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Jack Crabb

Bewertungen

Insgesamt 14 Bewertungen
12
Bewertung vom 21.04.2024
The Collective
Gordon,Kim

The Collective


sehr gut

Auf den Wow-Effekt von „No Home Record“ kann Kim Gordon mit ihrem neuen Album nicht mehr bauen. Eher gibt sie uns mit „The Collective“ und seinen von Lärm umhüllten, materialistischen Protz-Beats Erwartbares. Man könnte noch weiter herumnörgeln und ihr unterstellen, den Pop-Zeitgeist um ein paar Jahre verfehlt zu haben, weil Trap mittlerweile vielleicht auch ein bisschen out ist. Viel lieber sollte man sie dafür feiern, dass ihre Musik nicht jene Nostalgie-Veranstaltung sein will, wie die ihres Ex-Mannes.

Das Stirnrunzeln, welches auf ihrem Soloeinstand noch Songs wie „Sketch Artist“ zum Vorschein brachten, bleibt diesmal aus. Im coolen „Bye Bye“ cruist Gordon mit heruntergekurbelter Autoscheibe durch die Gegend und verabschiedet sich von so ziemlich Allem, was uns unsere Überflussgesellschaft zum Leben bereithält. Die Message hinter den Lyrics bleibt zwar eher wage, dafür klingt der Song umso cooler. Und wenn Gordon mit ihren mittlerweile 70 Jahren definitiv an etwas nicht eingebüßt hat, dann an ihrer Coolness. Und ebenso an ihrem Sinn für Humor. In Zeiten von Diskursen über toxische Männlichkeit darf es wohl erst recht auf einem Album des Ex-Sonic Youth-Aushängeschildes nicht an Songs über dieses Thema fehlen. Mit zynischen Zeilen wie „Dropped out of college, don't have a degree. And I can't get a date. It's not my fault!“ zieht sie in „I`m A Man“ über ihr Gegenüber her. Und wenn es nicht wieder Justin Raison wäre, der auf „The Collective“ größtenteils die Beats schmiedet, könnte man auch die Noise-Rapper von Dälek hinter einem Song wie diesen oder hinter Albträumen wie „Psychedelic Orgasm“ vermuten, bei den Schürfwunden, die man hier davon zu tragen droht.

„The Collective“ bietet keine hoffnungsvolle Perspektive in ungemütlichen Zeiten. Viel mehr ist das Album ein ängstlicher Blick in den hässlichen Abgrund unserer Gegenwart. Dementsprechend klingt dann genauso auch die Kapitalismuskritik in „Dream Dollar“: brutales Bassgewitter und eine raschelnde Drummachine in feinster Suicide-Manier. „It`s Dark Inside“ torkelt etwas zu ziellos über die Dreineinhalb-Minuten-Grenze und ist vielleicht auch deswegen der einzige schwächere Song. Nichtsdestotrotz lotet Gordon auf ihrer zweiten Platte noch mehr die grenzen zwischen Lärm und Pop aus. Und sie behauptet sich als endgültig als ernstzunehmende Solokünstlerin. Über ihre alte Band braucht man spätestens jetzt getrost nicht mehr sprechen.

Bewertung vom 01.08.2023
Heavy Heavy
Young Fathers

Heavy Heavy


ausgezeichnet

Was ist eigentlich in den vergangenen fünf Jahren mit den Young Fathers passiert? Ist das hier noch die gleiche Band wie auf „Cocoa Sugar“ oder eine gar völlig Neue? Nach drei interessanten, bemüht experimentellen, aber letztlich unausgegorenen Werken drohten die Schotten ein wenig egal zu werden. Auf „Heavy Heavy“ ist das Dreigespann wie ausgewechselt. Mit einem ungehobelten und unverbrauchten Enthusiasmus hauen sie dem Hörer einen Haufen Hits vor den Latz, für die ihnen vorher das richtige Bauchgefühl fehlte oder einfach der Kopf nicht frei genug war. Den Hip Hop ihres Debüts „Dead“ hatten sie gnädigerweise schon für „White Men Are Black Men Too“ hinter sich gelassen. Und von den hübsch produzierten, aber oft ziellosen Ausuferungen des Vorgängers lassen sie diesmal auch die Finger. Auf „Heavy Heavy“ lassen die Young Fathers Gegensätze mit einer Heftigkeit kollidieren, dass nie Stillstand herrscht. Von konventionellen Songstrukturen nahmen diese Herren zwar schon von Beginn an Abstand, jetzt reduzieren sie sich aufs Wesentliche und sind dabei doch so bissig wie nie. Denn weniger ist, wie man so schön sagt, manchmal eben doch mehr.

