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Herr Wieland
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GE-Resse

Bewertungen

Insgesamt 9 Bewertungen
Bewertung vom 08.04.2024
Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume
Vieweg, Olivia

Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume


sehr gut

Elly ist Außenseiterin und fühlt sich alleine. Ein Metal-Mädchen in einer Stadt, in der alle nach dem Takt von Blasmusik marschieren, in der niemand aus der Reihe tanzen soll. Das alleine wäre schon ein Plot für einen Jugendroman. Im Prolog flüchtete allerdings schon ein junges Mädchen aus einem Schacht, der in einen Brunnen im Wald mündete, und kurz vor ihrem Entkommen wurde es von einer Kreatur eingeholt, die ihr ihre Stimme stahl. Toll!

Mich hat das Buch durchaus gepackt. Die Zusammenhänge entfalten sich erst nach und nach. Lange ist nicht klar, wer gut und wer böse ist, warum die Dinge laufen wie sie es tun. Die Figuren sind allesamt interessant, nicht nur die Hauptcharakteren, auch die Nebenfiguren haben ihre eigenen kleinen Storys.

Nur mit dem Schluss haderte ich etwas. Es bleiben Fragen, es wird nicht alles aufgeklärt. Mein Eindruck war, dass das Buch der erste Teil einer Serie werden sollte. Mir fehlte am Ende ein Stückchen der Zufriedenheit, die sich einstellt, wenn sich nach einer letzten Seite alle Fäden zu einem Ganzen verwoben haben.

Bewertung vom 21.02.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


ausgezeichnet

*Die spannende Geschichte von Charakterbildung durch Leben*

Die Mutter erhält eine Krebsdiagnose, der Sohn möchte ins Ausland. Abschied als ein emotionales Thema. Damit habe ich auch zu tun, das beschäftigt mich selbst in meinem Leben. Deshalb sprach mich die Inhaltsbeschreibung an. Deshalb interessierte ich mich für das Buch, trotz des sperrigen Titels und trotz des wenig aussagekräftigen Covers.

Ich habe es nicht bereut, denn dieses kurze Buch (nur 208 Seiten) ist reich an eindrücklichen Szenen und behandelt noch viel mehr große Fragen als nur die nach dem Umgang mit Abschied: Wie wird man, wer man ist, was macht mich zu mir? Wie entsteht, was man gemeinhin »Generationenkonflikt« nennt? Wie eng sind familiäre Bande, gibt es eine Pflicht zur Dankbarkeit?

Über die Kindheit meiner Eltern weiß ich wenig. Über die Kindheit meiner Großeltern eigentlich nichts. Dieser Roman erzählt die Leben und dabei die Charakterbildung der Eltern und Großeltern der Ich-Erzählerin. Es erzählt von Ereignissen, die diese Menschen prägten, was direkte und indirekte Auswirkungen auf die jeweils nächste Generation hatte; so wie alles was wir tun und wie wir zu wem sind Auswirkungen auf unsere Nächsten haben kann.

Ich brauchte anfangs einen Notizzettel, damit ich bei den vielen Personen und Zusammenhängen den Überblick behalten konnte. Die Kapitel sind kurz. Es finden ständige Wechsel zwischen den Erzählsträngen statt. Innerhalb der Stränge springen die Handlungen chronologisch Sprünge um mehrere Jahre. Das braucht Aufmerksamkeit, ist letztlich aber nicht zu kompliziert. Im Gegenteil hält es die Erzählung schnell, spannend.

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und wünschen ihm viele Leserinnen und Leser. Ich denke, ein weniger sperriger Titel und ein besseres Cover hätte dazu noch beitragen können.

Bewertung vom 05.12.2022
Unsterblich sind nur die anderen
Buchholz, Simone

Unsterblich sind nur die anderen


ausgezeichnet

Ein Märchen für Erwachsene: Auf dieses Buch muss man sich einlassen. Von Beginn an weiß man nicht so recht, woran man ist. Nach der letzten Seite ist einiges klar, längst aber nicht alles.

