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QueerLeserin
Wohnort: 
NRW

Bewertungen

Insgesamt 18 Bewertungen
12
Bewertung vom 12.12.2024
Wie Schatten in der Dämmerung
Strange, Laura May

Wie Schatten in der Dämmerung


sehr gut

Worum geht es:
Eine fiktive Welt mit einem Konflikt um Magie. In Daskyen werden Magiebegabte gefürchtet und von der Staatsmacht in einem Schloss eingesperrt, wo sie der dorthin verbannten Obermagierin Dahlya dienen. Als die magischen Kräfte der jungen Tia erwachen, wird sie von der Gardistin Kary aufgespürt und in das Schloss gebracht. Zunächst glaubt Tia, ein neues Zuhause gefunden zu haben, und vertraut Dahlya. Doch mehr und mehr stellt sich die Frage, ob Dahlya wirklich nur Gutes im Sinn hat – und ob Gut und Böse überhaupt so einfach zu unterscheiden sind. Parallel dazu beginnt die Gardistin Kary zunehmend an den Zielen der Garde und deren Chefin – ihrer Mutter – zu zweifeln. Schließlich geraten Tia und Kary zwischen alle Fronten.
 
Was ich gut fand:
Das Buch zog mich mit seiner schönen Gestaltung, seinem emotionalen Schreibstil und dem düster-atmosphärischen Gothic Setting direkt in seinen Bann. Die vielen Konflikte und Wendungen halten die Spannung hoch, sodass ich ständig weiterlesen musste. Tia und Kary waren mir beide sympathisch: Tia als rebellische, eigenständige Person, die sich nichts gefallen lässt und vieles in Frage stellt; und die ehrgeizige und pflichtbewusste Kary, die versucht, ihrer Mutter alles recht zu machen, um deren Wertschätzung zu gewinnen. Cool fand ich die Idee, dass die Magiebegabten durch einen Bann jeweils mit einem Gegenstück verbunden sind, wodurch ihre Magie geschwächt wird, und dass Tia und Kary Gegenstücke sind, was für Kary einen starken Loyalitätskonflikt mit der Garde verursacht. Geschickt werden Tias Zweifel an Dahlya und Karys Zweifel an ihrer Mutter nach und nach aufgebaut. Ebenso die Entwicklung der Beziehung zwischen Tia und ihrer Magielehrerin Meena von Feindschaft zu vorsichtiger Freundschaft. Schön sind auch die vielen queeren Figuren.

Was ich nicht so gut fand:
Das Setting blieb mir teilweise zu vage. Wie funktioniert die Wirtschaft in dieser Welt? Wie und warum werden die Magischen in ihrem Schloss mit lebensnotwendigen Gütern versorgt? Der Staat könnte sie ja auch einfach aushungern? Was machen die Magischen den ganzen Tag im Schloss, außer mit Flammen und Lichtkugeln herumzuspielen? Müssen sie nicht arbeiten?
Wieso kann sich Tia einfach so (mit Gawens Hilfe) in den Königinnenpalast schleichen, wenn so hohe Angst vor gefährlichen Magischen herrscht? Warum werden keine besseren Sicherheitsvorkehrungen getroffen?
Und warum gibt es überhaupt diese Feindschaft zwischen dem Staat und den Magischen, anstatt dass der Staat die Magischen für seine Zwecke einspannt und ihnen z.B. anbietet, in der Armee zu dienen?

Fazit:
Ein stimmungsvoller Dark Fantasy Roman, der spannend und emotional packend ist, für meinen Geschmack jedoch manches zu vage lässt.

Bewertung vom 23.11.2024
Anarchie Déco
Vogt, J. C.

Anarchie Déco


sehr gut

Worum geht es:
Im Berlin des Jahres 1927 müssen sich die Physikerin Nike und der Künstler Sandor zusammentun, um Magie auszuüben, die vor kurzem entdeckt wurde. Denn für Magie braucht es die Kombination von Mann und Frau und von Kunst und Wissenschaft in jeweils einer Person – so zumindest die Lehrmeinung. Die beiden kommen in Zusammenarbeit mit der Polizei magischen Verbrechen und einer Verschwörung auf der Spur. Zugleich stellt Nike zunehmend ihre Geschlechtsidentität in Frage und verliebt sich in die trans Frau Georgette, und Sandor ist zwischen seiner Arbeit für die Polizei und seiner anarchistischen Gesinnung hin und her gerissen.

