern entdeckt worden, die ihr lange Dankesnachrichten schrieben, weil mit Carolines Tipps das Homeschooling viel besser lief. Einige davon sind auszugsweise im Ratgeber ,,Alles ist schwer, bevor es leicht ist", abgedruckt.

Wenn man das Buch aufschlägt, bekommt man einen Eindruck davon, vor welchen Herausforderungen Familien im guten Umhang mit der Schule stehen. Einen großen Teil nehmen die Hausaufgabentipps ein: Rituale, gute Strukturen und regelmäßige Pausen sollen das leidige Thema für alle beteiligten erträglicher machen. Es geht aber auch um das Erstellen und den Einsatz von Lernplänen. Man erfährt, warum das SMARTE Zielsetzen wichtig ist und dass es zwei verschiedene Aufscheibertypen gibt, denen man ganz unterschiedlich begegnen muss. Das Herzstück des Buches bildet das sogenannte Growth Mindset, bei dem auf das Wachstum und die Entwicklung geschaut wird statt auf vermeintlich statische Schwächen. Im Hinterkopf behalten sollte man, dass sich viele Tipps (z.B. sprechende Schleichtiere, die auf Fehler hinweisen) eher an jüngere SchülerInnen richten. Für Jugendliche müsste der ein oder andere Tipp modifiziert werden.

Wer nun schon länger Caroline von St. Anges Instagramprofil folgt oder sich ganz allgemein mit Lernpsychologie beschäftigt, wird bereits in meiner kurzen Zusammenfassung das ein oder andere bekannte Thema finden. Tatsächlich findet sich in dem Buch nichts bahnbrechendes Neues. Warum es sich trotzdem lohnt, den Ratgeber zur Hand zu nehmen? Zum einen hat man hier endlich einmal alle Tipps und Begründungen an einem Ort. Man muss nicht zig Lerntheorien lesen oder sich durch alte Posts im Social Media Feed klicken. So sagt die Autorin im Interview, dass sie das Buch für Eltern geschrieben habe, die weder Zeit für ein Pädagogikstudium noch für langes Suchen haben. Zum anderen ist ,,Alles ist schwer, bevor es leicht ist" sehr praxisorientiert geschrieben. Es gibt unzählige Beispiele aus dem Coaching-Alltag, die die Tipps veranschaulichen und Anstöße für eigene Ideen zum Weiterarbeiten geben. Das ist sehr bereichernd!

Als Lehrerin bin ich auch sehr dankbar dafür, dass die Autorin nicht einfach die ,,Schuld" an der Misere an die Schule abgibt, sondern nach konstruktiven Lösungen sucht. Dabei hat sie stets im Blick, dass das Bildungssystem viele LehrerInnen daran hindert, so zu arbeiten, wie man es eigentlich möchte: Mit dem Blick für jedes einzelne Kind. (Dass die Autorin hier von einer Klassenstärke von 26 SchülerInnen ausgeht, bei uns aber eher 32 bis 34 SchülerInnen die Regel sind, sei einmal dahingestellt). So kann ich das Buch nicht nur Eltern empfehlen, die ihre Kinder beim Lernen besser begleiten wollen, sondern auch Kolleginnen und Kollegen. Den Carolines Tipps sind - zumindest teilweise - ohne großen Auffand für den Unterricht abwandelbar.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2023
Bis wir Wald werden
Mattausch, Birgit

Bis wir Wald werden


gut

"Die Fensteraugen zu öffnen und hinunterzurufen wie früher schon: Kommt! Es gibt Waffeln / Pide / Eis / Germanys Next Top Model / Pelmeni / Hausaufgaben / Schlaf / ein Zuhause."