Die Geschichte beginnt ein wenig wie die Unendliche von Michael Ende, in der sich Bastian in ein Buch, in das Buch, verliert. Hier verliert sich jemand in ein Buddelschiff, in das Buddelschiff, dem man später wieder begegnet. Kurz darauf fahren zwei »normale Frauen« drei verschwundenen »normalen Typen« hinterher. Eine dieser Frauen wird letztlich zur Protagonistin, mit der wir das Schiff und seine Merkwürdigkeiten entdecken; die ein Kind hat, um das sie sich sorgt, die sich verliebt, die kämpft und Entscheidungen treffen muss.

An Bord und beim Lesen begegnen einem Zauber und Mystik, Liebe und Eifersucht. Begegnen einem Zeiten- und Perspektivwechsel, viele Zigaretten, Schönheit, Drogen, Gruppensex und die ganz großen Fragen der Philosophie. Das alles wechselt in hohem Tempo, wird mit klarer, direkter Sprache erzählt. Die Geschichte ist leicht zu lesen, aber nicht lapidar. Man bekommt derart viele Interpretationsansätze geschenkt, dass dieses Buch nur einmal zu lesen kaum reichen kann. Dabei bleibt es jederzeit spannend. Man mag die Protagonistin begleiten. Man will wissen, wie es ausgeht.

Ich las, dass Simone Buchholz bislang Krimis geschrieben hat. Ich mag keine Krimis. Ich verließ mich auf den Satz in der Kurzdarstellung, dass »die Krimi-Autorin mit diesem Roman zu neuen Ufern aufgebrochen« sei. Ich bin nach der Lektüre hochzufrieden.

Bewertung vom 30.05.2022
Die Sommerschwestern Bd.1
Peetz, Monika

Die Sommerschwestern Bd.1


weniger gut

Ich mag die Niederlande und ich mag das Meer. Beides ist der Rahmen der Handlung dieses Buches, und beides ist gut in Szene gesetzt. Die Autorin weiß Stimmungen zu beschreiben und skizziert kurze Augenblicke stark, so dass die Gefühle des Moments beim Leser ankommen.

Das sind meine Highlights im Roman »Sommerschwestern«. Wenn die Frauen die Düne hochrennen, wie sie es als Mädchen getan haben. Oder wenn eine von ihnen durch das niederländische Städtchen spaziert und sich ihre Gedanken macht, ob sie hier vielleicht leben wolle.

Alle Schwestern - vier an der Zahl - sind eingeladen, von ihrer Mutter, an den Ort, wo einst ihr Vater verunglückte. Jede trägt ihre Probleme mit sich, keine ist unbeschwert; wie es so ist, unter Erwachsenen. Daraus hätte eine tiefsinniges soziales Geflecht gesponnen werden können. Aber weil es an jeder Stelle irgendwie »spannend« bleiben soll, weil Erklärungen immer wieder aufgeschoben werden, empfand ich diese Geschichte als sehr anstrengend.

Dass Yella, die Protagonistin, 33 Jahre alt, Mutter zweier Kinder, sich von ihrer älteren Schwester und von ihrer Mutter wiederholt antwortlos stehen ließ, konnte ich schlecht ertragen. Einer Protagonistin, der ständig Unglück widerfährt, die sich zu keiner Haltung aufraffen kann, mag ich nicht durch das Buch folgen. Das strengt mich an, da ist mir eher nach Fremdscham als dass es mein Mitfühlen hervorruft.

Mein Eindruck war, dass dieses Buch bereits mit Blick auf eine TV-Verfilmung geschrieben wurde. Sehr unterschiedliche Schwestern, so dass sich fast jede Zuschauerin wiederfinden kann. Eine Handlung, die nicht auf den Punkt kommt, die durch das Auslassen von Antworten die Spannung hochzuhalten versucht. Und am Ende gibt's bestimmt ein Happy End. Aber das weiß ich nicht so genau, bis dahin bin ich nicht gekommen.