Wie ich es fand:
In diesem Buch kommen eine Menge Themen vor: Politik, Anarchismus, Magie, Physik, Gender, die Bedrohung durch die Nazis, Antisemitismus, Kunst, Architektur, die Wohnungsnot und die soziale Lage ... Manchmal wirkte das Ganze zu überladen und ging zu sehr zu Lasten des Plots. Anderseits bewundere ich den Mut und die Ernsthaftigkeit, mit der das Autorenpaar solche anspruchsvollen Themen in einem Urban Fantasy-Roman unterbringt.
Das Magiesystem bleibt trotz aller eingestreuten Physikbegriffe für meinen Geschmack etwas zu vage. Ungefähr verstanden habe ich, dass Magie dann entsteht, wenn die Gegensätze Kunst und Wissenschaft und Mann und Frau aufeinander treffen - und dann die coole Wendung, dass diese Gegensätze sich auch in einer Person vereinen lassen und eine einzelne Person Magie wirken kann, wenn man diese starren Grenzen aufgibt. Eine gute Idee, somit das Hinterfragen der Geschlechtsrollen im Magiesystem widerzuspiegeln. Dennoch, wenn man schon mit Physik anfängt, hätte ich genauere Erklärungen gut gefunden; begründet wird die Vagheit damit, dass die Forschung zur Magie eben noch in den Kinderschuhen stecke.
Nike als Protagonistin wirkte auf mich anfangs blass und unnahbar und durch wenig mehr als ihre Ablehnung der weiblichen Geschlechtsrolle definiert. Die Figur bekam dann aber durch die Darstellung der Beziehung zu ihrer Mutter und durch die Liebesgeschichte mit Georgette mehr Tiefe. Sehr schön fand ich die zart und einfühlsam geschilderte Sexszene zwischen Nike und Georgette, in der wunderbar auf Consent geachtet wurde. Gerne mehr davon in der Literatur! Spannend auch die Ausflüge der beiden ins verruchte und queere Nachtleben.
Sandor war mir sympathisch als naiver und leichtsinniger junger Künstler mit dem Herz am anarchistischen Fleck. Allerdings wurde hier meiner Meinung nach Konfliktpotential verschenkt. Ein Anarchist, der für die Polizei arbeiten soll, hätte deutlich mehr Konflikt hergeben können. Stattdessen tanzt Sandor auf zwei Hochzeiten gleichzeitig, ohne dass es Konsequenzen gibt.
Die Auflösung der Verschwörung am Ende kam mir ein wenig zu banal vor. Die komplexen politischen und gesellschaftlichen Probleme reduzieren sich auf nur zwei Antagonisten und deren größenwahnsinnigen Evil Masterplan. Allerdings ist das leider oft so im Krimi, was mich generell an diesem Genre stört. Dennoch hatte das große Finale einige coole Szenen.

Fazit: Ein Buch, das auf faszinierende Weise Magie, Wissenschaft, Politik, Kunst und Queerness im Berlin der zwanziger Jahre vermischt, dabei aber manchmal etwas überladen wirkt.

Bewertung vom 03.11.2024
Die Alchemie des Träumens (eBook, ePUB)
Moor, Iva

Die Alchemie des Träumens (eBook, ePUB)


sehr gut

Worum geht es:
Das Buch spielt im Jahr 1948 in New York, in einer magischen Parallelgesellschaft aus Hexen, Vampiren und Dämonen. Die talentlose Hexe Moira arbeitet als Journalistin. Für einen Artikel legt sie sich mit Vampiren an, wird von diesen entführt und als Lebendfutter in ein Bluthaus gesteckt. Von dort wird sie von der Dämonin Sova befreit. Im Gegenzug verlangen die Dämonen von Moira, dass sie ihnen hilft, einige offenbar entführte Dämonen wiederzufinden. Moira und Sova kommen einer Verschwörung auf die Spur, die sich bis in die Spitzen der magischen Gesellschaft zieht.