Dieses Zuhause ist ein Hochhaus mit 16 Etagen, in denen Menschen unterschiedlichster Nationalität ihr Zuhause gefunden haben. Unter ihnen sind Nanush und ihre Urgroßmutter Babulya - russische Spätaussiedler, die sich mit den anderen Spätaussiedlern im Haus gut verstehen. So gehen Vitali und Oma Erna ebenfalls ein und aus in der kleinen Wohnung mit der noch kleineren Küche, die als Lebensmittelpunkt des ganzen Wohnhauses dient. Die meiste Zeit führt die Protagonistin die Leser*innen durch ihren Alltag an der Supermarktkasse, auf der Straße vor dem Haus und beim Zudecken der Urgroßmutter. Doch auch die Geschichte der Spätaussiedler kommt oft durch. So geht es um Vertriebene, Verschleppte, Nicht-Zurückgekommene. Es gibt Figuren, die Putin mögen. Eine sozialistische Mutter, die die vielen Umzüge nicht mitmachen wollte, und nun verschwunden ist. Es gibt eine Zeit in Kasachstan und es gibt die zarten Wurzeln, die die Menschen schließlich in der Betonsiedlung in Deutschland bilden konnten.

Birgit Mattausch Roman "Bis wir Wald werden" - der Titel ist eine Metapher für das Sterben - macht es seinen LeserInnen nicht leicht. Der Text ist sehr poetisch, voller magischem Realismus und zeigt viele Figuren, die die Grenzen zwischen Märchen und Realität verschmelzen lassen. Es gibt Schamaninnen, es gibt Zauber, es gibt Träume von tiergewordenen Verwandten im Wald. Der Zugang zum Text ist also alles andere als einfach, auch wenn das Thema und das Setting auf den ersten Blick wenig literarisch erschienen mögen. Diese sprachlichen Spiele, die Poetik und die Metaphern machen den Text vielschichtig, verstecken unzählige Deutungsmöglichkeiten. Allerdings lassen sie LeserInnen auch mit dem Gefühl zurück, doch nicht alles verstanden zu haben. Aber vielleicht muss man das auch gar nicht.

Bewertung vom 17.08.2023
Zweistromland
zu Stolberg, Beliban

Zweistromland


ausgezeichnet

"Meine Eltern haben in einer Stadt gelebt, deren Namen sie sich nie sicher sein konnten, Ich frage mich, wie dieses Leben ausgesehen haben musste, und wie es sein musste, wenn auf nichts Verlass war, nicht einmal auf den Namen."

Dilan ist erfolgreiche Juristin, arbeitet in einer Kanzlei in Istanbul, die auf deutsch-türkisches Wirtschaftsrecht spezialisiert ist. Ihre Kindheit und die Studienzeit hat sie in Deutschland verbracht, sodass sie die perfekte Besetzung für ihren Job ist. Außerdem erwartet sich ein Kind von ihrem schwedischen Ehemann Johan. Doch Tod und Leben liegen manchmal nah beieinander: Als Dilans Mutter stirbt, reist die junge Frau nach Deutschland und begegnet dort nicht nur einer unbekannten Frau, die mehr über sie zu wissen scheint. Die vielen Fragen, die sich nach Jahren wieder in ihr Bewusstsein drängen, kann sie nun ebenfalls nicht mehr verdrängen. Und so macht sie sich eines Tages kurzerhand aus der Kanzlei auf in Richtung Osttürkei, nach Diyarbakır/Amed. Für das Kind und für ihre Mutter.

Beliban zu Stolberg erzählt in "Zweistromland" viel mehr als die Zuwanderergeschichte, als die der Roman auch vermarktet wird. Denn eigentlich geht es um die Zerrissenheit zwischen drei Ländern: Deutschland, Kurdistan und der Türkei. Denn Protagonistin Dilans Eltern stammen aus Kurdistan. Doch das Erlebte in der Türkei ist so schmerzhaft, dass man in der Familie nicht darüber spricht. Der Elefant im Raum ist aber auch für die jugendliche Dilan erkennbar - der Romanteil, der in dieser Vergangenheit spielt, ist meiner Meinung nach am besten gelungen. Dilan erkennt, dass es da etwas gibt, über das mit ihr nicht geredet wird. Doch sie verfügt weder über die richtigen Fragen noch über die familiäre Stellung, um das Thema anzusprechen. Erst viele Jahre später - die Handlung spielt übrigens nicht zufällig im Jahr 2016 - als Erwachsene kann sie selbst Nachforschungen anstellen.