Bewertung vom 20.03.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


ausgezeichnet

Ein bisschen wie »Schtonk!«. Aber eben nur ein bisschen. In Maxim Leos neuen Roman »Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße« will erst ein Journalist, dann sein Magazin und plötzlich das ganze Land unbedingt einen Helden. Der Auserkorene war das nie, die Heldentat im Heute war ein damaliges Versehen. Die sich daraus entwickelnde Lügengeschichte ist ungemein unterhaltsam.

Es ist ein Roman über Ost und West, über Medien, über Politik, über Ehrlichkeit und über die »Wahrheit« im Blick auf die Historie. Große Themen, die beiläufig daherkommen, während klar gezeichnete Figuren miteinander in Beziehung treten und die Story des Buchs entwickeln. Keine Figur bleibt blass, alle bekommen ihren kurzen Scheinwerfer-Auftritt, alle werden in ihrem Handeln nachvollziehbar. Das führt dazu, dass die Erzählung nie oberflächlich daherkommt, obwohl sich die Handlung so schön leicht anfühlt. Dabei sorgen kurze Kapitel für Tempo. Die Geschichte fließt von Szene zu Szene, ohne jegliche Längen, ohne alles, was es nicht gebraucht hätte. Derart flott, dass sie auch einen unterhaltsamen Film abgeben würde. Ein bisschen wie »Schtonk!«. Aber eben nur ein bisschen.

Bewertung vom 14.12.2021
Die Begegnung. Eine Geschichte über den Weg zum selbstbestimmten Leben
Schweizer, Jochen

Die Begegnung. Eine Geschichte über den Weg zum selbstbestimmten Leben


weniger gut

Kürzlich stolperte ich über eine Meldung des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«. Die Sportartikel-Kette »Decathlon« habe aus vier Filialen an der nordfranzösischen Küste am Ärmelkanal Kajaks aus dem Verkauf genommen. Es habe zahlreiche Versuche von Geflüchteten gegeben, mit diesen Booten nach Großbritannien zu gelangen. Man wolle dort nun keine Boote mehr verkaufen, die das Leben eines Menschen bei einer Überfahrt in Gefahr bringen könnten.

Nun geht es in »Die Begegnung« nicht um Geflüchtete und mir ist vollkommen klar, dass mir Autor Jochen Schweizer eine solche Überfahrt nicht nahelegen mochte, als er seinen Protagonisten in seinem Buch mit einem Kajak übers offene Meer fahren ließ. Aber der Blick auf die besagte Nachricht ließ mir bewusst werden, wie absurd weit weg die Geschichte dieses Buchs von meinem Alltag ist.

Dabei fühlte ich mich zunächst angesprochen, von diesem Buch mit hübschem Cover und dem in Norwegen spielenden Plot. Der weise Alte und der wilde Junge, die sich treffen und sich ihre Leben erzählen. »Eine Geschichte über den Weg zum selbstbestimmten Leben«, wie der Untertitel lautet.
Ich mag Geschichten die mich dazu bringen über mich nachzudenken. Ich mag’s philosophisch und ich muss mich selbstkritisch auch als leichtes Opfer für das Genre der modernen Selbstoptimierungs-Ratgeber bezeichnen. Ich mag Ratgeber und Bücher mit Weisheiten, ich mag es, solcherlei mit meinem Leben abzugleichen, zu schauen, ob Gedanken, Ideen, mich weiterbringen, mir meine Welt erklären.

Aber die Weisheiten in Jochen Schweizers »Die Begegnung« erklärten mir irgendwie gar nichts und die beschriebene Welt war nicht die meine. Dieses Buch kam mir vor wie ein Leitfaden für eine Art modernen Marlboro-Mann. Sich aus seinen Fesseln lösen und dem Abenteuer entgegen reiten, beziehungsweise paddeln. Alles sehr männlich, alles sehr kantig, die Geschichte, auch der Schreibstil. Das alles war mir viel zu grob. Viel zu vorhersehbar, Satz um Satz. Ich mochte das Buch nicht zu Ende lesen. Ich legte es nach der Hälfte weg, einen Tag bevor ich über die Meldung im »Spiegel« stolperte.

