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Havers
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Top100-Rezensent und Buchflüsterer

Bewertungen

Insgesamt 158 Bewertungen
Bewertung vom 17.02.2025
Der letzte Mord am Ende der Welt
Turton, Stuart

Der letzte Mord am Ende der Welt


ausgezeichnet

107 Stunden, und die Uhr tickt. Knapp fünf Tage, und dann ist die Welt Geschichte. Die Welt, die nur noch aus 122 Menschen auf einer kleinen griechischen Insel mitten im Meer besteht, und eine Geschichte, die niemand mehr hören kann…

Wissenschaftler, die nicht nur das tägliche Leben sondern auch die Gedanken kontrollieren. Ein diffiziles Abwehrsystem, das vor dem schädlichen externen Einfluss schützt, der alles Leben auslöschen wird. Ein Mord, der genau dieses Abwehrsystem außer Kraft setzt und dem tödlichen Nebel Zugang gewähren wird. Und der verzweifelte Versuch, zu retten, was zu retten ist.

Ich bin kein Fan von Sci-Fi, und auch mit Dystopien kann man mich üblicherweise nicht hinter dem Ofen vorlocken. Aber Turtons neuem Roman gelingt es, was einmal mehr dem Genre-Mix geschuldet ist, den der Autor so perfekt beherrscht. Seine Bücher werden zwar durchgängig mit dem Etikett Kriminalroman versehen, lassen sich aber durch die Komplexität, die sie auszeichnet, diesem Genre nicht eindeutig zuordnen.

Eine spannende, über weite Strecken unvorhersehbare Lektüre, die zum Nachdenken anregt. Lesen!

Bewertung vom 15.02.2025
America Fantastica
O'Brien, Tim

America Fantastica


gut

Boyd Halverson, einst Pulitzer-Kandidat, nun nur noch ein Journalist unter vielen, hadert mit dem Leben. Verantwortlich für seine missliche Lage macht er seinen Ex-Schwiegervater Jim und will sich an ihm rächen. Um das Vorhaben zu finanzieren, raubt er eine Bank aus und nimmt die Kassiererin Angie als Geisel. Gemeinsam mit ihr macht er sich zumindest anfangs relativ unbehelligt auf den Weg, um mit Jim abzurechnen. Interessanterweise sind es (aus Gründen) keine Gesetzeshüter, die die Verfolgung aufnehmen, sondern diverse zwielichtige Gestalten, angefangen bei Angies Freund und noch anderen Schlägertrupps. Während der Fahrt entspannt sich das Verhältnis zwischen Geisel und Geiselnehmer zunehmend, und so versorgt Boyd seine Mitfahrerin in einem nicht versiegenden Redestrom mit sämtlichen Informationen darüber, was wie und warum in Amerika aktuell schief läuft. Zu Beginn ist das stellenweise noch ganz interessant, aber im Verlauf nutzt es sich recht schnell ab und wird ermüdend.

Tim O’Brien hat den Kanal voll. Anders kann ich mir seinen Roman „America Fantastica“ nicht erklären, in dem er sich an der Realität (s)eines Landes während der ersten Amtszeit Trumps abarbeitet. Einer Zeit, in der Lügengespinsten die Wahrheit verdrängen, die schon längst keine Gültigkeit mehr hat. Während dieses aberwitzigen Roadtrips schildert er die gesellschaftlichen Veränderungen. Ein Versuch, die amerikanischen Mythen zu demaskieren, der mal mehr, mal weniger gut gelingt. Über weite Strecken kommt das zum einen durch die verwendeten Stereotypen leider viel zu stark überzeichnet daher und vermittelt zum anderen an vielen Stellen den Eindruck, dass hier jemand schreibt, der meint, den absoluten Durchblick zu haben und sich nach Zeiten zurück sehnt, die längst vergangen sind. So wird aus einem Roman mit Noir-Ansätzen eher eine Mischung aus Groteske, persönlichem Bekenntnis und Weltsicht, dessen Botschaft dadurch an Bedeutung verliert.

Kann man lesen, muss man aber nicht.