Manche Songs hüpfen regelrecht wie Duracell-Häschen durch die Gegend, die ihre plüschigen Lauscher in Richtung TV On The Radio gestreckt haben. „Hear the beat of the drum and go numb“ empfiehlt uns Alloysious Massaquoi in „Drum“ und man kann eigentlich gar nicht anders, als sich von diesen positiven, energetischen Afro-Rythmen hypnotisieren zu lassen. Genauso abgedreht ist „Sink Or Swim“. Grob geschnitzter Rock wie in „Rice“ oder „I Saw“ bleibt dagegen auch auf „Heavy Heavy“ eher die Ausnahme. Am stärksten klingen die Young Fathers auf diesem Album ohnehin immer dann, wenn Alles für ein paar Minuten herunterfährt, die Musik sich langsam wieder aufbäumt, um dann zu explodieren, so wie in „Tell Somebody“ oder „Geronimo“.

Die Briten wollen laut eigener Aussage mit ihrer lebensbejahenden Attitüde in diesen schwierigen Zeiten eine starke Schulter zum anlehnen sein, auch wenn ihre Lyrics meist eher esoterisch, statt politisch anklingen und dem Zuhörer lieber Raum für Interpretationen einräumen sollen, was man nicht schlimm finden muss. „Heavy Heavy“ ist kein Crossover mehr aus Pop, Rap, Noise, Gospel und Allem was je unter dem Begriff „schwarzer Musik“ zusammengefasst wurde, sondern zeigt die Band eigenständiger und musikalisch homogener. Und man kommt nicht von dem Gefühl los, dass Alben wie dieses gerade gnadenlos offenlegen, was dem Rock derzeit alles fehlt, um wieder cool zu sein.

Bewertung vom 02.05.2023
Boxer
National,The

Boxer


ausgezeichnet

Wie wäre es heute einfach mal mit bis spät draußen bleiben? Auf Zehenspitzen durch die Stadt laufen? Oder einen blauen Vogel auf seiner Schulter sitzen haben? Matt Berninger mag vor 15 Jahren bereits an unserer Zivilisation verzweifelt gewesen zu sein, aber er konnte wenigstens schon damals seine Sicht auf sie mit blumigen, beinahe fröhlichen Worten schildern. Dabei will der Sänger von The National den zitierten Song „Fake Empire“ eher als einen ironischen Kommentar zur verkommenen Menschheit interpretiert wissen, der der Sinn für die Wirklichkeit längst abhandengekommen ist.

Zu hören ist er auf „Boxer“, dem ersten Album des Fünfers aus Cincinnati/Ohio mit dem er gegen Ende der 00er-Jahre auf beiden Seiten des Atlantiks kommerziellen Erfolg hatte. Es war aber auch der Moment, in dem sich die Band aus ihrer Komfortzone heraus traute, alte Muster durchbrach und gewissermaßen nun Pop- und Artrock-Band gleichermaßen war. Pop, weil The National es hier erstmals verstanden ihre meist in sich gekehrten Postpunk-Kabinettstückchen in überlebensgroße Hymnen zu verwandeln. Und Artrock, weil die beiden Gitarristen und Zwillingsbrüder Aaron und Bryce Dessner ihre Instrumente mehr wie Absolventen von der Kunsthochschule bedienten, statt den runter gekauten Rocker zu geben.

