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caro_phie

Bewertungen

Insgesamt 12 Bewertungen
12
Bewertung vom 28.06.2024
Sorry not sorry
Landsteiner, Anika

Sorry not sorry


ausgezeichnet

Nicht (mehr) allein

Ich versuche die richtigen Worte zu finden, meine Empfindungen während des Lesens von Anika Landsteiners Essayband zum Thema weibliche Scham wiederzugeben, die Punkte zu finden, bei denen sie mich besonders getroffen hat, bei denen ich das Buch zuklappen musste weil ich zum ersten mal merkte, es gibt noch jemanden, der - oder besser die - sich in solchen Situationen schämt. Es gibt höchst wahrscheinlich nicht nur eine sondern die Hälfte der Gesellschaft, der diese Scham antrainiert wurde. Ich bin nicht allein und war es nie mit diesen Gefühlen, aber ich dachte es, denn die Scham selbst ist schambehaftet. Es wird nicht darüber gesprochen. Oft gesteht man sich das Gefühl sogar selbst nicht ein.

Anika Landsteiner bricht dieses Tabu. Sie offenbart so viel über ihre eigene Scham, findet auf einer unglaublich persönlichen Ebene Zugang zu dem Thema ohne den gesellschaftlichen Diskurs dahinter zu vernachlässigen. Sie hinterfragt Strukturen, die gerade Frauen diese Scham aufzwingen - die Scham nackt zu sein, die Scham zu altern aber auch die unauffällig unters Sofa geschobene, leere Kekspackung.

So oft habe ich mich in Anika Landsteiners Essays wiedergefunden, in ihren Gefühls- und Gedankenkarussellen, von denen sie es schafft sich zu distanzieren. Ich, knapp 10 Jahre jünger, habe noch einen weiten Weg dorthin, aber er ist durch dieses unglaublich wichtige Buch merklich kürzer geworden.

Bewertung vom 03.06.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


sehr gut

Ich hätte es so gerne geliebt

Sie liegen da vor dem Krankenhaus. Viele Frauen. Wie Blumen, denen das letzte Wasser entzogen, die letzten Nährstoffe genommen wurden, eingeknickt ohne einen Laut. Sie rufen nichts, sie erklären sich nicht. Denn was gibt es denn da noch zu erklären, wo alles schon so viele Male gesagt wurde?

Ein stiller Protest, eine solidarische Aktion vieler Frauen, die wie ein Lauffeuer um sich greift. Sie legen die Arbeit nieder und innerhalb weniger Tage beginnt das System zu wanken, denn baut es nicht auf der unter- und unbezahlten Arbeit so vieler Frauen? Voller Wut und gleichzeitig Hoffnung verfolgt Mareike Fallwickl dieses Gedankenexperiment.

Es ist ein erstaunliches, schockierendes Buch. Ein Buch, das mich auf wenigen Seiten so viel gelehrt hat, so viele Perspektiven vereint und denen eine Stimme gibt, die insbesondere durch Mehrfachmarginalsierung oft keine haben. Es ist ein wichtiges Buch und so gerne würde ich es uneingeschränkt empfehlen.

Aber leider konnte mich Mareike Fallwickl weder von der Sprache noch mit ihren Charakteren ganz abholen. Viele Konversationen kamen mir unnatürlich vor, viele der Szenen zu konstruiert. Vielleicht ist es Absicht? Vielleicht soll das Buch wie eine Traumsequenz wirken, denke ich, als ich es zuklappe. Doch für mich hat es eher bewirkt, dass eine Distanz zwischen mir und den Hauptcharakteren blieb, die es schwerer machte mit ihnen zu fühlen.

Und so schwingt in all den Momenten, in denen ich in den darauffolgenden Tagen an das Buch zurückdenken muss - denn losgelassen hat es mich bisher nicht und wird es auch so schnell nicht - immer auch ein leichtes Gefühl der Enttäuschung mit.

Bewertung vom 20.05.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

Erschütternd wichtig

“Eine Beziehungstat” so heißt es danach in den Zeitungen, wie leider viel zu oft. Es folgt ein Kopfschütteln, ein Augenblick der Beklemmung und dann blättert oder scrollt man weiter, wendet seine Gedanken anderen, scheinbar größeren Themen zu und Täter und Opfer frieren in diesen Rollen ein, bleiben für immer Täter und Opfer, scheinen immer Täter und Opfer gewesen zu sein, bestimmt durch ihre Beziehung zueinander.