Beliban zu Stolberg gelingt es so gleichsam einfühlsam und eindringlich eine sehr persönliche Geschichte des Kurdenkonflikts zu erzählen. Vieles bleibt zwar auch am Ende des Romans im Vagen, die meisten Schlüsse sind dem Leser, der Leserin überlassen. Das tut dem Roman gut. Denn gerade das, was ungesagt zwischen den Zeilen steht, ist es, was manchmal wirkmächtiger ist, als die Beschreibung des Grauens.

Bewertung vom 17.03.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


schlecht

„Wissen Sie, ich mag die Probleme meiner Protagonistin nicht. Zu viel Schmerz, zu schwach. Das ist das Problem.“



Schmerzen und Überlastung, die man nicht zulassen kann, nicht zulassen darf. Weil die Großeltern einem Härte beigebracht haben. Weil einer ja das Geld verdienen und den Laden zusammenhalten muss. Weil man als Mutter, als Ehefrau, als Versorgerin einfach weitermachen muss. Das sind die Probleme der Protagonistin dieses Buches. Ihre Gedanken aus dem oben stehenden Zitat sind Erklärungen für ihre Lektorin. Denn ihr neuer Roman ist wie so vieles noch nicht fertig geworden. Nicht man die geforderten 20 Seiten sind im Ansatz formuliert. Der namenlosen Frau wird alles zu viel. Als sie morgens den Ton von Sirenen in der Ferne nicht mehr los geht, beschließt sie, in die Psychiatrie zu gehen, sich selbst einzuweisen. Der Leser begleitet sie während der Zeit im Warteraum und folgt ihren Erinnerungen an die jüngere Vergangenheit und an die Kindheit.



Mit einer guten Portion Küchenpsychologie erkennt man schon bald Muster. Vielleicht leidet die Protagonistin an der Leihoma, die ihr Härte und Männlichkeit als obere Ziele gepredigt hat. Vielleicht ist es die eigene Schuld innerhalb der Familiengeschichte. Die Frage, warum man auf der falschen Seite stand. Vielleicht spiegeln sich in der Frau die desolaten Beziehungsmuster ihrer Eltern wieder. Man ist versucht, in die Rolle des Psychiaters zu schlüpfen, auf den die Frau wartet und die Erinnerungen wie ein Therapiegespräch zu deuten.



Man kann das tun - muss es aber nicht zwingend. Und das ist das große Manko: Wo die Autorin mit ihrem Roman hin möchte, wird nicht klar. „… denn mich beschäftigt seine Kritik an meiner Schwachstelle, das Plot-Problem. Die starke Erzählung, die fehlte, die im Nebel lag“, beschreibt die bücherschreibende Protagonistin an einer Stelle im Roman und liefert damit die Blaupause für den Roman. Die Themen sind wichtig und lassen sich aktuell in vielen Romanen finden: Häusliche Gewalt, kollektive Traumata, erschöpfte Frauen. Aber was nun genau die Handlung ist, wie die Stränge zusammenhängen - das erfährt der Leser nicht. So fühlt sich der Roman wie eine lange Kurzgeschichte an, an dessen Ende man mehr als ratlos zurückbleibt. Mir hat sich zumindest nicht erschlossen, was der Text sagen will.