Vielleicht machten The National auf ihrem viertem Longplayer nicht viel anders als vorher, aber dafür viel wirkungsvoller. „Mistaken For Strangers“, der große Hit des Albums, wirbelt wild durch die Gegend und drängst sich am deutlichsten auf. Das ruhige „Squalor Victoria“ marschiert mit einem dezent militärisch akzentuierten Rhythmus vorne weg. „Green Gloves“, „The Guestroom“ und „Start a War“ klingen hingegen wie große Pop-Gesten von erhabener Schönheit. Eine Eigenheit, die die Band schon früh auszeichnete, war, dass sie musikalisch gewissermaßen „zwischen den Stühlen“ saß, was sie zu Indie-Lieblingen machte. Bislang konnten The National ihr hohes Niveau halten. Spätere Alben mögen vielleicht konstruierter oder pomadiger geklungen haben. „Boxer“ besaß dagegen einfach ein Dutzend schwermütige, brillante Songs.

Bewertung vom 15.03.2023
How Do You Burn?
Afghan Whigs,The

How Do You Burn?


sehr gut

Seit zehn Jahren sind die Afghan Whigs wieder eine Band. Das Versprechen, dass sie mit dem kraftstrotzenden Comeback „Do To The Beast“ 2014 gaben, lösten sie drei Jahre später mit „In Spades“ konsequent ein. Selten klang die Wiederauferstehung alter Alternative-Helden so selbstverständlich wie bei der Band von Greg Dulli. „How Do You Burn?“ fasst nun die letzte (und vielleicht sogar spannendste) Dekade dieser Gruppe perfekt zusammen. Ein paar Schwächen zeigt sie trotzdem.

Greg Dulli ist ein Stehaufmännchen. Zur absoluten Unzeit erscheint im Februar 2020, als weltweit die Corona-Pandemie ausbricht, „Random Desire“, sein erstes Soloalbum. Eine gebuchte Tour musste er absagen. Also luchste er seinem Label einen Vorschuss ab und ging mit den Afghan Whigs noch im September ins Studio. Anfang des Jahres war man fertig, was für das Quintett verhältnismäßig schnell ist. Dabei ist eigentlich jede Platte dieser Combo schon beinahe ein kleines Wunder, weil sich Greg Dulli beständig der perfekten Version seiner Musik nähert. Und immer, wenn man glaubt, dass ihm nichts mehr einfällt, rutscht ihm doch noch ein letztes As aus dem Ärmel. „How Do You Burn?“ ist ein Quasi-Best-Of aus über dreißig Jahren Bandgeschichte.

Es dauert ein wenig, ehe sich in die Vertrauten Klänge der Männer aus Cincinnati in einem überwältigenden Schwall über einen ergießen. „I`ll Make You See Good“ schickt den Hörer mit brütenden Doom-Metal-Riffs erst einmal in die Wüste. Auf ihrer vergangenen Tour eröffneten sie mit diesem Song ihr Set, im Kontext von „How Do You Burn?“ irritiert er eher, da er mit dem Rest so rein gar nichts zu tun hat. So klingt es also, wenn der Frontmann der Afghan Whigs, von dem man auf ewig die romantische Vorstellung hat er könne seine Songs nur in abgedunkelten Räumen (und immer einer Flasche Wein und eine Packung Zigaretten griffbereit) schreiben, einfach mal loslässt und den Retrorocker mimt. Die unberechenbare Dynamik, die schon die letzten beiden Alben auszeichnete, wird hier nicht nur durch solche Momente auf die Spitze getrieben, sondern weil jeder Song von seinen ganz eigenen Vibe lebt. Zusammen gehalten werden sie wie immer von heißblütigem Soul und Dullis geölter Stimme.