Bewertung vom 13.02.2025
Das kalte Schweigen der See
Audic, Morgan

Das kalte Schweigen der See


ausgezeichnet

Belugas, Orcas und Eisbären. Schneidende Kälte, Schnee und Dunkelheit. Polarnacht in dieser menschenleeren Weite im Norden Norwegens. Ein tödlicher Eisbärangriff, ein Selbstmord. Verstümmelte Wal-Kadaver und zwei Todesfälle, tausend Kilometer voneinander entfernt.

In Longyearbyen wird neben einem gestrandeten Pottwal, dessen massiger Körper mit Runensymbolen übersät ist, die grässlich zugerichtete Leiche einer Studentin der arktischen Biologie gefunden. Ihr Körper zerfetzt, übersät von Biss- und Kratzspuren. Offenbar Opfer eines Bärenangriffs. Früher eher unüblich auf Spitzbergen. Aber durch den Rückgang der Robbenpopulation suchen die Bären nach alternativen Futterquellen. Warum hat sie sich nicht an die Vorschriften gehalten und war ohne Gewehr unterwegs? Und warum beschleicht die mit der Untersuchung beauftragte Polizistin Lottie Sandvik, ehemals bei der Osloer Polizei tätig, aber nach einer Versetzung wieder zurück und zuständig für Spitzbergen und die Lofoten, ein solch unbehagliches Gefühl?

Fast zeitgleich trifft auf den Nils Madsen auf den Lofoten ein, da dessen Ex-Freundin und ehemalige Kollegin Åsa angeblich Selbstmord begangen haben soll. Die beiden haben eine gemeinsame Vergangenheit, beruflich und privat, waren Kriegsreporter, jahrelang in Krisengebieten unterwegs. Madsen kennt sie als psychisch stabile Persönlichkeit, bezweifelt die Selbstmord-Theorie. Hat die engagierte Umweltaktivistin Åsa, die mit ihren Walbeobachtungstouren Touristen sensibilisieren wollte, diejenigen verärgert, die noch immer skrupellos Wale abschlachten? Musste sie deshalb sterben?

Außerordentlich gut gelungen sind dem Autor die Beschreibung dieser außergewöhnlichen Natur, der bereits nicht nur durch den professionellen Walfang sondern auch durch die (mittlerweile eingestellte) Ausbeutung der Bodenschätze in der Vergangenheit irreversible Schäden zugefügt wurden. Und natürlich werden auch die Interessen der verschiedenen Nationen thematisiert, die sich in diesem Landstrich nicht nur aus wirtschaftlichen sondern auch aus militärischen Gründen tummeln.

Zwei Todesfälle, die Audic sauber getrennt auffächert, die aber ihre Ursachen in einem gemeinsamen Nenner haben, nämlich dem verantwortungslosen Umgang mit den Meeressäugern. Über Dreiviertel der Handlung begleiten wir sowohl Lottie Sandvik als auch Nils Madsen, jede/r für sich bemüht, Licht ins Dunkel der beiden Todesfälle zu bringen. Und das, obwohl beide mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen haben, was aber glücklicherweise nicht sonderlich viel Raum einnimmt.

Im letzten Viertel wird es noch einmal richtig hektisch, denn hier laufen die beiden Handlungsstränge zusammen und verschränken sich. Die Kapitel werden kürzer, das Tempo zieht merklich an, peu à peu werden die offenen Fragen beantwortet, die beiden Todesfälle aufgeklärt, die Schuldigen entlarvt und zumindest teilweise bestraft. Es endet wie in der Realität, denn hier wie dort bleiben die Hintermänner im Dunkeln.

Ein gelungener Thriller zu einem wichtigen Thema, spannend und atmosphärisch aufbereitet, dessen Botschaft auch ohne den erhobenen Zeigefinger ankommt. Ohne Einschränkung Daumen hoch. Lesen!

Bewertung vom 08.02.2025
Kohle, Stahl und Mord: Das 13. Opfer
Conrath, Martin

Kohle, Stahl und Mord: Das 13. Opfer


gut

Im Oktober 1988 ereignet sich ein tragisches Unglück in der (fiktiven) Zeche Ludwig. Es gibt Überlebende und Verletzte, aber zwölf Kumpel können nicht geborgen werden, sind unter den Trümmern verschüttet und bleiben den Überlebenden als das „Wandernde Dutzend“ in Erinnerung.

