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Bewertung vom 09.10.2022
Georg Büchner
Milz, Christian

Georg Büchner


ausgezeichnet

Manfred Koch schreibt 2013 in der NZZ: "Büchner-Biografen haben sich oft gewundert über die exzessive Thematisierung der Sexualität im Werk eines jungen Mannes, der allem Anschein nach sehr sittsam aufwuchs (die calvinistische Mutter war prüde, der Mediziner-Vater hat ihn allenfalls «aufgeklärt» durch Konfrontation mit weiblichen Leichen im Anatomiesaal). Christian Milz glaubt jetzt des Rätsels Lösung gefunden zu haben. Deutet nicht vieles darauf hin, dass Georg die schlüpfrigen Gespräche der in höfischer Mätressenwirtschaft erfahrenen Damen mitbekam? Sind nicht auch Verführungsversuche, erotische Spiele mit dem hübschen Knaben denkbar?
Direkt belegen lassen sich diese Vermutungen nicht. Es gibt allerdings eine dank ihrer Obszönität prominente Stelle bei Büchner, die an die Welt der Grossmutter erinnert: das Kartenspiel am Anfang von «Dantons Tod», in dem eine «Dame» ihrem Mann «Herz», anderen hingegen das rautenförmige «Carreau» – sprich: die Vagina – darbietet. Diese assoziative Brücke genügt Milz, um einen ganzen Familienroman der inzestuösen Verstrickung zu konstruieren. Sein Buch ist über weite Strecken eine tiefenpsychologische Achterbahnfahrt durch «Woyzeck», die beweisen soll, dass das Stück nur vordergründig von einem Eifersuchtsmord handelt.
In Wahrheit, das will Milz' «allegorische» Auslegung zeigen, geht es um die Versündigung einer übermächtigen Mutter-Instanz am «Kind» und deren Bestrafung: Woyzeck ersticht in Marie die «mythische Grosse Mutter» (die so etwas wie ein Amalgam aus Mutter, Grossmutter, dämonischer Weiblichkeit und verschlingender Natur ist). Plausibel ist diese Seelenanalyse nicht, auch wenn man dem Interpreten zugutehalten kann, dass das leidende Kind eine Obsession Büchners ist. Da die Quellen nichts hergeben, was seine These stützen könnte, entdeckt und knackt Milz überall «Chiffren», die Büchner, «der Rätselsteller», hinterlassen habe. Das Resultat ist ein Buch, das mehr über die Konjunktur des Themas Kindesmissbrauch verrät als über den Autor des «Woyzeck»."
Tatsächlich geht der Autor der "Entschlüsselungen" genau umgekehrt vor: Er untersucht das Woyzeck-Fragment unvoreingenommen und nimmt sich nach den einschlägigen Funden ("akribische Mikroanalyse der Entwurfsstufen" schreibt Prof. J. Lehmann in 'Germanistik' 54/2014 S. 520) erst in einem zweiten Teil die Biografie Georg Büchners vor. Allein der Ausdruck "die Konjunktur des Themas Kindesmissbrauch" disqualifiziert den Rezensenten und mmit ihm leider auch die NZZ, die sich anscheinend völlig umsonst etwas auf ihren Kulturteil einbildet.

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