Dieser singt immer noch am liebsten über Frauen. Mal anzüglich („Catch A Colt“) oder kurz vorm Kitsch, so wie im soften „Please, Baby, Please“. Der Rumpf der Band untermalt seine Obsessionen so vielschichtig wie selten. Es gibt die typischen Momente, wie sie nur dieser Band gelingen und ein paar trickreiche Twists, so wie in „Jyia“, dass erst etwas uninspiriert vor sich hin torkelt, gen Ende doch noch Feuer fängt. Wenn aber auch hier wieder mit etwas nicht gegeizt wird, dann mit Melodien, die so rein und unverfälscht wie die Sterne am Himmel funkeln. Besonders „A Line Of Shots“, eines der Highlights von „How Do You Burn?“ bringt dann doch wieder die Gänsehaut von früher zurück. Noch schöner wäre es gewesen, wenn Greg Dulli „How Do You Burn?“ besser hätte mischen lassen können. So duellieren sich besonders bei den härteren Gitarrensongs zu viele Spuren um den besten Platz und gehen in diesem viel zu lauten Soundmatsch leider unter. Ein Schönheitsfehler, der nicht darüber hinwegtäuschen wird, dass die Afghan Whigs wieder ein gutes Album hingelegt haben. Auch wenn es etwas hinter seinen zwei Vorgängern zurückbleibt.

Bewertung vom 15.03.2023
Silence Wore A Silver Coat
Sommer,Stella

Silence Wore A Silver Coat


sehr gut

Und wieder einmal erklingen von überall her die Lobeshymnen auf Stella Sommer. Und genauso schnell werden diese sich in den Weiten Profit orientierter Streamingdienste erneut in Luft auflösen. Leider. Aber immer noch lassen sich keinerlei Anzeichen von Müdigkeit bei der Frontfrau von Die Heiterkeit erkennen. Im Gegenteil: „Silence Wore A Silver Coat“ ist bereits das zweite Doppelalbum ihrer Karriere- und ein weiterer Beweis für die schier unerschöpfliche Kreativität dieser Künstlerin. Von der eher beschaulichen Musikszene Hamburgs fühlte sich Sommer schon bald zu eingeengt, so dass sie ihrer alten Heimat 2018 den Rücken kehrte. Seitdem lebt sie in Berlin. In diesem Jahr erschien auch ihr Soloalbum „13 Kinds Of Happiness“ für welches sie zum ersten Mal ins Englische wechselte. Und es scheint so, als ob diese, im wortwörtlichen Sinne, doppelte Flucht der aus Husum stammenden Musikerin endlich die künstlerische Befriedigung gibt, nach der sie so lange gesucht hat.

Längst hat man sich daran gewöhnt, dass sich die gegenwärtige Szene junger Indie-Musiker
viel mehr von Vergangenem inspiriert fühlt. Die Lust an Innovation ist in gewisser Weise einer musikalischen Recycling-Attitüde gewichen. Auch von einem 60er, 70er, 80er, 90er- oder gar 00er-Revival spricht mittlerweile niemand mehr. So kann man die Sturheit Sommers eigentlich nur bewundern, mit der sie seit nun schon drei Alben ihre Liebe für den Pop der 60er und traditionellem Folk frönt. Denn das entspricht, nach eigener Aussage, eher ihrer musikalischen Sozialisation, als der Indiepop von Die Heiterkeit. Schon in ihrer Kindheit hörte sie lieber Oldie-Radiosender oder schwärmte für Bob Dylan oder die Beatles. Stella Sommers feines, zeitloses Songwriting bietet dennoch wenig Anlass für nostalgische Vergleiche.

„Silence Wore A Silver Coat“ mutet anfangs mit seiner Überlänge noch größenwahnsinnig- und nur schwer zugängig an. Auch weil die potentiellen Hits fehlen (der Titeltrack sowie „A Singe Thunder in November“ weisen am ehesten diese Qualität auf). Genau darin liegt aber dessen Stärke. Die 24 Songs bilden ein kohärentes Gesamtwerk, dessen ruhiger Gesamtfluss nie ins Stocken kommt. Dazu trägt auch Sommers strenge Produktionsweise bei, die weniger für Dynamik- aber auch nie für Eintönigkeit sorgt. „Silence Wore A Silver Coat“ erzeugt vielmehr einen Sog aus Schwermut, den man sich kaum widersetzen kann. Nur wenige Songs stechen wirklich hervor, weil diese Frau es meisterhaft versteht ein beeindruckendes Sammelsurium an Ideen zu einem großen Ganzen zu bündeln. Auch deswegen verzichtete sie diesmal darauf, dass komplette Album auf Streaming-Plattformen zur Verfügung zu stellen. Für „Silence Wore A Silver Coat“ muss man sich nämlich Zeit nehmen, um es angemessen zu entdecken.