Die Zeche wurde in der Zwischenzeit stillgelegt und soll zu einem Besucherbergwerk umgebaut werden. Als eine Gruppe Bergmänner, unter ihnen auch Werner, einer der Überlebenden der damaligen Katastrophe, in die Grube einfährt, um Kontrollarbeiten zu erledigen, bebt die Erde und löst einen Wassereinbruch aus, der neben Geröll auch jede Menge Knochen in den Stollen spült. Könnte es sich um die Überreste des „wandernden Dutzend“ handeln? Natürlich, aber da ist ja noch der dreizehnte Schädel mit dem Einschussloch…

Ein Fall für ein Team der Kripo Essen unter Leitung von KHK Elin Akay, die zur Unterstützung ihre Freundin aus Kindertagen, die Forensikerin Jana Fäller hinzuzieht. Deren inzwischen verstorbener Vater gehörte wie Werner zu den Überlebenden des Unglücks von 1988. Und es gibt noch einen dritten Kumpel, der überlebt hat. Torben Repsen, damals wegen einer mutigen Tat als Held gefeiert und mittlerweile Bürgermeister von Essen, ein Politiker mit Saubermann-Image. Aber hält das einer Überprüfung stand? Das soll Tim Harms, investigativer Journalist, auf Anweisung seines Chefs herausfinden.

Zwei Handlungsebenen und eine Leiche im Keller, ähm, im Stollen. Auf den ersten Blick nicht außergewöhnlich, wäre da nicht das Setting. Ich habe schon einige Krimis und Romane gelesen, deren Handlung im Ruhrgebiet verortet war, den Bergbau aber nur am Rand erwähnt haben. Das ist hier etwas anders, denn gerade zu Beginn gibt es eine Fülle von detaillierten Informationen zum Thema Bergbau. Für den Einstieg in die Handlung empfand ich diese Unterbrechungen aber eher störend, da sie den Lesefluss gehemmt haben. Einfach etwas zu viel des Guten und nicht unbedingt notwendig.

Die beiden Hauptfiguren Elin und Jana konnten mich nicht vollends überzeugen. Deren Charakterisierung bleibt an der Oberfläche und bedient sich zahlreicher Klischees wie Rivalitäten in der SoKo, unüberlegte Alleingänge etc. Kompetenz sieht anders aus. Aber vielleicht erschöpft sich ihre Funktion auch darin, Möglichkeiten für die eine oder andere Side Story, wie hier mit Janas Stalker, zu bieten. Völlig überflüssig und ohne Relevanz für die Handlung. Tim hingegen kommt als Vertreter der schreibenden und schnüffelnden Zunft ziemlich realistisch rüber, aber er hat ja auch den Vorteil, dass für ihn und seinen Berufsstand keine Grenzen gelten.

Schaut man sich die Zusammensetzung dieses Dreierteams an, bietet das leider auch wenig Neues: Eine KHK mit Migrationshintergrund in offizieller Funktion (momentan eher die Regel als die Ausnahme), deren Freundin ohne Auftrag als externe Unterstützerin (auch nicht neu) und der Journalist, der einen Kommunalpolitiker im Visier hat und im Zuge seine Recherche auf Informationen stößt, die für den Fall von Interesse sind (wird gerade auch gerne genommen, siehe Alex Rahn). Hat man so oder so ähnlich schon oft gelesen

Ein holpriger Reihenauftakt, der neben dem interessanten Setting wenig Neues bietet und noch deutlich Luft nach oben hat.

Bewertung vom 01.02.2025
Sing mir vom Tod
Pochoda, Ivy

Sing mir vom Tod


ausgezeichnet

Ich bin ein großer Fan der Autorin, habe alles von ihr gelesen, was bisher in der Übersetzung erschienen ist, „Visitation Street“, „Wonder Valley“, „Diese Frauen“, und war begeistert. Mit „Sing mir vom Tod“ aber übertrifft Ivy Pochoda aber sämtliche Erwartungen und schlägt ein neues Kapitel auf.