Bewertung vom 25.08.2021
Das Archiv der Gefühle
Stamm, Peter

Das Archiv der Gefühle


ausgezeichnet

Es ist ein wunderlicher Mann ohne Namen, die Hauptfigur in »Das Archiv der Gefühle« von Peter Stamm. Einer, der mich in sein Denken mitnimmt, der sich mir durch seine Selbstreflektion vorstellt. Er beschreibt sein Jetzt und erzählt parallel doch seine Lebensgeschichte chronologisch. Meist in Erinnerungen, manchmal allerdings auch nur in Phantasien. Außerdem ist von Beginn an Franziska dabei, in seinem Kopf, mit der er sich unterhält. Es sind die einzigen Dialoge, die er führt. Franziska, die Frau seines Lebens, die ihm einst sagte, dass sie ihn nicht liebe. Schon der Text auf dem Schutzumschlag verrät, dass Franziska wieder auftauchen wird.

Der Mann ist jenseits dessen, was unsere Gesellschaft als normal erachten würde, wenn sie sein Leben denn mitbekäme, was er zu verhindern sucht. Nicht der Gesellschaft wegen, sondern seinetwegen. Schon als Kind war er gerne alleine, mochte die Wiederholung lieber als Veränderung, stellte sich Freundschaften lieber vor statt sie zu leben. Nur Franziska war immer da.
Er ist Archivar und er ist ohne Anstellung, seit seine Stelle im Pressehaus abgebaut wurde. Ohne Arbeit ist er nicht, denn er hat das Archiv mitgenommen. Dass er ein Archiv in seinem Haus eingerichtet hat, ist die Krönung seiner Beschreibung. Jemand, der um der Ordnung willen ordnet, nicht um des Zwecks willen, denn sein Archiv wird von niemandem mehr genutzt, nicht mal von ihm selbst. Eingerichtet in seiner eigenen Welt. Im Haus seiner Eltern, das er übernahm als seine Mutter starb, und in dem er im Kinderzimmer schläft. Wie früher. Ein Mann, der möchte, dass die Zeit nicht vergeht. Der zwar hinnimmt, dass Dinge verfallen, der aber einen Verlust nicht erträgt. Auch deshalb hat er Franziska immer bei sich.

»Das Archiv der Gefühle« ist ein großartiges Buch. Der Protagonist denkt Sätze, trifft Aussagen, mit denen man sich auseinandersetzen mag. Als er sein Archiv beschreibt, seine Lust an der hierarchischen Einordnung, bemerkt er: »Wenn alles wie im Internet gleichwertig ist, hat nichts mehr einen Wert.« An einer anderen Stelle denkt er darüber nach, warum er sich nie bei Freunden meldet, auch nicht wenn diese nach ihm Fragen. Er stellt fest, dass es ihn noch nie interessiert habe, Meinungen auszutauschen, und er kommt zu dem Schluss: »Meinungen haben nichts mit Fakten zu tun, nur mit Gefühlen, und meine Gefühle gehen niemanden etwas an.« Da denkt man gerne mal drüber nach. Das Einzige, worüber man nicht nachzudenken braucht, ist das komplett nichtssagende und sich auf nichts in der Geschichte beziehende Buchcover.

Autor Peter Stamm ist Schweizer und 58 Jahre alt. Er studierte zunächst Anglistik an der Universität Zürich, wechselte sein Studienfach dann aber auf Psychologie mit Psychopathologie und Informatik als Nebenfach. Daneben war er als Praktikant an verschiedenen psychiatrischen Kliniken tätig. Die Wahl des Studiums erklärte er damit, dass er mehr über den Menschen als Gegenstand der Literatur erfahren wollte.

Bewertung vom 14.05.2021
Der Schneeleopard
Tesson, Sylvain

Der Schneeleopard


sehr gut

“Der Schneeleopard” ist die Erzählung einer Reise und gleichzeitig ein philosophisches Werk. Ein Buch, das Zeit fordert, gegebenenfalls Toleranz, und Langsamkeit braucht.