In ihrem grandiosen Roman, wendet sich Lana Lux der Vorgeschichte einer solchen “Beziehungstat” zu. Mit unglaublicher Beobachtungsgabe schildert sie die Vorgeschichte der Tat aus der Perspektive von Täter und Opfer, zeigt auf schockierend individueller Ebene, wie ein unabhängiger Mensch innerhalb kürzester Zeit die Kontrolle über sein Leben verlieren kann, weil ein anderer sie gewaltvoll nimmt.

Es ist ein Buch, dass mich absolut sprachlos und erschüttert zurückgelassen hat. Ein Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite in jedem Satz so präzise auf die Missstände hinweist, die letztendlich zu der Tat führen. Ein Buch, das mit so viel detailreich die Geschehnisse aus der Perspektive von Faina und Philipp beschreibt, dass man sich am Ende schämt dafür jemals nicht die Menschen hinter einer Beziehungstat als solche wahrgenommen zu haben, nicht dem unermesslichen Leid gebührend Beachtung geschenkt zu haben, das mit einer so toxischen Beziehung einhergeht.

Es ist ein Buch, das ich allen ans Herz lege. Ein unglaublich wichtiges Buch, das mich noch sehr lange beschäftigen wird.

Bewertung vom 22.04.2024
Unlearn Patriarchy 2
Amojo, Ireti;Borcak, Melina;Boussaoud, Yassamin-Sophia

Unlearn Patriarchy 2


sehr gut

Mit- und weiterdenken

Es gibt viele Aspekte in unserem Leben, die vom Patriarchat geprägt sind, die wir hinnehmen, nach keiner Alternative suchen, uns teilweise ihres Diskriminierungspotentials nicht bewusst sind. Unlearn Patriarchy 2 greift in Essays von unterschiedlichen Autor*innen 13 dieser Aspekte auf.

Ich war wahnsinnig überrascht von den vielen Dimensionen des Patriarchats, die sich auftaten und die ich vorher gar nicht oder nicht in der Tiefe mitgedacht habe. Immer wieder musste ich zum Stift greifen mir ganze Passagen unterstreichen, weitere Leseempfehlungen rausschreiben. Es ist ein Buch das zum Mitdenken anregt, sowohl während der Lektüre als auch danach, denn dass man danach genauso auf die Gesellschaft schaut wie vorher ist unwahrscheinlich.

Leider muss ich dennoch mein Lob für dieses wichtige Buch ein wenig einschränken, denn so wie sich die Themen unterscheiden, unterscheiden sich auch die Stimmen in diesem Buch. Während Schreibstil (von sachlich bis wütend) sicherlich Geschmackssache ist und ich es auch sehr schön fand, dass so viele verschiedene Stimmen in einem Buch versammelt sind, hat die Aufarbeitung mancher Themen meines Erachtens manche Argumente schwächer gemacht als nötig - Argumente, denen ich in 99% der Fälle folgen konnte, bei denen mir aber, wenn sie als generelles Statement und nicht als eigene Erfahrung dargestellt wurden, oft die Referenzen gefehlt haben.

Dennoch eine klare Leseempfehlung für dieses wichtige Buch, aus dem ich viel mitgenommen habe!

Bewertung vom 01.04.2024
Der rechte Pfad
Sozio, Astrid

Der rechte Pfad


sehr gut

Düsteres Porträt eines Ortes

Es ist ein Ort, der wie aus der Zeit gefallen wirkt. Welsum, eine kleine Gemeinde in Nordrhein-Westfahlen, in die Benni nach einem Unfall zurückkehrt. Denn hier hat er immer seine Sommer in seiner Kindheit verbracht, bei seinem Vater. Einem Vater, der ihm trotzdem immer ein wenig fremd geblieben ist. So wie der ganze Ort und seine Bewohner - so scheint es. Denn Welsum ist Zentrum einer sektenartigen Glaubensgemeinschaft, der ein Großteil der Bewohner angehören.

Dennoch scheint es den kleinen Benni und nun auch den erwachsenen immer wieder hinzuziehen, der Glaube an Himmel und Fegefeuer ihn zugleich abzustoßen und anzuziehen. Hier findet er in seiner Jugend einen engen Freund und die erste Liebe. Hier erlebt er Gewalt, Fremdenhass, Angst und Tod.