„Sie weiß, dass es Menschen geben wird, die (…) ihren Verbrechen eine Bedeutsamkeit zumessen werden, die sie nicht hatten. Sie werden analysieren und forschen, dem Unsinnigen einen Sinn zuerkennen, bis sie zu einer mundgerechten Entschuldigung für ihre Verbrechen gelangen. (…) Sollen sie sämtliche Entschuldigungen für ihre Taten finden und nur den einen Punkt außer Acht lassen: wer sie wirklich ist. Eine gewalttätige Frau. Kein Unterschied zu einem gewalttätigen Mann.“

Es ist diese Aussage, die die Besonderheit dieses Thrillers ausmacht. Frauen, die Opfer von physischer oder psychischer Gewalt sind und deshalb gewalttätig, auch zu Mörderinnen werden, sind in der Kriminalliteratur zahlreich vertreten. Über rohe Brutalität, die von Frauen ausgeht und nicht reaktiv ist, sondern quasi in deren Natur liegt, liest man selten. Eine Leerstelle, die Pochoda gefüllt hat.

Ein überbelegtes Frauengefängnis in Arizona. Unter den Insassen Florence „Florida“, Tochter aus gutem Hause und nach eigener Aussage unschuldig verurteilt, und Diosmary „Dios“, aufgewachsen in prekären Verhältnissen, hochintelligente Stipendiatin an einem renommierten College, verurteilt wegen schwerer Körperverletzung, besessen, warum auch immer, von dem Verlangen, Florida zu demaskieren, ihre wahre Natur zum Vorschein zu bringen. Kommentiert werden die Ereignisse von Kace. Sie spricht mit den Toten, ist mittendrin, beobachtet genau, was um sie herum geschieht und kommentiert dies so, wie wir es von dem Chor der griechischen Klassiker kennen.

Während der Pandemie wird der Platz knapp, also gibt es vorzeitige Entlassungen, das heißt zweiwöchige Quarantäne mit diversen Auflagen in einem schmuddeligen Motel in the middle of nowhere. Dios heftet sich auf Floridas Spuren, stöbert sie auf. Letztere hat bereits gegn jede Vernunft beschlossen, das Motel zu verlassen und mit einem illegalen Bus Shuttle in ihre Heimatstadt Los Angeles zurück zu kehren. Einem Bus, den auch Dios nimmt und verantwortlich dafür zeichnet, dass die Gewaltspirale kein Ende nimmt. Und hier kommt die Dritte in Gestalt von Lobos ins Spiel, die mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hat.

Wir folgen diesen drei Frauen durch Gegenden in Los Angeles, insbesondere Koreatown und Skid Row, die wir bereits aus „Wonder Valley“ kennen. Die Obdachlosigkeit hat sich mittlerweile verschärft, die Zeltstadt kratzt bereits an Downtown, hat etwas Apokalyptisches. Pochodas Beschreibungen sowohl der Umgebung als auch der Personen sind subtil, tauchen in das Innerste ein und schaffen so eine Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann. Wütend, kraftvoll, lebendig und sensibel. Man klebt gebannt an den Seiten, wartet auf die nächste Eskalation bis zum dunklen Ende, dem unvermeidlichen Showdown, zu dem es schließlich, wie vorhergesagt, an der Ecke Olympic und Western in Koreatown kommen wird.

Eine Reise in die Dunkelheit, außergewöhnlich und provokativ. Pochoda at her best. Lesen!

Bewertung vom 29.01.2025
Cheap Land Colorado
Conover, Ted

Cheap Land Colorado


ausgezeichnet

Ted Conover ist ein amerikanischer Journalist, der bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht und dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Seine Sozialreportagen sind etwas Besonderes, weil sich sein Blick nicht darauf beschränkt, von außen mit entsprechender auf die Menschen zu schauen, sondern in deren Alltag eintaucht, deren Leben über einen längeren Zeitraum teilt und davon ohne zu werten berichtet. So war er mit Hobos auf den Schienen quer durch Amerika unterwegs, hat als Wärter im Hochsicherheitsgefängnis Sing-Sing gearbeitet und Einwanderer auf ihrem Weg in die USA begleitet.

