Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Mikka Liest
Wohnort: 
Zwischen den Seiten
Über mich: 
⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

Bewertungen

Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 24.05.2024
Als wir Vögel waren
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


ausgezeichnet

Der junge Rastafari Darwin lässt seinen Glauben und seine Überzeugungen hinter sich, um als Totengräber zu arbeiten. Auf dem Friedhof trifft er auf Yejide, die von ihrer Mutter die Fähigkeit geerbt hat, mit den Toten zu kommunizieren und ihre Seelen ins Jenseits zu begleiten.

Beide sind komplexe Charaktere, deren respektive Handlungsbögen über die sich entspinnende Liebesgeschichte hinausreichen – und einander dennoch spiegeln. So sucht Darwin nach seinem Vater, der die Familie vor langer Zeit verließ, während Yejides Beziehung zu ihrer zornigen, verbitterten Mutter zutiefst konfliktgeladen ist.

Der Tod ist allgegenwärtig in dieser Geschichte, die doch so bunt und voller Leben ist. Ein Widerspruch? Nein, denn Darwin und Yejide verkörpern das ganze Kaleidoskop des Umgehens damit: Trauer, Wut, Schmerz, Angst – aber auch Versöhnung, Hoffnung, Liebe und Akzeptanz. Yin und Yang: Tod und Leben sind Gegensätze, die sich nicht bekämpfen, sondern ergänzen; eine Ganzheit, die Ayanna Lloyd Banwo in wunderschönen Worten zelebriert. Die Sprache klingt, die Sprache singt in Worten voller Liebe und Wärme …

Die spirituelle Ebene der Geschichte speist sich aus trinidadischen Mythen und Schöpfungsgeschichten. Und so fügt sich das Thema Tod harmonisch ein in den Themenkomplex des Romans: Es geht auch um Liebe, es geht um Familie, es geht um Gemeinschaft. Passenderweise sind die Charaktere für sich genommen schon überzeugend und stark, doch ihr volles literarisches Potenzial entfalten sie erst im Zusammenspiel.

Im Original ist der Roman in Kreolisch-Englisch geschrieben, was eine gänzlich andere ‚Klangfarbe‘ erzeugt, die die Atmosphäre und die lebendige Darstellung der Schauplätze ergänzt und ihnen eine zusätzliche Dimension verleiht. Die deutsche Übersetzerin Michaela Grabinger erzeugt, insofern es möglich ist, einen ähnlichen Sog mit Sprachrhythmus und Takt, was sicher keine einfache Aufgabe war!

«… und sie kommen über sie wie die Flut, wie ein brennendes Haus, wie Erde, die nach Regentagen den Berg hinunterdonnert, zu schwer, um ihre Form zu bewahren. Und sie spürt, dass sie die Arme weit öffnet, den ganzen Friedhof umfasst und noch mehr. Der Regen prasselt auf ihren Kopf, und die Fluten steigen an ihren Beinen hinauf, und sie hält alles in ihren Armen: Ich seh euch. Ich seh das Unrecht, das man euch angetan hat. Ich trink euren Schmerz, bis ich voll davon bin, trink euren Kummer, bis ich voll davon bin, trink eure Freude, bis ich voll davon bin, trink euren Tod, bis ich voll davon bin. Ich schmeck euer Fleisch, ja, ihr wart Fleisch, ich kann es sehen, ich weiß es. Ihr habt geliebt, ja, ich weiß, habt getötet, ich weiß. Du warst hier, ja, ich weiß, und du und du, ihr wart hier. Niemand hat eure Gräber kenntlich gemacht, aber wer zur Erde zurückkehrt, den macht sie kenntlich. Ihr seid nicht vergessen, nein, ihr seid nicht vergessen, nein, ihr seid nicht vergessen, nein, ihr seid nicht vergessen …»

«Als wir Vögel waren» ist ein atmosphärisch dichtes und kulturell reichhaltiges Debüt; die mystische und kulturelle Tiefe der Geschichte entwickelt eine ungeheure Sogwirkung – wenn man sich darauf einlässt. Ich habe das Buch geliebt!

Bewertung vom 18.05.2024
Baumgartner
Auster, Paul

Baumgartner


ausgezeichnet

Was für ein wunderbares, zartbitter-introspektives Buch… Es geht um Liebe, es geht um Trauer, es geht um das Altern, und für mich hatte jede Seite einen tiefen emotionalen Widerhall. Ohne Kitsch. Ohne erzwungene Rührseligkeit. In meinen Augen ist «Baumgartner» ein mehr als würdiger Ausklang für Paul Austers großes Werk.