Großartig verwebt Astrid Sozio die zwei Zeitebenen zu einem atmosphärischen, düsteren Roman darüber, welche Kräfte ein wahnhafter Glaube an Gott freisetzen kann. Obwohl das Buch eigentlich nicht ganz in mein übliches Lesemuster passt, und ich die ersten huntert Seiten gebraucht habe, um in die Geschichte reinzukommen, war ich letztendlich wahnsinnig gefesselt - von der Handlung, aber auch von Astrid Sozios Sprache, ihrer detailreichen Erzählweise, die das Buch für mich zu einem intensiven Leseerlebnis gemacht haben.

Bewertung vom 20.03.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


ausgezeichnet

Eine intergenerationale Geschichte über Mütter und Töchter

Sie sitzen im Dickicht und weinen. In einem Dickicht aus gegenseitigen Vorwürfen, die den ganzen Raum einnehmen, sich zwischen sie drängen, ihnen die Luft nehmen, in diesem Moment als Valerie am Krankenbett ihrer Mutter sitzt. Denn Christina hat Krebs. Eine neue Realität, die sich so plötzlich, so unwiderruflich in ihre Leben drängt, zu neuer, alter physischer Nähe zwingt und alte Verletzungen wieder aufreißen lässt. Denn Christina war keine fürsorgliche Mutter, war zu sehr mit ihren eigenen Träumen beschäftigt, um zu merken, wie sehr ihre Tochter darunter litt keine Bezugsperson zu haben, die sich um sie kümmerte, und welche Wunden das hinterließ.

„Hätte Mama auch mein Vater sein können, wäre jemand anderer dafür zuständig gewesen, mich zu versorgen, hätte sie unbehelligt von allen häuslichen und emotionalen Verpflichtungen einem Beruf ihrer Wahl nachgehen können, wäre sie wahrscheinlich stabiler gewesen; es hätte gereicht.“

Meisterlich verwebt Felicitas Prokopetz über mehrere Generationen hinweg den Kampf für mehr weibliche Selbstbestimmung mit dem gleichzeitigen gesellschaftlichen Anspruch an Mütter. Es ist nicht nur die Geschichte von Christina und Valerie, sondern auch die Geschichte von Christinas Mutter Martha, von Valeries anderer Oma Charlotte und die Geschichte von deren Müttern. Jede einzelne versucht in ihrer Rolle als Mutter zu bestehen. Jedes Scheitern verursacht Verletzungen. Jede Verletzung resultiert in dem Wunsch der Tochter es besser zu machen als ihre jeweilige Mutter.

Es ist ein wichtiges, ein großes Thema, das Felicitas Prokopetz hier aufmacht und wahnsinnig gut beobachtet beschreibt. Aber es ist auch ein fast zu großes Thema für die wenigen Seiten dieses Buches. Viele Charaktere bleiben skizzenhaft. Viel geschieht in den Zeilen, wenig dazwischen.

Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Autorin mich trotz der starken Message, nicht ganz abholen konnte, mich nicht so berührt hat, wie ich es mir gewünscht hätte. Dennoch ein schönes, leicht zu lesendes Buch, das sehr warmherzig von Müttern und Töchtern erzählt.

Bewertung vom 12.03.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Leise, poetische Suche nach der Mutter im Nichts

Es ist ein Schweigen, in das sich die Mutter immer wieder hüllt. Ein Schweigen, in dem sie versinkt und erst nach einigen Stunden wieder auftaucht. Eine zweite Realität, in der für die Tochter kein Raum ist. Dann stirbt die Mutter und lässt die Tochter zurück - mit einem Nichts. Was weiß sie wirklich über ihre Mutter und was wird nun auf ewig in Vergessenheit geraten?

Mühsam reist die Tochter zurück in die Vergangenheit, verhakt sich in den wenigen Details, die sie aus der Kindheit ihrer Mutter kennt, versucht diese zu verknüpfen, zu füllen mit Leben, eine Geschichte zu entspinnen - die Geschichte ihrer Mutter.

In leiser, poetischer Sprache fängt Christine Vescoli diese Suche nach der Mutter im Nichts ein. Es sind wunderschöne, bildhafte Sätze, die sie aneinanderreiht, miteinander verwebt. Jeder Satz besonders und dadurch für mich leider in seiner Gesamtheit etwas überfordernd, die Bilder, die sie entwirft zu rasch aufeinanderfolgend. Ein Buch, was ich daher empfehlen würde in kleinen Stücken zu lesen, um jeden Satz auf sich wirken lassen zu können. Denn dann verspricht das Buch ein sehr besonderes Leseerlebnis.