Bewertung vom 12.03.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


gut

Aayana ist der Inbegriff von Unauffälligkeit. Als somalischer Flüchtling mit nur wenig Deutschkenntnissen macht sie wenig Aufheben um sich selbst. Gut erzogen und angepasst versucht sie vor allem eines: Nicht aufzufallen. Kein Wunder also, dass Familie Strobel-Marinek, die das Mädchen mit in den Toskana-Urlaub genommen hat, schnell feststellt: Die Macht keine Arbeit, die spürst du gar nicht. Nur leider wird Aayana ihre wenig störende Natur zum Verhängnis. Bei einem Unfall verunglückt die 14-Jährige tödlich und damit beginnt die eigentliche Geschichte des Romans erst. Wie geht Sophie Luise mit dem Tod ihrer Schulfreundin um - schließlich wollte sie dem Mädchen schwimmen beibringen? Was ist mit Elisa Strobel-Marinek, die gerade eine politische Karriere bei den Grünen anstrebt? Oder dem befreundeten Winzerehepaar, dass ebenfalls mit von der Urlaubspartie gewesen ist?

Glattauer möchte in seinem aktuellen Roman vom Schicksal der Geflüchteten in Österreich erzählen. Möglichst persönlich, möglichst am Beispiel einer Familie. Merkwürdig ist daher, dass er der somalischen Familie selbst kaum Raum gibt. Aus ihrer Perspektive wird erst ganz am Ende erzählt, wenn es um die Fluchtgeschichte geht. Auf den gut 250 Seiten davor spürt man auch von den somalischen Angehörigen nichts. Das mag Kalkül sein, kritisiert der Text doch unterschwellig den Umgang der Gesellschaft mit Geflüchteten. Da gibt es Onlinekommentare und Zeitungsartikel, in denen dem Leser die unappettliche Seite der freien Meinungsäußerung vor Augen geführt wird. Man spricht über die anderen, nicht mit ihnen. Einen ähnlichen Vorwurf lässt Glattauer auch eine seiner Figuren im Verlauf der Geschichte aussprechen. Bei allem künstlerischen Gestaltungswillen ist aber auch der Autor nicht davor gefeit, in diese Falle zu tappen. Auch er erzählt vor allem von den Befindlichkeiten der wohlhabenden Familie. Es geht um politische Karrieren, Affären, zerbrochenen Freundschaften und Drogentrips. In seinem Roman sollen, laut Werbung des Verlags, Menschen zu Wort kommen, die keine Stimme haben. Das trifft aber allenfalls auf das Ende zu.

Natürlich greift Glattauer auf alte Erfolgsrezepte zurück. Der Romantext wird immer wieder durch Sachtexte fiktiver Natur durchbrochen. Sogar eine Online-Chat-Liebe entwickelt sich, die doch sehr an Leo Leikes Geschichte aus „Gut gegen Nordwind“ erinnert. Das sind nette Zugaben am Rande. Sie durchbrechen aber auch den Erzählfluss und tragen dazu bei, dass der Roman insgesamt „zu viel“ ist. Zu viele Themen, zu viele Textsorten, zu viele Nebengeschichten, die nicht vollständig ausgearbeitet sind. Neben dem Flüchtlingsthema und der Liebesgeschichte wird nämlich auch noch das Drama der Obdachlosen und der Kranken ausgebreitet. Die Figuren selbst bleiben dabei leider viel zu klischeehaft. Reiche Politikergatting, affektierter Anwalt oder Von-Beruf-Ehegatting scheinen wie Abziehbilder ohne Substanz. Die jüngeren Kinder der beiden Ehepaare werden übrigens bereits nach dem ersten Kapitel in die Wüste (bzw. zu Verwandten) geschickt und tauchen dann nicht mehr auf.

Insgesamt spricht der Roman wichtige Themen an. Es scheint aber, als stehe die Konzeptidee im Vordergrund und nicht die literarische Ausarbeitung der Geschichte. An alte Werke des Autors reicht dieser Roman leider nicht heran.

Bewertung vom 23.02.2023
Seht mich an
Brookner, Anita

Seht mich an


ausgezeichnet

"Ich finde solche Menschen [...] durchaus faszinierend. [...] Es ist mir klar, dass sie vielleicht gar keinen Verdienst haben, und doch werde ich mich bemühen, ihnen zu gefallen und ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Seht mich doch an!"