In „Cheap Land Colorado“, seiner neuesten Veröffentlichung, hat es ihn nach San Luis Valley in den südlichen Rocky Mountains verschlagen, eine Region, die für ihr billiges Land bekannt und deshalb ein bevorzugtes Ziel für Aussteiger ist, in den US als Off-Gridder bezeichnet. Für kleines Geld kann man sich dort eine Parzelle Land kaufen und den amerikanischen Traum von Freiheit leben. Sie kommen aus allen Landesteilen, politisch eher dem Trump-Lager zuzuordnen, sind meist arm. Manche sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten, andere können sich das Leben in den Städten nicht mehr leisten oder suchen nach alternativen Formen des Miteinander, wollen raus aus dem Hamsterrad. Und dann gibt es auch noch diejenigen, die die Abgeschiedenheit der Prärie genießen, weil sie einfach nur ihre Ruhe haben und nach ihren eigenen Regeln leben wollen.

Um einen Fuß in die Tür zu bekommen schließt sich Conover La Puente an, einer Hilfsorganisation, die die Menschen dort mit dem Nötigsten, Essen, Brennholz, medizinischer Versorgung etc. versorgt, später kauft er einen Trailer und teilt immer wieder über größere Zeiträume den oftmals harten Alltag. Er schätzt die Gemeinschaft, lebt mit seinen Nachbarn, findet Freunde, wird einer von ihnen, was sogar so weit geht, dass er dort ein Stück Land kauft und ein Haus baut.

Conovers Reportage bietet einen interessanten Einblick in eine Region und deren Bewohner, die frei und autark ihren amerikanischen Traum leben wollen. Absolut lesenswert, auch wenn wir diese Werte nicht teilen. Er gewährt uns Einblicke, weckt Verständnis, erzählt ihre Geschichten. Einfühlsam, nicht wertend und mit jeder Menge Sympathie und Akzeptanz. Lesen!

Bewertung vom 27.01.2025
Verlassen / Mörderisches Island Bd.4
Ægisdóttir, Eva Björg

Verlassen / Mörderisches Island Bd.4


gut

Ein Wochenende im November 2017. Ein Leichnam am Fuß einer Felsklippe. Ein abgelegenes Luxushotel auf der westisländischen Halbinsel Snaefellsnes, das durch seine futuristische Ausstattung ein unbehagliches Gefühl unter den Gästen verbreitet. Eine wohlhabende Großfamilie, die es sich in dem Familienimperium gemütlich gemacht hat und diese Location exklusiv für die Geburtstagsfeier des (bereits verstorbenen) Firmengründers nutzt. Und, wie könnte es bei dieser Konstellation auch anders sein, jede Menge Verborgenes, das nur darauf wartet ans Licht zu kommen.

Eva Björg Ægisdóttirs „Verlassen“ ist das Prequel zu ihrer dreibändigen Mörderisches-Island-Reihe und wird als Nordic Noir vermarktet. Gut, es gibt eine Leiche, aber dennoch kann ich dieser Etikettierung nicht zustimmen, ist dies durch die Konzentration auf die einzelnen Familienmitglieder und deren Geheimnisse doch eher ein isländischer Roman mit Spannungselementen, in dessen Zentrum das Psychogramm einer dysfunktionalen Sippe mit nicht zu verleugnenden Suchtproblemen steht. Den einzelnen Personen sind zahlreiche Themen zugeordnet, von denen die Gefahren, die die naive Nutzung von Social Media Plattformen mit sich bringen kann, als Motiv zwar nicht neu, aber hier noch am interessantesten ist.

Mit der Entwicklung der Story lässt sich die Autorin Zeit. Viel Zeit, bis sie auf den Punkt kommt. Geschuldet ist das in erster Linie dem großen Personentableau, in dem man sich verlaufen könnte, wäre nicht eingangs der entsprechende Stammbaum der Familie abgedruckt, zu dem zumindest ich während des Lesens immer wieder zurückblättern musste, um mir die Beziehungen der einzelnen Personen zu vergegenwärtigen. Das bremst das Tempo, hemmt den Lesefluss und ist auf Dauer ermüdend. Daran ändern leider auch die unterschiedlichen Perspektiven nichts, aus der nicht nur die Geschehnisse des Wochenendes geschildert werden, sondern auch aus verschiedenen Blickwinkeln auf vergangene, auch einigermaßen tragische Ereignisse geblickt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass sämtliche Personen zutiefst unsympathisch sind und ich permanent das Gefühl hatte, angelogen zu werden.

Die Ermittlungen der Polizei nehmen nur einen sehr kleinen Raum ein, auch wenn in Gestalt von Saevar und Hördur zumindest zwei alte Bekannte aus der Mörderisches-Island-Reihe sich bemühen, den Todesfall aufzuklären. Elma hingegen gehört noch nicht zum Team, wird aber bereits als Verstärkung angekündigt.