Mit dem Tierfotografen Vincent Murnier, dessen Lebensgefährtin und einem Assistenten begibt sich Schriftsteller Sylvain Tesson auf eine Expedition durch die Hochebenen Tibets. Ein extremes Unternehmen, sich bei Temperaturen von bis zu -40 Grad nachts in zugige Hütten oder Zelte, tagsüber für Stunden auf die Lauer zu legen. Immer auf die nächste Begegnung mit Yaks, Wölfen, Antilopen und letztlich dem Schneeleopard hoffend. Er beschreibt, wie sich ihm das Land darstellt. Im Angesicht der rauen und klaren, der mal noch ursprünglichen und mal von Menschen gezeichneten Natur; im Eindruck der Begegnung mit Tieren und dem Umgang Muniers mit ihnen, entwickelt Tesson dabei immer wieder Gedanken über sein aktuelles Erleben hinaus. Das verleiht dem Buch eine zusätzliche Ebene.

Die Kapitel sind kurz, umfassen jeweils nur drei bis sechs Seiten. Die Tour wird chronologisch beschrieben. Der Aufteilung der Kapitel liegen aber eher Begegnungen und Erkenntnisse zu Grunde, als Tage oder Reiseabschnitte. Immer wieder sieht Tesson in den Tieren oder der Landschaft Ausdrücke der Natur, der Ursprünglichkeit oder gar verschiedener Formen von Spiritualität, Göttlichkeit, deren Kraft und Faszination er mit seinem eigenen Dasein oder unserer westlichen Zivilisation in Verbindung bringt, abgleicht.

Das ist alles nicht leicht. Tesson ist mir nicht sympathisch. Seine Gedanken kritisieren mein Leben in mitteleuropäischer Zivilisation. Von ihm beschriebene Spiritualität, die über die Philosophie der Weltreligionen hinausgeht, ist mir zu beliebig. Seinen Schreibstil empfinde ich als schwierig, er ist mit Sprachbildern überhäuft, ab und an kitschig. Als eine “gelbe Klinge die Nacht empor hob und die Sonne ihre Flecken auf eine mit Gras gesprenkelte Steindecke bröselte” war ich so genervt, dass ich das Weiterlesen infrage stellte. Solche gewollt dichterischen Formulierungen mögen manche als Kunst an sich werten. Ich empfinde sie als das Gegenteil der Klarheit, welche mir der Anblick des Schutzumschlags dieses schmalen, hübschen Buchs mit Lesebändchen beim Kauf suggerierte.

Ich bin dennoch drangeblieben. Weil Tesson neugierig auf Tibet macht. Weil mich aus dem Gebirge seiner Sprachbilder immer wieder welche anpieksen. Weil er Tiere beschreibt, von denen ich zuvor nie hörte. Vor allem, weil er mich zum denken animiert.

Dieses Buch fordert mich. Tesson nimmt mich mit in eine fremde Welt; sowohl was die beschriebene, tatsächliche Welt angeht, als auch bezüglich seiner Gedankenwelt. Ich darf mitfühlen, mitdenken. Ich darf richtig oder falsch finden, schön oder hässlich, schlau oder albern. Das ist letztlich für einen Leser eine Auseinandersetzung mit einem selbst. Wer sowas mag, für den lohnt sich dieses Buch.

Möglicherweise ist Tessons Schneeleopard sogar eins dieser Werke, die man in größeren Abständen immer wieder mal zur Hand nimmt. Ein Buch, das man zufällig aufschlägt, um eins der kurzen Kapitel zu lesen. Womöglich sprechen einen dann andere Sprachbilder an. Womöglich stellen sich einem dann die Gedanken anders dar, weil man sich selbst verändert hat.