Wie ich es fand:
Anfangs ist das Ganze sehr hart. Bei der Episode im Bluthaus musste ich mich überwinden, weiterzulesen, und auch als Moira von den Dämonen rekrutiert wird, geht es nicht gerade flauschig zu. Letztlich ist diese Härte aber realistisch für die kapitalistische Welt, in der die Fabelwesen zurechtkommen müssen, und dabei zusätzlich zur üblichen Geldnot auch noch Blut oder Träume für ihre Bedürfnisse benötigen. Da müssen hässliche Entscheidungen getroffen werden und niemand bleibt moralisch rein.
Im Laufe des Buches wird es aber etwas weniger schlimm und auch mal humorvoll, was als Erleichterung nach der Härte gut tat.
Ich mochte die Dynamik zwischen Moira und Sova – und bin gespannt, ob es zwischen den beiden im zweiten Buch romantisch wird, doch auch als Enemies to Friends ohne Romance gefiel mir die Beziehung gut. Das magische New York wird in vielen Facetten gezeigt und Iva Moors großartiger Schreibstil malt Bilder im Kopf. Schön fand ich die nebenbei eingebaute Queerness: Moira ist lesbisch, Sova bi, und die Anführerin der Dämonen ist eine trans Frau, was von allen Dämonen problemlos akzeptiert wird.

Ein Manko ist, dass das Buch einige Längen hat. Viele der Untersuchungen des Kriminalfalls enden in Sackgassen und hier hätte man meiner Meinung nach einiges straffen können. Meine Vermutung ist, dass der Kriminalfall nur als Vehikel genutzt wurde, um ein möglichst umfangreiches Gesellschaftsportrait a la Victor Hugo zu schaffen. Das ist durchaus interessant, geht aber manchmal zu Lasten der Spannung. Dennoch machten auch die überflüssigen Stellen dank des guten Schreibstils Spaß zu lesen.

Fazit:
Ein schön geschriebener magischer Gesellschaftsroman mit einigen Längen. Gut für alle, die sich gerne in eine Welt ausführlich vertiefen.

Bewertung vom 23.10.2024
Shapes of Diversity
Aranyos, É. R.

Shapes of Diversity


sehr gut

Worum geht es:
Lena und ihre beste Freundin Rebecca machen Urlaub in Florida und lernen dort den Sänger Evan kennen. Dummerweise verlieben sich beide Frauen in ihn. Noch dazu ist Lena in Rebecca verliebt. Das Gefühlschaos wird dadurch vergrößert, dass sowohl Lena als auch Evan Gestaltwandler sind, die sich in Tiere verwandeln können. Zwischen Lena und Evan bahnt sich mehr an, doch die Freundschaft zwischen Lena und Rebecca droht daran zu zerbrechen ...

Was ich gut fand:
Die Mischung aus Romance, Erotik und Fantasy hat mit gut gefallen. Auch mochte ich, wie verschiedenste sexuelle Orientierungen gezeigt werden sowie Neurodivergenzen, was im Anhang noch einmal genau erklärt wird. So leistet das Buch nicht nur Unterhaltung, sondern auch Aufklärung. Einen spannenden Ansatz fand ich, dass die erotischen Szenen mit Symbolen markiert sind, sodass die Lesenden sich entscheiden können, ob sie diese lesen oder lieber überspringen wollen. Außerdem ist die Autorin auch Künstlerin und hat das ganze Buch mit wunderschönen Bildern illustriert.

Was ich nicht so gut fand:
Sprachlich ist noch Luft nach oben. Leider hatte ich den Eindruck, dass trotz Lektorat und Korrektorat einige Rechtschreibfehler im Text stecken. Ich hoffe, dass dies in den kommenden Bänden sorgfältiger gehandhabt wird.

Fazit: Eine gelungene Mischung aus Romance, Erotik und Fantasy, die zudem Aufklärung leistet.