Wenn man möchte, kann man „Verlassen“ problemlos als Ergänzung zu der Reihe lesen, aber zwingend notwendig ist es nicht.

Bewertung vom 15.01.2025
Mein Schwaben
Klink, Vincent

Mein Schwaben


ausgezeichnet

Mit Vincent Klink bin ich bereits durch Paris (Ein Bauch spaziert durch Paris), Venedig (Ein Bauch spaziert durch Venedig) und Wien (Ein Bauch lustwandelt durch Wien) flaniert. Habe eigene Reiseeindrücke im Nachhinein Revue passieren oder mich von dessen sehr persönlichen Impressionen inspirieren und offenen Auges durch die Städte führen lassen. Mit „Mein Schwaben kehrt der Sternekoch im Ruhestand nun aber den touristischen Hotspots den Rücken und schaut sich stattdessen nicht nur in seiner, sondern seit Studienzeiten auch in meiner Heimat um. Und da gibt es unendlich viel zu entdecken.

Landschaftliche Highlights wie die Wacholderheiden der Schwäbischen Alb oder das Donautal rund um Sigmaringen. Urzeitfunde aus der Vogelherdhöhle bei Niederstotzingen, wie das 3,7 cm kleine Mammut, die älteste Tierdarstellung der Menschheitsgeschichte, mittlerweile in die geschichtsträchtige Uni-Stadt Tübingen umgezogen. Außergewöhnliche Kunstwerke, zu finden in Kirchen, aber auch in der Stuttgarter Staatsgalerie. Kritische Köpfe, die wir kennen, Schiller, Wieland und, nicht zu vergessen, die schwäbischen Tüftler und ihre bahnbrechenden Erfindungen.

Klinks verbindet in diesem lesenswerten Buch seine Ausfahrten ins Umland nicht nur mit allerlei Wissenswertem um die Kulturgeschichte Schwabens, sondern taucht auch tief in die schwäbische Seele ein, die für Außenstehende auf den ersten Blick zwar bruddelnd daherkommen mag, aber herzensgut ist und viel mehr als Kehrwoch‘ und Häusle bauen zu bieten hat.

Daneben ist dieses Buch, für alle, die sich dafür interessieren, eine wahre Fundgrube für Ausflugstipps. Und neben Futter für den Kopf gibt es natürlich auch jede Menge Empfehlungen für den Magen, falls einem unterwegs der Hunger plagt, was durchaus vorkommen mag. Deshalb werden sowohl in den Texten als auch im Anhang empfehlenswerte Gasthäuser genannt. Aber auch wer lieber selbst kocht, wird hier fündig, denn unter dem Titel „Sonntags Brötle und Salätle“ gibt es zum einen einen Überblick darüber, was die schwäbische Küche ausmacht und wo ihr Ursprung zu finden ist, zum anderen stellt Vincent Klink die Klassiker vor und liefert auf 25 Seiten die passenden Rezepte dazu.

Ein rundum gelungenes Buch nicht nur für Schwaben, vollgepackt mit wissenswerten Informationen zu Ländle, Leuten und Historie, präsentiert mit knochentrockenem Humor. Also genau so, wie wir es von ihm kennen und erwartet haben. Bleibt mir nur noch zu sagen: „Danke, Herr Klink, ma hots lesa könna!“

Bewertung vom 12.01.2025
Umlaufbahnen
Harvey, Samantha

Umlaufbahnen


ausgezeichnet

Der erste Satz: „So einsam sind sie in ihrem um die Erde kreisenden Raumschiff und gleichzeitig einander so nah, dass ihre Gedanken, ihre individuellen Mythologien, bisweilen zusammenfinden“.

Eine Raumstation. An Bord vier Astronauten, zwei Kosmonauten. Ein internationales Team aus Neulingen und alte Hasen auf engstem Raum, jede/r mit einer individuellen Aufgabe betraut. Beobachtungen, Experimente, Forschung in der Petrischale. Schwerelosigkeit und ihre Auswirkungen, lang- und kurzfristig. Jedes Ergebnis dokumentierend.

