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MAK
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Bewertung vom 24.10.2022
Deutsche Fleischarbeit
Settele, Veronika

Deutsche Fleischarbeit


ausgezeichnet

Die Bremer Historikerin Veronika Settele hat ein Buch geschrieben, das aktueller und wichtiger nicht sein könnte. Hinter der „Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute“ verbirgt sich eine gut lesbare wissenschaftliche Arbeit mit umfangreichen Quellenangaben über die Entwicklung der Fleisch- und Milchproduktion der letzten rund 170 Jahre in Deutschland und anderen westlichen Staaten.
Die Verwendung des Begriffs Massentierhaltung im Buchtitel sollte nicht abschreckend wirken und von der Lektüre abhalten. Die Autorin weist darauf hin, dass dieser wie selbstverständlich in der agrarischen Fachwelt benutzt wurde, bevor er ab den 1970er Jahren zum Kampfbegriff der Gegner einer ökonomisch und auf Effizienz getrimmten Tierhaltung wurde und seitdem von der „grünen Seite“ konsequent gemieden wird.
Im ersten Teil des Buches schildert die Autorin, wie allgegenwärtig die Nutztiere in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts in den großen Städten dieser Welt waren. Sie waren die „Lebensversicherung der Ärmsten“. „In Kellern hausten mitunter ein Mann, eine Frau, drei Kinder und 5 Schweine“. Fleisch war dennoch auch in Friedenszeiten so knapp, dass um 1912 regelrechte Aufstände in Berlin und anderswo zu verzeichnen waren. „Einzelne Kommunen wie Karlsruhe, Lübeck und Charlottenburg stiegen selbst in die Produktion ein und errichteten kommunale Schweinemastanstalten“.
Viele interessante geschichtliche Details zur Versorgungslage der Menschen in den Städten und auf dem Lande werden geschildert und erklären damit auch die zunächst sehr große Zustimmung für die Entwicklung, die die Nutztierhaltung nach dem 2. Weltkrieg genommen hat.
Im zweiten Teil des Buches werden die oft revolutionären Entwicklungen in den Ställen, exemplarisch für Rinder, Hühner und Schweine unter den Aspekten „Körper“, „Wirtschaft“ und „Technik“ ausführlich mit umfangreichen Quellenangaben dargestellt. Sehr ausführlich behandelt die Autorin die parallel zur westdeutschen Entwicklung verlaufenden Aktivitäten in der DDR, die an Gigantonomie insbesondere in der Schweinhaltung unübertroffen waren. Kuriositäten wie z. B. die sogenannte „Sommer- und Waldmast“ in den 1970er Jahren in der DDR werden geschildert, genauso wie die politischen Auseinandersetzungen im sogenannten „Chicken War“ 1961 bis 1963 zwischen den USA und Westdeutschland zu Adenauer-Zeiten. Die Eier- und Geflügelfleischerzeugung befand sich vorher in der Hand der Frauen, bevor es zu einer „Vermännlichung der Geflügelhaltung“ kam.
Auch wenn manches im Text Anekdotisches an sich hat, ist es doch stimmig und schlüssig, mit Sprachwitz und Freude an den Formulierungen niedergeschrieben.
Je leistungsfähiger und spezialisierter die Nutztierhaltung wurde, umso mehr verschwand sie aus dem Gesichtsfeld der Verbraucher, und umso größer wurden die Vorbehalte ihr gegenüber. Darauf geht die Autorin im abschließenden dritten Teil ihres Buches näher ein.
Die vielen Ungereimtheiten und Widersprüche in der Kritik an der „Massentierhaltung“ lässt sie nicht unerwähnt, wenn Sie z.B. eine Sendung des SWR zitiert: „Das Verbot des Kükentötens, gemeinhin als Verbesserung des Tierschutzes verstanden, verschob das Töten dieser Tiere um knappe 100 Tage – zum Preis von mehr CO2, mehr Futtermittelimporten, mehr Geflügelmist, einer Hähnchenhaltung außerhalb des Kontrollgebiets deutscher Tierschutzbehörden, steigenden Geflügelfleischexporten vor allem in afrikanische Länder und teureren Eiern“.
Auch Bio bleibt nicht ohne kritische Feststellung (die aktueller nicht sein könnte): „Bio wächst im Diskurs üppiger als in der Realität. Die Tiere sind zum Zugpferd der Bio-Landwirtschaft geworden, allein zu ihrem rhetorischen Zugpferd“.
Und auch in ökonomischer Sicht ist die Autorin „gnadenlos“ ehrlich: „Die Übersetzung der unzähligen wissenschaftlichen Ergebnisse, wie Tierhaltung besser für Tier und Umwelt gestaltet werden könnte, in die landwirtschaftliche Praxis hängt von ihrer ökonomischen Umsetzbarkeit ab“.
Vertreter sowohl der (konventionellen) Landwirtschaft wie gegnerischer gesellschaftlicher Kreise können das Buch mit Gewinn lesen. Vielleicht trägt es auch dazu bei, den Graben zwischen ihnen ein wenig zuzuschütten und mehr Augenmaß bei zukünftigen politischen Entscheidungen zu wahren.

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