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Dr. Bernd F. Schulte
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Hamburg

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Bewertung vom 30.01.2012
Deutsche Policy of Pretention
Schulte, Bernd F.

Deutsche Policy of Pretention


ausgezeichnet

kreist um den Begriff »Pretention« und geht zurück auf lateinisch »praetendo« – englisch »pretend« – französisch »prétendre« – gebräuchlich: »Pretension« – und archaisch »Pretention«. – »Pretention « hieß 1914 »Bluff«. Es handelte sich um ein Modewort der damaligen Diplomatie. Schließlich wurde der Fehlschlag der europäischen Regierungen in der Julikrise des Jahres 1914 mit der Formulierung entschuldigt, man habe sich eben »festgeblufft«. Das Spielerische des Vorgangs wurde leichtfertig überbetont. Hier geht es allerdings um mehr. So wie die wissenschaftliche Interpretation der Ereignisse bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, im Verlaufe der neueren Diskussion seit 1961, eine eher unglückliche Fixierung auf den Juli/August feststellt, so geht es inzwischen in der allgemeinen Forschung darum, die europäische Welt zwischen 1905 und 1914 hinsichtlich deren wirtschaftlichen, diplomatischen, militärischen und kulturgeschichtlichen Wurzeln zu untersuchen.

In diesem Zusammenhang wird inzwischen von einer deutschen »brinkmanship«-Politik gesprochen. Das heißt: die Berliner Politik habe ein zunehmend bedeutenderes Risiko übernommen. Ich sehe die deutsche Politik dabei, systematisch, von Krise zu Krise gesteigert, nahezu naturwissenschaftlich und labormäßig, ein »testing the entente« vorzunehmen. Es ging darum, festzustellen, als wie solide das – in Berlin als monolithisch aufgefaßte – System der Entente-Bündnisse und Absprachen – zwischen Paris, Petersburg und London – sich herausstelle. Es ging ferner darum, eventuell auftretende Risse zu erkennen, und im Folgenden eine mögliche Sprengung der Verbindungen zu betreiben. Das war die erklärte Absicht und Politik des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg zwischen 1909 und 1914.


Was war nun aber dabei deutscherseits vorgeschützt, übertrieben oder vorgespiegelt? Die deutsche Politik basierte, nach dem deutschfranzösischen Krieg von 1870/71, zu großen Teilen auf dem herausragenden Ruf der preußisch bestimmten Armee. Es ist gezeigt worden, daß Kampfwertvergleiche den anscheinend unerschütterlichen Nimbus der deutschen Waffen als immer labiler erscheinen ließen. Spätestens seit der Marokkokrise von 1905 brach sich eine breit gefächerte Kritik an den deutschen taktischen und operativen Verfahren Bahn. Zum Beispiel in der »Revue Militaire des Armées Ètrangères« des französischen Generalstabes sowie englischen, französischen und russischen Magazinen, Monatsschriften und Tageszeitungen. Das geschah in einer breiten Kritik unter anderem am Beispiel der deutschen Kaisermanöver. Die nicht unbedingt erfolgreichen diplomatischen Bemühungen Berlins in diesen Jahren verschärften zusätzlich die fortschreitende Erosion des Bildes der Zeitgenossen von der preußisch-deutschen Armee als der »besten der Welt«.

Nicht zuletzt durch den immer wieder aufgenommenen Appell, das Schwert zu ziehen, entwertete, abgesehen von diesem technischen Hintergrund, die Berliner Diplomatie ihre Pressionspolitik 1904/ 06, 1908/09 und im Herbst 1912 selbst. Es wuchs in den Hauptstädten Europas bis Ende 1912 die Überzeugung heran, nun, bei nahezu vollendeter militärischer Rüstung, diesem Druck künftig widerstehen zu sollen. So kam es zu einem Krieg, in den Deutschland mit noch nicht vollendeter Rüstung eintrat. In diese Zwangslage war Berlin geraten, obwohl etwa der englische Oberst Repington, im Oktober 1911 in der Times, eindringlich davor gewarnt hatte, die deutsche Armee und deren Leistungsfähigkeit überzubewerten. Deutscherseits wurde diese Kritik, bis hinauf zum Kaiser, empört zurückgewiesen, wobei in Berlin übersehen wurde, daß jahrzehntelang
Unsummen in den Schlachtflottenbau geflossen waren, die nun – wie sich herausstellen sollte – in der Armee unübersehbare Lücken verursacht hatten.

Die Marne erreichten, im September 1914, die Armeen des deutschen rechten Heeresflügels nicht nur ohne die 1913 umstrittenen drei Armeekorps, sondern auch ohne ein in Führung und Gefecht konkurrenzfähiges Kampfverfahren und ohne z

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