Solche Menschen - damit bezieht sich die Protagonistin Fanny auf ihre neu gewonnenen Freunde Alix und Nick. Das Boheme-Paar ist so ganz anders als die junge sittsame Bibliothekarin. Alix und Nick inszenieren ihre Ehe, sammeln einen illustren Kreis Freunde um sich und speisen fast jeden Abend im Restaurant. Fanny hingegen fühlt sich von der Welt ausgeschlossen, in ihrem zurückgezogenen Leben, das sie zwischen der Wohnung ihrer toten Mutter, der Arbeit und den Pflichtbesuchen bei Bekannten im Seniorenalter führt. Ihr bliebt die Rolle der schreibenden Beobachterin, die sich durch geistreiche und pointierte Erzählungen um die Gunst ihrer Leserschaft bemüht. Dass Nick und Alix sie unter ihre Fittiche nehmen, kommt für Fanny mehr als überraschend. Doch sie genießt den Klatsch, die Lästereine, den Genuss und den neu erlernten Egoismus - bis sie eines Tages erkennen muss, das die Aufmerksamkeit solcher Menschen ihren Preis hat.

Anita Brookner hat ihren Roman "Seht mich an" vor knapp vierzig Jahren geschrieben. Dennoch sind Thema und Handlung höchst aktuell und fügen sich nahtlos in moderne Romane über toxische Beziehungen ein. Fannys Leben ist - wie Daniel Schreiber in seiner feinen Analyse im Nachwort schreibt - allenfalls erträglich zu nennen. Ihre Einsamkeit springt die Lesenden förmlich an. Man hat Mitleid mit der Frau, die so sehr auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt ist, dass sie verlernt hat, sich selbst anzunehmen. Gerne möchte man ihr zurufen, dass sie stärker auf sich selbst vertrauen soll und das die Welt des schönen Scheins weniger begehrlich ist, als es den Anschein haben mag. Man möchte Fanny ans Herz legen, dass sie sehr wohl da ist - und dazu nicht unbedingt die Aufmerksamkeit der Schönen und (ehemals) Reichen benötigt. Gleichzeitig kann man ihren Wunsch nach Anerkennung so gut nachvollziehen.

Anita Brookner gelingt es vielleicht auf deshalb, eine so authentische Figur zu schaffen, für die der Leser große Zuneigung empfindet, weil sie möglicherweise ein kleines Stück ihrer eigenen Erfahrungen in der Figur spiegeln kann. Denn viele Parallelen zu ihrem Leben lassen sich erkennen, ist Fanny doch ebenfalls Schriftstellerin und hat auch Brookner ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt.

Aber nicht nur der Inhalt mit seiner fein ausgearbeiteten Protagonistin macht diese Wiederentdeckung zu einem Lesegenuss. Brookner versteht es meisterhaft, Motive in die Handlung einzuweben, immer wieder auftauchen zu lassen und so einen Deutungsrahmen zu schaffen. Wie zufällig scheinen Fannys Gedanken über die weibliche und männliche Darstellung von Melancholie zu Beginn des Buches zu sein. Doch sind Sätze wie "Ist aber ein Mann von Melancholie befallen, dann, weil er an der romantischen Liebe leidet" nicht auch eine versteckte Deutungsschablone für den Roman? Und was ist mit Fannys häufig wiederholten Forderung: Seht mich an! oder ihr Sinnieren darüber, dass man einmal Gehörtes nicht mehr vergessen kann? Diese Brotkrumen machen das Lesen von "Seht mich an" zu einem ganz besonderen Vergnügen.

Mit dem Roman ist der "Herrin der Düsternis", wie Brookner schon oft von Kritikern bezeichnet wurde, ein Meisterwerk der Melancholie gelungen. Von der vielleicht anfangs etwas sperrigen Sprache darf man sich nicht abbringen lassen, denn dieser Roman ist die Lektüre definitiv Wert.