Vierundzwanzig Stunden, ein Tag und eine Nacht, getaktet in sechzehn Umlaufbahnen, von denen jede neunzig Minuten dauert. Eineinhalb Stunden in Dauerschleife, in denen die Sonne auf- und untergeht. Völlig losgelöst in grenzenloser Unendlichkeit, den Blick gerichtet auf Mutter Erde lassen wir uns treiben.

Samantha Harveys „Umlaufbahnen“, ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2024, setzt sich aus individuellen Reflexionen und Beobachtungen zusammen, die in weiten Teilen völlig unspektakulär daherkommen. Gespeist aus Gegenwärtigem und Vergangenem. Den Aufgaben, die es täglich zu erledigen gilt, den Gefühlen, die bei den Blicken aus den Fenstern geweckt werden, aber auch den persönlichen Erinnerungen, Erfahrungen und Sehnsüchten. Manchmal profan, aber über weite Strecken all jene Punkte thematisierend, die die Existenz des blauen Planeten gefährden und dessen Schutz geradezu unumgänglich einfordern. Sehen Dunkel und Licht, Wetterphänomene und eine Welt ohne Grenzen, spüren Hilflosigkeit, persönliche Betroffenheit aber auch wissenschaftliches Interesse. Tauchen ein in die Köpfe der Besatzung, folgen deren Fluss der Gedanken, teilen und würdigen staunend ihre Beobachtungen.

Ganz großes Kino. Lesen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.12.2024
Ihr kennt mich nicht
Héraclès, Julie

Ihr kennt mich nicht


ausgezeichnet

Ein Augenblick, für immer festgehalten von Robert Capa. Ein Foto, das unter dem Namen „La Tondue de Chartres“ (Die Geschorene von Chartres) um die Welt geht:

16. August 1944. Eine junge Frau, die Stirn gebrandmarkt mit einem Hakenkreuz, der Kopf kahlgeschoren, in den Armen ihr Kleinkind. Eine aufgebrachte Menschenmenge, die sie erbarmungslos durch die Straßen ihrer Heimatstadt Chartres treibt.

Wer war Simone Touseau? Und was hat sie in einer Zeit, in der die Menschen unmissverständlich in die Kategorien Freund und Feind eingeteilt wurden, dazu bewogen, sich mit einem deutschen Soldaten einzulassen? Dieser Frage geht Julie Héraclès in ihrem mehrfach prämierten Roman „Ihr kennt mich nicht“ nach, in dem sie uns durch Simones Augen auf diese unsichere Zeit und die öffentliche Meinung blicken lässt, die schlussendlich zu deren Verurteilung und öffentlichen Demütigung geführt hat.

Héraclès wertet und verurteilt nicht, hält die Position einer neutralen Beobachterin, die die Licht- und Schattenseiten ihrer Protagonistin im Blick hat und diese in ihrer Komplexität beschreibt. Mit der gebotenen Objektivität richtet sie ihren Blick auf die junge Frau, deren Streben nach Freiheit jenseits der Konventionen. Intelligent, sprachbegabt und fasziniert von der Ideologie der Besatzer, arbeitet sie mit ihnen ab 1941 zusammen, wird zu deren Übersetzerin. Zudem hat Simone noch eine Liebesbeziehung mit einem deutschen Soldaten, und als sie Anfang 1943 Mitglied in der französischen PPF wird, der Partei, die zur Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten aufruft, wird sie bereits hinter vorgehaltener Hand der Kollaboration bezichtigt. Ihr Geliebter fällt bei seinem Einsatz an der Ostfront, das gemeinsame Kind kommt im Mai 1944 zur Welt.

Simone Touseau hat ein Leben voller Widersprüche gelebt, war eine Frau mit Ecken und Kanten, die sich nicht brechen ließ, unbeirrt ihren Weg ging. Ihr Schicksal war kein Einzelfall, sondern steht stellvertretend für die „L’Épuration sauvage“, während der nicht nur politische Kollaborateure kurzerhand liquidiert sondern auch unzählige Frauen, die Beziehungen zu den Besatzern unterhielten, kahlgeschoren durch die Straßen der französischen Dörfer und Städte getrieben wurden. Ein dunkles Kapitel der Geschichte, das Julie Héraclès mit ihrem Roman in Erinnerung ruft. Lesen!