Bewertung vom 16.02.2024
Klarkommen
Hartmann, Ilona

Klarkommen


ausgezeichnet

So nah

Es gibt viele Bücher über das Erwachsenwerden, zumindest das zwischen 12 und 18, wenn der Körper sich plötzlich verändert, man anfängt die Lebensweise und das Gesagte der Eltern zu hinterfragen, sich seine eigene Realität aufbaut. Es gibt viele Bücher über die Zeit um die 30, eine Zahl die gesellschaftlich so aufgebläht wird, obwohl sie doch nur das ist - eine Zahl. Es gibt viele Bücher über das Altern, über langjährige Ehen die bröckeln, über Midlife Crisis und Veränderungen der Körper. Worüber es wenige Bücher gibt, ist über die Zeit zwischen 20 und 30, und noch viel weniger, die so wahnsinnig unverfälscht und ehrlich diese Zeit einfangen, sie nicht romantisieren.

Es ist die Zeit, in der man aufblühen soll, in der man wilde Parties feiern soll und den Spaß seines Lebens haben soll, denn schon bald… schon bald sei die Party wieder vorbei, so sagen es die Leute. Diesem Druck fühlen sich Mounia, Leon aber vor allen Dingen die Erzählerin in Ilona Hartmanns neuem Roman ausgesetzt.

“Uns war zu jedem Zeitpunkt schmerzlich klar, dass wir nicht wild genug, nicht jung genug, nicht wütend genug, nicht intensiv genug, nicht verschwenderisch genug unsere Zeit verschwenden.” (S.118)

Sie wollen Abenteuer erleben, doch die Abenteuer scheinen immer woanders, immer in ihrer Abwesenheit zu passieren. Und so hat die Erzählerin das Gefühl die schönste Zeit des Lebens zerrinne zwischen ihren Fingern ohne dass sie etwas dagegen tun könnte, denn der Druck, den sie sich aufbaut, lähmt sie.

Es ist ein mir sehr vertrautes Gedankenkarussell, das das Buch für mich zu einem persönlichen und emotionalen Leseerlebnis gemacht hat. In einer zugleich humorvollen und berührenden Weise fängt Ilona Hartmann, die oft verschwiegene Unsicherheit, das Schlingern und Stolpern in den Zwanzigern ein.

“Wir waren alle nicht alt, aber alt genug, dass aus kleinen Unebenheiten, die vor zwei Jahren noch niemandem aufgefallen waren, nun manifeste Schlaglöcher geworden waren. Auf kurzen Strecken fiel es nicht auf, aber je mehr Zeit verging, desto deutlicher kamen wir bei unseren Ausweichversuchen in verschiedene Richtungen von der Strecke ab.” (S.96)

Eine absolute Leseempfehlung. Jetzt schon eines meiner Lieblingsbücher diesen Jahres. Ein Buch, das ich immer wieder aufschlagen will, in dem ich blättern will und noch viele weitere Stellen unterstreichen will. Denn es ist ein Buch das zugleich unglaublich tröstet und aufrüttelt und einen die eigenen Gedankenmuster reflektieren lässt.

Bewertung vom 12.02.2024
Weiße Wolken
Seck, Yandé

Weiße Wolken


ausgezeichnet

Warmherzige Geschichte über Identität und gesellschaftliche Narrative

Weiße Wolken - die kleinen weißen Flecken auf den Fingernägeln, die entgegen weit verbreiteter Meinung von stumpfer Einwirkung auf die Nägel herrühren. Damit vergleicht Zazie in Yandé Secks Debütroman die schmerzhaften Erfahrungen, die einen prägen, die eigene Identität ausmachen.

Davon gibt es viele bei Yandé Secks drei Protagonist*innen: Zazie, die immer wieder auf ihr eigenes Anderssein als Schwarze in Deutschland zurückgestoßen wird, die ihre Wut über Alltagsrassismus und Sexismus oft nicht zurückhalten kann. Dieo, die mit den gesellschaftspolitischen Diskursen ihrer Schwester nicht mithalten kann, hat sie doch mit ihren Kindern zu viel zu tun. Die gleichzeitig aber ihre eigene Wut über die Verteilung von Care-Arbeit in ihrer eigenen Familie in sich aufstaut. Und ihr Mann Simon, der den gesellschaftlichen Druck übernimmt sich in der Kryptowelt zu behaupten ohne seine eigenen Wünsche zu hinterfragen.