Bewertung vom 08.02.2023
Die Nerven
Nerven,Die

Die Nerven


ausgezeichnet

„Alles in und um uns `rum ist zum Zerreißen angespannt“: auf ihrem „schwarzen“ Album kommen Die Nerven schmerzhaft auf den Punkt. Musikalisch gehen sie den Pfad, den sie mit ihrer letzten Platte eingeschlagen haben, konsequent weiter. „Die Nerven“ ist ein großes Reifezeugnis und zeigt eine Band, die endlich weiß wo sie hin will.

Was mussten sich Die Nerven in ihren frühen Karrierejahren nicht alles anhören. Das klänge doch alles nach einer Aufwärmung von schön längst Dagewesenem, lautete noch der Tenor, als sie vor gut acht Jahren mit „Fun“ die letzten Andenken an die Hamburger Schule mit aufgekratztem Noiserock der Marke „es soll nicht gut klingen, sondern weh tun“ endgültig hinwegfegten. Es dauerte zwar noch bis zum vergleichsweise eingängigen „Fake“, bis der Letzte eingesehen hat, dass die Stuttgarter im deutschsprachigen Raum die neue Referenz für ohrenbetäubende Gitarrenmusik sind, darin, dass die Erwartungen an ihrem neuen, namenlosen Album groß sein werden waren sich aber diesmal Alle einig. Wie es dem Trio mittlerweile gelingt, die Angst und die Ohnmacht unserer Zeit zu formulieren, lässt sie wichtiger denn je erscheinen. „Die Nerven“ wühlt auf, spendet aber auch Trost.

Mann kommt nicht umhin „Europa“ als einen der bedeutendsten Songs des abgelaufenen Jahres zu bezeichnen. Gerade einmal zwei Monate nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine veröffentlichten Die Nerven den Opener ihres neuen Albums. Zeile für Zeile zieht sich die Schlinge der Gewissheit, dass das Europa, in dem wir in Frieden und Wohlstand sicher leben, auseinander zu fallen droht, am Hals des Zuhörers fest. Der Refrain „Und ich dachte irgendwie in Europa stirbt man nie“ hat das Zeug zu einem modernen Anti-Kriegs-Slogan zu werden. Auch wenn das Trio diese Interpretation wohl nur ungern teilen möchte. Der Text entstand bereits deutlich früher. Umhüllt wird der Song von warnendem, leuchtenden Gitarren-Nebel. „Ein Influencer weint sich in den Schlaf“ (den Titel muss Dirk von Lotzow der Band direkt ins Textbuch geschrieben haben), gibt sich zwar deutlich unlustiger, als wie man vermuten könnte, ist aber ebenfalls ein Indiz dafür, dass die Band bei ihrer Themenwahl den Puls der Zeit fühlt. Gleiches gilt für „15 Sekunden“, wo nur wenige Sätze reichen, um der degenerierten TikTok-Generation den Spiegel vor zu halten. Und man könnte noch weitere Beispiele aufzählen. „Die Nerven“ ist der unbequeme Soundtrack unserer Zeit.

Rockbands, die über die Jahre zu schwächeln beginnen tun dies nicht unbedingt nur weil sie irgendwann anfangen ihre Kanten- sondern auch an Profil zu verlieren. So nicht bei diesem Trio, dass sich von Album zu Album immer mehr traut. Dynamischer und abgezirkelter, aber vor allem melodischer geben sich Die Nerven mittlerweile. Und sie gönnen ihren Songs nun auch das Bisschen Pop, welches ihnen gut tut, ohne sich auch nur einen Moment selbst zu verharmlosen. Das lässt ihre Musik zeitloser denn je klingen. Zum ersten Mal seit „Fun“ arbeitet die Band nicht mit ihrem Stammproduzenten Ralv Milberg zusammen. Stattdessen finden sie in Moses Schneider denjenigen, der der Band alte Dogmen austreibt und ihren mehr Struktur verleiht. Die bisher dominierende Spannung zwischen brachialem Lärm und süßer Melodie löst sich hier in fein arrangiertem Songs auf. Und plötzlich haben Die Nerven Hits.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.07.2022
Yo,Picasso
Fatoni & Dexter