Bewertung vom 17.10.2024
Siebensteinthal
Jehanzeb, Sameena

Siebensteinthal


ausgezeichnet

Worum geht es:
Alte Sagen und Legenden, hinter denen ein wahrer Kern steckt. Mit diesem Buch versucht Sameena Jehanzeb etwas Neues, nämlich einen Episodenroman. Sieben Episoden erzählen von je einer Person, die in der Jetztzeit im fiktiven Siebensteinthal lebt. Das verbindende Element ist ein Buch, mit dem jede der Personen zu tun bekommt: ein altes Sagenbuch, in dem von bösen, menschenfressenden Hexen, Dämonen und Geistern die Rede ist. Und dann zeigen sich diese Kreaturen in der Tat höchstlebendig. Doch dabei bleibt es nicht, denn jede Episode hat einen ganz eigenen Twist. Und so stellt sich die Frage: Sind nicht eigentlich die Menschen die schlimmeren Monster?

Was ich gut fand:
Es sind wohlige Schaudergeschichten mit einem Twist, zum Teil gruselig und düster, zum Teil auch herzerwärmend und tröstlich. Mir gefällt die Verbindung von alten Legenden und unserer heutigen Zeit. Auch mag ich Jehanzebs Schreibstil, mit dem man sich sehr gut in die Figuren einfühlen und die Atmosphäre der Orte spüren kann. Das Buch ist außerdem schön gestaltet mit vielen Illustrationen.

Was ich nicht so gut fand:
Ich habe nichts Größeres zu meckern. Nur die teilweise mitten in einem Absatz springenden Perspektiven haben mich manchmal verwirrt.

Fazit:
Ein gutes Buch für lange, dunkle Herbstabende.

Bewertung vom 11.10.2024
Arabilious
Afifi, Nadia; Saab, Sara; Barber, Jess

Arabilious


sehr gut

Bisher habe ich vorwiegend westliche Phantastik gelesen. Dies wollte ich ändern und habe mir „Arabilious“, eine Anthologie mit arabischer Science Fiction, gekauft.

Worum geht es: Science Fiction-Kurzgeschichten mit arabischem Hintergrund.

Meine Favoriten: „Pan-Humanism: Hope and Pragmatics“ von Jess Barber und Sara Saab. Die Protagonisten entwickeln in Zeiten des Klimawandels die Stadt Beirut und versuchen, den Wassermangel in den Griff zu bekommen. Das Worldbuilding ist abgesehen vom Klimawandel ziemlich hoffnungsvoll. Gleichzeitig ist es eine Liebesgeschichte, in der viele queere Partnerschaftskonstellationen vorkommen.

„The Bahrain Underground Bazaar“ von Nadia Afifi. In einem Bazar kann man die Erinnerungen anderer Menschen erleben, die mit neuralen Implantaten aufgezeichnet wurden. Die an Krebs erkrankte Protagonistin konsumiert die Erinnerungen von Verstorbenen aus dem Moment ihres Todes, um zu entscheiden, auf welche Weise sie sich das Leben nehmen will. Eine bestimmte Erinnerung weckt ihr Interesse und schickt sie auf eine Reise in die Wüste.

In „To New Jerusalem“ von Farah Kader besucht die Protagonistin ihre Heimatstadt, die aufgrund des Klimawandels überflutet wurde und nun unter Wasser liegt. Das Thema Verlust der Heimat passt beklemmend gut zur realen Erfahrung der Palästinenser und anderer vertriebener Menschen, hier verbunden mit einem futuristischen Setting.

In „Exhibit K“ von Nadia Afifi werden Menschen, die in Kryoschlaf versetzt wurden, in einer fernen Zukunft wieder auferweckt. Ein Unternehmen zwingt sie, zur Belustigung des Publikums die Klima-Kriege ihrer Zeit nach zu kämpfen. Die Protagonistin versucht, ihre Autonomie zu bewahren und zu rebellieren.