Wir folgen den Gedanken des 71-jährigen Philosophieprofessors Seymour 'Sy' Baumgartner, der klug und selbstironisch über Vergangenheit und Gegenwart reflektiert, mit einem steten Unterton der leisen Sehnsucht.Vor einem Jahrzehnt ertrank seine große Liebe Anna, und er hat diesen Verlust nie verwunden, tastet sich jedoch vorsichtig heran an ein mögliches spätes Glück.

Der Roman verwendet eine nicht-lineare Struktur und wechselt nahtlos zwischen den verschiedenen Phasen in Sys Leben, was sich meines Erachtens sehr 'organisch' anfühlt: Nicht erdacht, nicht erfunden, sondern entstanden aus gelebter Erfahrung. Das Narrativ konzentriert sich auf innere Konflikte, jegliche Spannung ergibt sich aus Sys Emotionen und seiner Sinnsuche.

Austers Schreibstil ist elegant und poetisch; er verwebt die Themen des Romans in leisem, introspektivem Ton. Es gelingt ihm, einen lebendigen Eindruck von Sys innerer Welt zu vermitteln, die von Erinnerungen und philosophischen Überlegungen erfüllt ist.

Mein Fazit:

Wer charakterorientierte, introspektive Romane schätzt und sich für die philosophische Erforschung der Komplexitäten des Lebens interessiert, wird «Baumgartner» vermutlich ebenfalls zu schätzen wissen. Ich habe den Roman geliebt, und er wird mir ohne Zweifel lange im Gedächtnis bleiben. Mit Paul Auster hat die Welt einen großen Literaten verloren.

Bewertung vom 09.05.2024
Das Geflüster
Audrain, Ashley

Das Geflüster


ausgezeichnet

Dies ist mein zweites Buch der Autorin, und sie konnte mich erneut mit einer feinfühligen Charakterzeichnung und psychologischem Tiefgang überzeugen. Sie schreibt ungemein fesselnd, opfert der Spannung jedoch nie den Anspruch: Der emotionale Widerhall klingt noch eine ganze Weile nach; die Themenkonstellation erscheint immer mal wieder unverhofft am inneren Firmament.

Pssspssspssss … Was flüstert da? Die starren Erwartungen der Gesellschaft.

Wie schon in «Der Verdacht», geht es auch in «Das Geflüster» vor allem um die tiefgreifenden, oft unausgesprochenen Herausforderungen der Mutterschaft und der weiblichen Identität in der heutigen Gesellschaft. Es geht um die Opfer, die Mütter erbringen, ohne dass es ihnen jemand dankt. Es geht um die Komplexität und die Unbilden ehelicher Beziehungen. Und es geht um die feinen Nuancen weiblicher Rivalität und Freundschaft.

Pssspssspssss … Was flüstert da? Die idealisierte Version von Mutterschaft.

Audrain beleuchtet die widersprüchlichen Anforderungen, die an Frauen gestellt werden: Bleibt eine Mutter zu Hause, um sich um die Kinder zu kümmern? Falsch, dann ist sie faul und liegt dem Mann auf der Tasche. Geht sie weiter arbeiten? Auch falsch, dann ist sie eine Rabenmutter.

Pssspssspssss … Was flüstert da? Die internalisierte Misogynie, die Solidarität erschwert.

Verinnerlichte gesellschaftliche Rollenerwartungen fördern nicht nur Unsicherheit und Konkurrenz unter Frauen, sondern untergraben auch ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität. Die Frauen in «Das Geflüster» unterdrücken ihre Zweifel und Sorgen, um die Fassade eines perfekten Lebens aufrechtzuerhalten. Sie ignorieren die Schwächen ihrer Beziehungen – ein Bewältigungsmechanismus, der ihnen ein falsches Gefühl der Kontrolle vermittelt.

Pssspssspssss …

Spannungsroman, Drama, Gesellschaftskritik? Ja. Natürlich geht es in «Das Geflüster» auch um den kleinen Jungen, der aus dem Fenster fiel. Doch letztlich ist er nur das Symptom eines gesellschaftlichen Mangels, den die Mütter meist alleine bewältigen müssen.

Ich möchte diesen Roman allen Leser:innen empfehlen, die sich für die angesprochenen Themen interessieren.