So kreisen die drei Protagonist*innen umeinander, scheinbar absorbiert in ihrer Suche nach ihrer eigenen Identität zwischen gesellschaftlichen Idealen und individuellen Bedürfnissen.

Vieles wird nicht gesagt, viele Gedanken und intuitive Verhaltensmuster von Zazie, Dieo und Simon bleiben den Leser*innen gegenüber genauso unergründlich, wie sie vielleicht für die drei Charaktere selbst sind. Das lässt sie teilweise schwer greifbar machen. Manche Dialoge und insbesondere Konflikte, die genauso schnell gelöst werden wie sie aufgetaucht sind, wirken hölzern und unrealistisch.

Aber wenn man in die Geschichte reingefunden hat, sich an Yandé Secks ungewöhnlichen Erzählstil gewöhnt hat, verspricht das Buch ein schönes, leicht zu lesendes Leseerlebnis, das gleichzeitig wahnsinnig viele gesellschaftliche Diskurse aufgreift und doch so warmherzig und verständnisvoll jede*n der drei Protagonist*innen und ihre unterschiedlichen Perspektiven aufs Leben beleuchtet.

Trotz der teilweise konstruiert wirkenden Dialoge, habe ich das Buch deshalb ins Herz geschlossen und empfehle es sehr, gerade wenn man sich mit dem emotionalen Druck, den gesellschaftlicher Narrative ausüben, auseinandersetzen will.

Bewertung vom 05.02.2024
Spur und Abweg
Tallert, Kurt

Spur und Abweg


ausgezeichnet

Die Unbegreiflichkeit des Grauens

Harry Tallert ist “Mischling ersten Grades”, zumindest wird er dazu gemacht, durch die Nürnberger Rassengesetze, durch die Gefangennahme und Deportation in das Arbeitslager Lenne, wo er bis zur Befreiung 1945 für die deutsche Rüstungsindustrie schuften muss. Es ist ein Stempel, eine Identität, die ihm als Jugendlicher aufgedrückt wird und die ihn sein ganzes Leben bestimmen wird.

Als “Halbjude” zwischen den Stühlen von Opfern und Tätern sitzend, versucht er das Unbegreifliche zu erklären, die Absurdität, die Unmenschlichkeit der NS-Zeit zu verstehen. Ein Unterfangen, dass ihn bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen soll, ihn seinen Schmerz in Alkohol und Schmerzmitteln ertränken lässt.

“Die Einteilung der Menschen in Täter und Opfer und die gleichzeitige Einsicht in die phänomenologische Fragwürdigkeit einer solchen Einteilung ließen meinen Vater zu einer Zeit über die ganze Menschheit stolpern, in der er eigentlich erst einmal eine Person hätte werden sollen.” (S.17)

So beschreibt es sein Sohn Kurt Tallert in diesem Buch, einer Mischung aus Erinnerungen an seinen Vater und seiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem grauenhaften Schicksal seiner Familie während des Holocausts.

Mit viel Einfühlungsvermögen schafft es Kurt Tallert die Verzweiflung seines Vaters zu beschreiben und liefert gleichzeitig einen essenziellen Beitrag zu gesellschaftspolitischen Diskursen der Schuld und Erinnerungskultur. Wo erinnert man sich? Wie anders erinnert man sich, wenn man selbst Holocaust-Opfer in der Familie hat? Und wie geht man mit Schuld in der eigenen Familie um?

Viele Stellen habe ich unterstrichen, oft hat mich das Buch zum Nachdenken angeregt und doch war ich am Ende ratlos, als ich es zuklappte. Kurt Tallert scheint sich im Kreis zu drehen, findet keinen roten Faden in seiner Geschichte. Immer wieder reist er nach Buchenwald, nach Lenne, nach Theresienstadt, versucht die Lücke zwischen Geburts- und Todesdatum seiner Verwandten zu füllen, einen Ort des Erinnerns zu finden, zu begreifen. In seinem Schreibstil spiegelt sich die eigene Verzweiflung wider, das über Generationen vererbte Trauma. Vielleicht muss es deshalb so sein. Vielleicht muss das Buch einen verwirrt und ratlos zurücklassen, denn das Unbegreifliche kann nicht begreifbar gemacht werden. Aber es muss erinnert werden.

Ein, trotz aller Schwierigkeiten den Gedankengängen Tallerts zu folgen, wichtiges Buch! Insbesondere in Zeiten, in denen geschichtsrevisionistische Tendenzen wieder an Zuspruch gewinnen.

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