Fazit: Insgesamt besitzen viele Geschichten etwas Düsteres, das die leidvollen Erfahrungen der realen Welt widerspiegelt, aber auch eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft oder den Versuch, Widerstand zu leisten. Spannend finde ich die Mischung futuristischer Ideen mit Elementen aus den verschiedenen arabischen Kulturen. Ein gutes Buch, um einen Blick über den westlichen Tellerrand hinauszugewinnen. Nur die Sprache wirkt manchmal etwas ungelenk, was an den Übersetzungen liegen kann.

Bewertung vom 11.10.2024
Queer*Welten 12-2024
Tunnat, Yvonne; Schmeink, Lars; Campbell, Jamie-Lee; Schwarz, Kae; Juvenell, Nox; Westkott, Rebecca; Hollarius

Queer*Welten 12-2024


sehr gut

Besonders cool in dieser Ausgabe sind die Microfictions, welche die klassische Heldenreise aus einer queeren Perspektive auf den Kopf stellen. Auch #kurzgeschichten und #essays sind wieder mit dabei.
„Der späte Wurm“ von Rebecca Westkott erzählt von einem postapokalyptischen Szenario, wo Überlebende auf einem Schiff zusammenleben, die allesamt Krankheiten oder Behinderungen haben. Alle nehmen auf diese Einschränkungen Rücksicht, was pointiert mit einer Rückblende auf die heutige Welt kontrastiert wird.

Super fand ich auch „Spargelernte“ von Kae Schwarz, wo die Ausbeutung von Spargelstecherinnen thematisiert wird. Sehr aktuell, da der Spargel ja gerade wieder auf vielen Tellern landet. Der Eigentümer des Hofes wird tot aufgefunden, ein Magier muss mithilfe von Magie den Tod aufklären und stößt dabei auf die miesen Arbeitsbedingungen.
Auch die anderen Kurzgeschichten und Essays waren lesenswert.

Ein paar kleine Kritikpunkte habe ich allerdings auch. So habe ich mich gewundert, dass die Leute in „Der späte Wurm“ weiterhin für ein Gehalt arbeiten und sich freuen, wenn das Gehalt hoch ist. Denn wenn man doch wieder Geld zum Leben braucht, (und das Gehalt eigenmächtig von den Arbeitgebenden festgelegt wird), stellt dies das ganze Szenario in Frage.
In „Spargelernte“ erklärt eine Hexe die geschilderten Missstände mit einer „Maschinerie weißer Männlichkeit“. Das passt nicht so richtig, denn auch eine Frau als Hofeigentümerin und weiße männliche Spargelstecher würden wahrscheinlich zu derselben Ausbeutung führen. Das liegt nämlich nicht am Geschlecht oder der Hautfarbe, sondern am Kapitalismus.
Allerdings ist mir auch klar, dass eine Kurzgeschichte in der Analyse von gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht dasselbe leisten kann wie ein Sachbuch.
Und etwas nerden muss ich auch: Gegenstände fallen im Schwerefeld der Erde nicht mit einer Geschwindigkeit von 9,81 km/h, sondern mit einer Beschleunigung von 9,81 m/s^2.

Bewertung vom 11.10.2024
Sonnenseiten

Sonnenseiten


sehr gut

In dieser Anthologie sind Geschichten versammelt, in denen Solar Punk und Street Art eine Rolle spielen. Für die, die Solar Punk vielleicht noch nicht kennen: das ist ein Sammelbegriff für utopische Zukunftsentwürfe, in denen regenerative Energien verwendet werden. Auch Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg sind zumeist in diesen Entwürfen abgeschafft. Mir hat das entsprechend Utopische in diesen Geschichten gut gefallen. Sich einmal zur Abwechslung in Welten zu träumen, in denen Pflanzen auf Häusern blühen und Solarzellen glitzern, war Balsam für meine von der Realität geschundene Seele. ^^ Welten, die häufig auch sehr queer und divers dargestellt sind.

Zwei Schwierigkeiten ergeben sich allerdings mit dem Setting: Erstens bleibt meist im Unklaren, wie genau eine solche utopische Welt funktionieren soll. Ökonomie und Politik werden in den Geschichten nur am Rande gestreift.