Bewertung vom 03.02.2023
Die Inkommensurablen
Edelbauer, Raphaela

Die Inkommensurablen


sehr gut

"Wenn ich dir erzählen würde, dass ich ein schlechtes Verhältnis zu meinen Eltern habe, dann wäre das gelogen - ich habe gar kein Gemeinsames mit ihnen, wir sind inkommensurabel."

So erklärt Klara, eine Mathematikstudentin, Hans ihre Familienbeziehungen. Nicht vergleichbar mit der Norm des frühen 20. Jahrhunderts, eben inkommensurabel, ist die junge Frau. Sie studiert, gehört zu den Suffragetten, ist homosexuell und hält mit ihren Einstellungen nicht hinterm Berg. Und sie ist das vollkommene Gegenteil von dem, was Hans von seinem heimischen Tiroler Bauernhof kennt. Von dort hat er sich auf den Weg nach Wien gemacht. Auf der Suche nach einer Psychoanalytikerin trifft er zuerst auf Klara und dann auf ihren Freund Adam. Der ist der Sprössling einer Offiziersfamilie und soll bald schon selbst ein Herr im Krieg anführen. Denn Hans kommt nicht an irgendeinem Tag nach Wien. Es ist der Vorabend des Ersten Weltkriegs, das deutsche Ultimatum an Russland wurde gerade verhängt und am nächsten Tag wird sich entscheiden, ob es zum Krieg kommen wird. Diese eine letzte Nacht der Normalität verbringt Hans zusammen mit Adam und Klara. Zwischen Badehäusern, Untergrundkneipen, Adams Familienessen und Mathematikvorlesungen erkennen aber auch die drei, dass sich die Welt längst schon auf den Weg in eine neue Moderne gemacht hat.

Raphaela Edelbauer hat auf den gut 300 Seiten sehr, sehr viele Themen untergebracht. Allein sie alle aufzuzählen, ist eine Herausforderung. Es geht um Traumdeutung und Freud, um die Suffragettenbewegung und die Sozialdemokratie, um Metaphysik und Mathematik, um Massensuggestion und Kriegseuphorie, um Herkunft und Freundschaft und dazwischen finden sich Happen der Wiener Geschichte, die bis ins 16. Jahrhundert zurückgreifen und den Leser nicht unbedingt erhellt zurücklassen. Kurz um: Es ist einfach zu viel! Der Roman behandelt etwa 1,5 Tage, in denen der Leser nicht nur atemlos mit den Figuren von Handlungsort zu Handlungsort springt, sondern in denen auch gefühlt tausend Themen angerissen werden, ohne wirklich zu Ende geführt zu werden. Die Kernaussage des Romans ist für mich der Versuch, die Wirkweise Massensuggestion (die im 2. Weltkrieg eine noch größere Rolle spielen soll) auf der Ebene der Psychoanalyse zu erklären und sie auf die Kriegseuphorie zu übertragen. Das ergibt sich meiner Meinung nach auch recht schlüssig. Dann allerdings wird so viel anderes hineingemischt, dass die Textteile fast schon unzusammenhängend sind. Warum werden alte Attentate auf österreichische Thronfolger mehrmals aufgegriffen? Soll ich mich als Leserin fragen, ob auch das mit der Suggestion zu tun haben könnte? Warum wird die Mathematikvorlesung über Inkommensurablen vollständig wiedergegeben? Um Wissenschaft und Metaphysik zu verbinden?

Diese Themenfülle macht es zwar auf der einen Seite spannend, weil man viele Verbindungen selbst herstellen muss. Auf der anderen Seite wird so aber viel Platz verschenkt, den auch die Figuren hätten einnehmen können. Die sind nämlich wirklich interessant gezeichnet (wenn in ihrer Grundstruktur auch etwas prototypisch angelegt). Über Klara und Adam hätte ich gerne mehr erfahren, alle drei noch länger begleitet, um herauszufinden, wie es ihnen im Verlauf des Krieges geht. Lediglich bei Adam gibt es dazu Andeutungen. Aber was zum Beispiel mit Klara passiert, das bleibt offen.