Bewertung vom 23.04.2024
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

Im Jahr 1974 brodeln in Boston die Unruhen, befeuert von der Desegregationskrise der öffentlichen Schulen; durch den Austausch von schwarzen und weißen Schulkindern per Bus soll Integration erreicht werden. Schwarze Kinder sollen nun auf überwiegend weiße Schulen gehen, weiße Kinder auf schwarze Schulen. So gut gemeint das auch klingen mag, so heftig ist doch der Widerstand; der Aufruhr ist bösartig, rassistisch, rabiat. Als wäre das nicht schon genug, um diese Krise zu einem Schandfleck der Bostoner Geschichte zu machen, befindet sich nicht nur die Unterwelt fest im Griff des Verbrecherbosses James »Whitey« Bulger (hier umgenannt in Marty Butler).

Inmitten dieses Chaos ist Mary Pat Fennessy auf der Suche nach ihrer vermissten Teenager-Tochter Jules, die eigentlich auch bald auf eine schwarze Schule gehen soll, aber kurz davor einfach nicht mehr nachhause kommt. Zeitgleich wird Augustus »Auggie« Williamson, ein schwarzer junger Mann, tot aufgefunden, und Augenzeugen sagen, er wurde von vier weißen Jugendlichen gejagt …

Dennis Lehane nimmt uns mit an einen Brennpunkt der amerikanischen Geschichte; es entspinnt sich eine Geschichte der rassistisch motivierten Hetze, der Polizeigewalt, des organisierten Verbrechens. Und des beiläufigen, teils unbewussten Alltagsrassismus von Menschen wie Mary, die sich tagtäglich am Rande der Armut abkämpfen, in ihrer freudlosen Existenz keinen Lichtblick mehr sehen – und einen Sündenbock dafür suchen.

Dass Lehane einer irischstämmigen Bostoner Familie entstammt, verleiht dem Buch sicher einen großen Teil seiner bestechenden Authentizität, insbesondere seiner ebenfalls irischstämmigen Protagonistin Mary. Er nutzt das historisch aufgeladene Setting, um tiefgehende gesellschaftliche Fragen zu erforschen.

Mary ist durchaus ein Charakter, mit dem Lesende mitfühlen können. Sie hat viel verloren in ihrem Leben: ein ermordeter Ehemann, der Ganggewalt zum Opfer fiel. Ein Sohn, der lebend aus Vietnam zurückkehrte, nur um dann an einer Überdosis Heroin zu sterben. Und nun soll sie einfach akzeptieren, dass ihre Tochter weg ist? Niemals. Sie sucht Rückhalt bei ihrer Community – und muss ernüchtert erkennen, dass sie vor vielem die Augen verschlossen hat.

Mary hält sich selbst nicht für rassistisch, obwohl sie sich manchmal beklommen bei Gedanken ertappt, die arg nach Rassismus klingen. Immer dann, wenn sie sich hilflos fühlt, wenn sie Angst hat, wenn sie nicht weiter weiß. Aber sie ist doch gut befreundet mit ihrer schwarzen Kollegin Dreamy, nicht wahr? Schrecklich, dass es ausgerechnet deren Sohn Auggie war, der tot da lag … da lag, wo ihre Tochter zuletzt gesehen wurde …

So verbunden sich Mary manchmal auch wähnt mit «den Schwarzen», letztlich ist diese Verbundenheit eben nur das: Ein Konstrukt, mit dem sie sich besser fühlen kann, obwohl sie keine konkreten Taten walten lässt, um Solidarität zu zeigen. Doch inmitten des Schmerzes und der Angst erlebt Mary durchaus ein inneres Wachstum, hinterfragt den Rassenwahn ihrer Community – und ihren eigenen. Sie ist eine harte Frau, die diese Härte nun auf sich selbst richtet, um ihre eigenen Ansichten nicht länger zu entschuldigen.

Dennis Lehane gelingt es, dass ich beim Lesen mitfühlte und mitfieberte mit dieser kettenrauchenden, verbitterten kleinen Frau, die zu spät versucht, sich aus dem Morast freizukämpfen, den sie erst jetzt als solchen erkennt. Sie wagt es, ihre Tochter über den Schweigekodex der Nachbarschaft zu stellen, und doch bleibt ihr nichts mehr übrig als Rache.

Auch andere Charaktere werden von Dennis Lehane mit feinem Gespür für deren komplexes, oft zwiespältiges Innenleben geschildert; wie Mary ist zum Beispiel auch Detective Bobby Coyne im Grunde ein gebrochener Mensch. Doch im Gegensatz zu ihr sieht er immer noch Gründe dafür, weiterzuleben, es besser zu machen – und Sekunden der Gnade walten zu lassen, auch wenn diese meist kaum mehr bewirken als Tropfen auf dem heißen Stein.