Zweitens standen die Autor*innen vor der Aufgabe, nicht nur Solar Punk, sondern auch Street Art in ihre Geschichten einzubauen. Street Art hat ja eher etwas mit Rebellion gegen die Verhältnisse zu tun. Doch wogegen soll man in einer utopischen Welt rebellieren? Es musste also irgendein Konflikt eingeführt werden, um die Rebellion zu motivieren. Dieses Problem haben manche Schreibende sinnvoll gelöst, bei anderen fühlt sich der Konflikt für mich arg konstruiert an.

Die sprachliche Gestaltung zeigt eine ziemliche Bandbreite: einige Texte sind richtige Perlen, viele sind solide geschrieben, ein paar haben sprachlich noch Luft nach oben.

Insgesamt eine Empfehlung für alle, die zwischen all den real existierenden Dystopien einen Hoffnungsschimmer suchen.

Bewertung vom 11.10.2024
Neongrau
Mira, Aiki

Neongrau


sehr gut

Worum geht es?
Die Geschichte spielt im Jahr 2112 in Hamburg, das wegen des Klimawandels von Fluten und Starkregen heimgesucht wird. Die beiden Jugendlichen Go und Elll verlieben sich und werden in düstere Machenschaften hineingezogen rund um ein Gaming-Turnier. Denn zu dieser Zeit ist VR-Gaming eine riesige Industrie, ähnlich wie heute Fußball. Einerseits droht ein Terroranschlag auf dem Turnier, andererseits will der Konzern, der das Gaming kontrolliert, die menschlichen Spieler durch KI ersetzen, und dann gibt es auch noch eine Hackergruppe, die etwas im Schilde führt. Bedrohlich sind auch die Headsets, die jeder Mensch trägt, und die Gedanken aufzeichnen.

Was ich gut fand:
„Neongrau“ ist ein multiperspektivisch erzählter Gesellschaftsroman, der die Stadt der Zukunft in vielen Facetten zeigt, von der glamourösen Welt der berühmten Gamer bis zum Slum, wo Menschen in schwimmenden Containern leben, und der Unterwelt in aufgegebenen U-Bahntunneln. Mit vielen kleinen Details werden Atmosphäre aufgebaut und Gefühle erzeugt, man kann förmlich den abplatzenden Lack der Slum-Container fühlen. Das Flutwasser, in dem mutierte Ratten leben, macht die Folgen des Klimawandels hautnah spürbar. Eindrückliche Szenen zeigen gesellschaftliche Probleme, z.B. geht eine Frau an Drogenkonsum zu Grunde und erinnert sich an die einzige glückliche Zeit in ihrem Leben, als sie als lebende Schaufensterpuppe arbeiten durfte; und Gos Vater arbeitet als Social-Media-Moderator unter enormem psychischen Druck.
Auch die Charaktere sind interessant und individuell, inklusive Queerness. Z.B. ist Go genderfluid und überlegt, ob sie/er sich einer angleichenden OP unterziehen will. Ich fand auch Gos Mutter Ren eine spannende Figur, die das Dilemma einer Frau zeigt, die ein eigenes Werk schaffen will und nicht in die Mutterrolle passt.
Größtenteils gefällt mir Miras Schreibstil sehr, es gibt viele treffende Vergleiche und Metaphern. Der Text ist im Präsenz geschrieben, was Unmittelbarkeit und Dringlichkeit erzeugt.

Etwas Kritik:
Hin und wieder ist die Sprache arg gestelzt. Es klingt wie ein Produktdatenblatt, wenn technische Geräte beschrieben werden, und die Dialoge wirken manchmal, als würden die Figuren vom Blatt ablesen.
Es war etwas schwer, ins Buch hineinzukommen durch die vielen neuartige Begriffe (auch wenn sie im Glossar erklärt werden) und durch die springenden Perspektiven.
Zu den Zielen und Aktivitäten der Hackergruppe hätte ich mir noch mehr gewünscht. Sie wurde erst groß aufgebaut, kam dann aber doch nur am Rande vor.

Fazit: Insgesamt ein etwas sperriges Buch, das aber mit vielen tollen Details, sprachlichen Perlen und einigen berührenden Szenen belohnt.

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