Bewertung vom 28.04.2021
Die Beichte einer Nacht
Philips, Marianne

Die Beichte einer Nacht


sehr gut

"In einer Nervenklinik vertraut Heleen des Nachts einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an." So beginnt der Klappentext des Romans "Die Beichte einer Nacht" von Marianne Philips. Diese Beschreibung ist umfassend, der Roman ist ein Monolog. Das klingt nach wenig, ist aber viel, ist ein ganzes Leben. Ein bemerkenswertes Buch, so reduziert, so anders. Ein Buch das man liest, weil einen die besagte Heleen mit jedem Satz ihrer Geschichte mehr zu interessieren beginnt.

Es gibt keinen Erzähler, der aus übergeordneter Perspektive eine Situation beschreibt oder erklärt. Dieses Buch malt einem keine Bilder in den Kopf, entwickelt keine Szenen, in welche die Protagonisten gesetzt werden. Weil Monologe so nicht sind. Wenn unsereins jemandem von einer Begegnung erzählt, beschreiben wir auch nicht die Bilder an den Wänden und den Duft, der in der Luft liegt. Auch die Nachtschwester spricht nicht, in diesem Roman. Sie ist wie weggeschnitten und zunächst mag man zweifeln, ob sie überhaupt tatsächlich existiert. Alles ist Heleen. Jedes Wort ist ihre Aussage. Für mich als Leser ist es, als säße ich in einem dunklen Raum, hörte Heleen reden und sähe nichts.

Doch stickum mag ich in diesem Raum sitzen bleiben und weiter zuhören, weil Heleen viel zu erzählen hat. Und weil sie von Beginn an nicht prahlt. Weil sie keine Memoiren formuliert, sondern weil sie Erinnerungen teilt und dabei Stück für Stück selbst immer mehr Erkenntnis erlangt. Dabei ist sie so offen, wie man sich selbst gegenüber wird, wenn man die Dinge mit Abstand betrachtet und gerade nichts erreichen muss, sie im Gegenteil loswerden, aussprechen will. Beichten will.

Heleen erzählt ihr ganzes Leben. Von den Schwierigkeiten im Elternhaus, als sie noch das Leentje und die Älteste von zehn Geschwistern war. Von ihrer schwierigen Beziehung zu Schwester Lientje, der Jüngsten, für die sie immer wieder Verantwortung übernehmen musste. Sie beschreibt die Momente ihrer Erkenntnis, arm zu sein, und ihrer Erkenntnis, als schön geachtet und begehrt zu werden. Ihr Leben verläuft nicht stringent, wirft sie hin und her. Und schon früh in ihrem Erzählen verknüpft sie ihre schönsten Erinnerungen mit ihrer großen Liebe Hannes und früh wird klar, dass es mit Ihrer Schwester Lientje zu tun hat, dass sie nun in der Nervenklinik ist.

Was letztlich genau passiert ist ein Teil der Spannung dieses Romans. Aber auch die Entwicklung des Lebens der Person Heleen ist spannend und war letztlich der Hauptantrieb, der mich immer weiterlesen ließ. Die Stärke des Buches ist es, am Beispiel Heleens die Abzweige darzustellen, die einen Lebensweg ausmachen, und was der eingeschlagene Weg aus einem macht.

Die Beichte – niederländisch "De biecht" – erschien in den Niederlanden im Jahr 1930 und war der zweite Roman der 1886 in Amsterdam geborenen Marianne Philips. Ihr erstes Werk veröffentlichte sie ein Jahr zuvor, im Alter von 43 Jahren. Philips war Sozialdemokratin und seit 1919 eine der ersten Frauen im Stadtrat der Nord-Holländischen Stadt Bussum. In der Zeit des Nazi-Terrors musste die Jüdin untertauchen, um sich einer Verhaftung und der geplanten Einweisung in das Konzentrationslager Herzogenbusch zu entziehen. Bis 1950 hat Marianne Philips sechs Romane und drei Bände mit Novellen veröffentlicht. Das Hauptthema ihres Werks sei das "Streben nach Reife und der Entwicklung einer individuellen Identität aus einer nicht harmonischen Familie", ist in der niederländischen Wikipedia zu lesen. Dem entspricht das hier besprochene Buch zweifellos.