Yo,Picasso


ausgezeichnet

Das kommt also heraus, wenn Männer, die ihr Geld hauptberuflich als Schauspieler (Fatoni) und Kinderarzt (Dexter) verdienen, ihre Karrieren als Rapper mit einem gemeinsamen Album begründen wollen. Die Arbeitsteilung auf „Yo, Picasso!“: Dexter darf produzieren und Fatoni scannt mit 360-Grad-Blick alles, was ihn umgibt und bewegt und erzählt von schlechten Menschen, Mike Skinner, Authentizität und Ignaz Semmelweis.

„Yo, Picasso“ war mehr der plötzliche - als der endgültige Durchbruch für den Münchner Rapper Fatoni. Ein wenig gleicht seine Geschichte der von Wegbegleitern wie Audio88 & Yassin oder Mädness & Döll. Was diese Gruppe eint war und ist der Struggle mit der eigenen Musik und ihr später Erfolg. Etwas, dass auch Fatonis langjähriger Kumpel Juse Ju schon einmal mit der Umschreibung „Indie-Rap“ treffend zusammenfasste. Mit Anfang 30 doch noch zum Berufsmusiker werden? Für Anton Schneider ist das noch lange nicht zu spät. In der Hook von „Benjamin Button“ (der Titel ist eine Anspielung auf einen Film von David Fincher) resümiert er daher: „mit Anfang 20 war ich wack, aber guck mal jetzt, ich werde langsam perfekt.“ Ob man in ihm nun einen Spätzünder oder Newcomer sehen wollte, „Yo, Picasso“ war das richtige Album zur richtigen Zeit.

Ein gut gemeinter Tipp an all jene Rapper, die ihre gesamten Ersparnisse lieber für unterfinanzierte Beats aus dem Fenster schmeißen, anstatt ihren künstlerischen Ausnahmestatus zu hinterfragen und lieber einen Blick über ihren Tellerrand werfen sollten: wie wäre es mal mit einen anderen Produzenten? Und warum nicht ein ganzes Album mit ihm alleine machen? Zum Beispiel mit ihm hier: Felix Göppel, den Meisten besser bekannt unter seinem Künstlernamen Dexter. Eine goldene und eine Platin-Schallplatte für seine Beiträge zu Casper`s „XOXO“ und „Raop“ von Cro konnte er schon einheimsen. Für „Yo, Picasso“ durchforstete er einmal gründlich seine Plattenregal und schuf ein wildes, pulsierendes, aber immer stimmiges Potpurri an Beats, die von rockig bis jazzig reichten.
So manch ein Ü-40-Realkeeper mag geschmeichelt gewesen sein, dennoch war es die jüngere Generation die Fatoni in ihr Herz schloss. Und da sein sprichwörtlicher Tonangeber Dexter seit seinem Album „Palmen & Freunde“ endlich auch das Selbstvertrauen verspürt, sich ebenfalls als Rapper zu präsentieren, darf er dies in „ADHS“ auch einmal zum Besten geben.

Natürlich könnte man Fatoni die üblichen, langweiligen Dinge attestieren, die man guten Rappern halt so nachsagt. Womit er sich aber tatsächlich von seiner Konkurrenz abhebt ist sein um 3 Ecken gedachter Humor und seine aufrichtig auf der Zunge getragene Selbstironie. In „Mike“ bringt er auf melancholische und zugleich witzige Art seine Bewunderung für Mike Skinner von The Streets zum Ausdruck. „Ich bleib immer ein Spinner, der meint, er sei Künstler, doch weiß innerlich, ich werde nie ein Mike Skinner.“ gibt er hier schon fast etwas sarkastisch zu Protokoll und man fragt sich, warum nicht mehr Rapper so wie Fatoni sein könnten. In „Semmelweisreflex“ verzweifelt Fatoni an der Unvollkommenheit unserer menschlichen Existenz und „32 Grad“ mutet erst wie ein böser Witz über die katastrophalen Zustände in den Unterkünften für Geflüchtete während der Flüchtlingskrise in Lampedusa an, ist aber wegen seiner ätzenden Ironie genau das richtige Gift gegen Pegida-Spaziergänger. „Yo, Picasso“ bündelt die Singer-Songwriter-Ambitionen Fatonis mit dessen nerdigem Rap-Skill-Feilereien und lässt den Blick über den üblichen Genre-Horizont nur zu gerne schweifen.