Obwohl mich die extreme Themenfülle und vor allem die historischen Exkurse wirklich gestört haben, möchte ich das Buch nicht schlecht bewerten. Denn die vielen Anspielungen, Verknüpfungen und Übertragungen werden dann so richtig spannend, wenn man selbst Verbindungen herstellt. Dann versteht man auch, warum Edelbauer von so vielen als großes österreichisches Erzähltalent angesehen wird. Dennoch ist "Die Inkommensurablen" selbst keine seichte Lektüre. Das liegt auch an der leicht angestaubten - aber im historischen Kontext durchaus passenden - Sprache. Wer es etwas experimenteller mag, dem sei dieser Roman ans Herz gelegt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.12.2022
Selbstmordhunde
Scherzer, Florian

Selbstmordhunde


gut

Wie sieht wohl das Leben eines Synchronsprechers jenseits seiner Rolle aus? Vor allem dann, wenn er seine Stimme viele Male ein und derselben Figur in einer Hörspielreihe geliehen hat? Legt man den Mantel der Rolle am Ende des Tages ab oder nimmt man die Figur als eine Art Alter-Ego mit nachhause?

Florian Scherzen scheinen diese Fragen für seinen Roman "Selbstmordhunde" angetrieben zu haben. Und ganz deutlich hat er sich auch von den Hörspielhelden der Drei ???, TKKKG und Die Fünf Freunde beeinflussen lassen. Heinrich verleiht einem der drei Jungs von "Die drei Schnüffler" seine Stimme. Neben der eigentlichen Romanhandlung, in der es zunächst um Heinrichs Hadern mit dem Leben und dann um eine unverhoffte Begegnung geht, werden immer wieder geschickt Teile des aktuellen Hörspielmanuskriptes eingebunden. Die Dialoge, die Erzählerteile, das Setting - alles ist so gut dem Original nachgeahmt, man könnte es glatt in eine der genannten Serien hineinschneiden. Auffallen würden höchstens die merkwürdigen Namen. Und so kommt schon bald das heimlich-nostalgische Gefühl auf, das an die Zeiten auf dem Kinderzimmerboden vor dem Kassettenrekorder erinnert (übrigens gibt es den Roman tatsächlich auch auf Kassette und als Download!).

Auch wenn die ersten 50 Seiten stellenweise etwas zäh sind, nimmt die Handlung bald Fahrt auf - spätestens wenn die neue Kollegin des Trios plötzlich verschwindet - und Heinrich samt Kollegen auch in seiner Realität mit den Ermittlungen beginnt. Die Parallelen sind hier ebenfalls gekonnt gezeichnet. Besonders unterhaltsam: Die Figuren und ihre Sprecher unterscheiden sich wie Feuer und Wasser. Hin und wieder fragt man sich, wie es denn sein kann, dass die drei ihre fiktiven Charaktere so überzeugend spielen können.

Etwa ab der Hälfte lässt die Roman aber deutlich nach. Denn hier wird deutlich, dass Scherzer zu viele Ideen in einen Roman verpacken wollte. Das Skript des Hörspiels endet deutlich früher als der Roman selbst, um die Tonaufnahmen geht es dann nur noch am Rande. Stattdessen kommen Science Fiction Elemente und die deutsch-deutsche Geschichte ins Spiel. Es wird mit verschiedenen Wahrnehmungsebenen gearbeitet. Die vielen losen Ende werden dann leider nur noch sehr lieblos zusammengefügt. Das geht nur auf, weil reihenweise neue Figuren auftauchen. Schade - hätte man der Anfangsidee etwas mehr Raum gelassen, wäre das ein richtig unterhaltsames Buch geworden.