Bewertung vom 27.03.2022
Tonic Immobility

Tonic Immobility


sehr gut

Das erste Tomahawk-Album seit einer Ewigkeit ruft einem mal wieder ins Bewusstsein, was Mike Patton für ein vielbeschäftigter Mann ist. Eine Faith No More-Reunion gab es, zwei Alben mit der Hardcore-Supergroup Dead Cross, eine Kollaboration mit dem Pianisten Anthony Pateras sowie dem Album „Corpse Flower“ mit Jean-Claude Vannier. Den Score zum Horrorfilm „1922“ steuerte er ebenfalls bei und dann war da natürlich noch die Wiederauferstehung der Crossover-Freidreher Mr. Bungle. Eine neue Platte mit Tomahawk sollte für jemanden wie Patton da schon fast eine Rückbesinnung auf dessen Kerngeschäft sein: knallharte Rockmusik ohne Schnickschnack.

Never change a running system: Tomahawk bleiben ein eingespieltes Team. Gitarrist Duane Denison, Trevor Dunn am Bass, Drummer John Stainer und der Mann mit den tausend Stimmen. „Tonic Immobility“ heißt auf Deutsch wortwörtlich so viel wie „...angespannte Unbeweglichkeit“ oder auch Schockstarre. Tot stellt sich hier aber niemand. Tomahawk spielen auf ihrem fünften Album lieber mit ihren Muskeln. Zum Beispiel im heimtückischem „SHHH!“, dass sich erst auf Zehenspitzen anschleicht, um den Hörer in der Hook mit markigen Riffs in den Schwitzkasten zu nehmen. Wehren kann- und will man sich da auch gar nicht. Auch bei Fiesheiten wie „Valentine Shine“ oder „Predators And Scavegers“ behält das Quartett die Ärmel hochgekrempelt und verteilt eine Tracht Prügel. 2021 geben sich Tomahawk härter und weniger experimentell als auf dem verspielten und unausgegorenen „Odd Fellows“ von 2013. „Tonic Immobility“ ist wie ein teurer, maßgeschneiderter Anzug, der über dem gestählten Oberkörper eines Bodyguards spannt: edle Hülle, kompromissloser Inhalt.

Tomahawk wären aber keine 90`s-Alternative-Supergroup aus ehemaligen Mitgliedern u.a. von The Jesus Lizard und Helmet, wenn deren Vita hier komplett außen vor wäre. „Tattoo Zero“ hat einen richtig zickigen Mathcore-Mittelteil und auch „Business As Casual“ erinnert mit einem vertrauten Stakkato-Basslauf an Stainers alte Band. Auch Duane Denisons unverkennbares Gitarrenspiel blitzt an allen Ecken und Kanten. Im letzten Drittel von „Tonic Immobility“ geht es etwas ruhiger zu. Sogar ein bißchen spacig, sowie im dronigen, an einen Soundtrack erinnernden „Eureka“, welches auch eine passende Untermalung für den Film „The Place Beyond The Pines“ gewesen wäre, für den Patton die Musik schrieb. Es ist erstaunlich, wie lange diese Formation mittlerweile Bestand hat. Kein neues Projekt, an dem Patton nach der Auflösung von Faith No More je beteiligt war, hat sich derart verselbstständigt, wie Tomahawk. Und für diesen musikalischen Anker muss man als sein Fan einfach dankbar sein. „Tonic Immobility“ klingt mehr denn je nach einer modernen, eigenständigen Rockplatte, als nach der bloßen Quersumme aller Qualitäten, die die Mitglieder dieser Band einbringen.

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