Obwohl es sich hier nicht um einen klassischen Thriller handelt, sorgt die geschickte Verknüpfung von persönlichem Drama und politischem Konflikt dennoch für einen straffen Spannungsbogen, dem ich mich beim Lesen kaum entziehen konnte.

Der Schreibstil ist direkt und wirkungsvoll, macht die sozialen Spannungen der Zeit auf jeder Seite spürbar. In Dialogen, die durchwegs authentisch und realistisch wirken, erweckt Lehane auch zwiespältige Charaktere zum Leben. Problematische Ansichten werden dadurch zwar keinesfalls entschuldbar, aber im Kontext ihrer persönlichen Geschichten und sozialen Umstände ein Stück weit verständlicher.

Der Roman bietet Spannung und Unterhaltung, aber auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen und sozialen Themen. Lehane zeigt Hass als umfassendes System, das Grausamkeit und Gewalt gegen Außenseiter richtet, während es gleichzeitig bereit ist, Freunde und Nachbarn zu opfern. Kein Buch, das man schnell nebenher lesen sollte, aber definitiv ein lohnendes Buch, das ich weiterempfehle.

Bewertung vom 17.04.2024
Die verlorene Zukunft von Pepperharrow
Pulley, Natasha

Die verlorene Zukunft von Pepperharrow


ausgezeichnet

Es handelt sich hier um den zweiten Band einer Dilogie, und ich lege dir, lieber Bücherwurm, dringend ans Herz, erstmal «Der Uhrmacher in der Filigree Street» zu lesen. Erstens wird es ansonsten schwierig, der hochkomplexen Geschichte in diesem Band zu folgen; zweitens ist der «Uhrmacher» ein wunderbar charmanter Roman, den du nicht missen solltest.

Gut. Da das jetzt geklärt ist, lasst uns über «Pepperharrow» sprechen. Dessen Geschichte setzt fünf Jahre nach dem Ende des ersten Bandes ein.

Thaniel Steepleton und Keita Mori reisen mit ihrer Adoptivtochter nach Tokio, wo sie sich mit einer in vielerlei Hinsicht bedrohlichen Situation konfrontiert sehen. Krieg mit Russland wandelt sich von einer Möglichkeit zu einer Wahrscheinlichkeit, und in der britischen Gesandschaft spukt es. Derweil benimmt sich Mori sogar für seine Verhältnisse merkwürdig, und Thaniel hat das Gefühl, dass es in ihrer Beziehung kriselt. Daher stürzt er sich zur Ablenkung in den Auftrag, herauszufinden, was hinter den Geistererscheinungen steckt.

Mori hat Angst. Thaniel sieht Geister. Mori verschwindet. Und den Rest des Buches beschleicht dich das ungute Gefühl, dass dieser Band möglicherweise tragisch enden könnte. …nein, verrat ich nicht.

Eine Wendung folgt auf die nächste, der Plot verästelt sich zusehends… Historische Geschehnisse, politische Intrigen, mystische Gegebenheiten und Steampunkelemente verweben sich, aber der wunderbare Schreibstil und die dichte Atmosphäre halten meines Erachtens alles zusammen. Der Erzählrhythmus ist langsam, aber das ist auch nötig, damit die Geschichte unter ihrer eigenen Komplexität nicht zusammenbricht; es entwickelt sich nach und nach eine tiefgründige Spannung.

Wie im «Uhrmacher» wird die Geschichte auch hier von Charakteren getragen, deren Facetten die Autorin mit wunderschönen, feinen Strichen zeichnet; vieles liegt zwischen den Zeilen und erfordert behutsames Lesen.

Ich hab's geliebt. Und wenn du, lieber Bücherwurm, komplexe Erzähltstrukturen, originelle Einfälle und einen anspruchsvollen Genremix zu schätzen weißt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du es auch lieben wirst.

Bewertung vom 08.04.2024
Mein letztes Jahr der Unschuld
Florin, Daisy Alpert

Mein letztes Jahr der Unschuld


ausgezeichnet

Was ist Unschuld? Wann 'verliert' man sie, wann wird sie einem 'geraubt'? Fragen, die mit prävalenten gesellschaftlichen Erwartungen ebenso verbunden sind wie mit einem tief verwurzelten, erziehungsbedingten Selbstbild. Und dann? Wird aus Unschuld Schuld? Wird aus Unschuld Scham?

Isabel erfährt sexuelle Gewalt. Oder? «Mit ihrem Kommilitonen Zev verbindet sie eigentlich nur Freundschaft, doch irgendwie landen die beiden im Bett.» So sagt es der Klappentext, und verharmlost damit, spiegelt gewollt oder ungewollt die Kluft wider, die Isabel selber nicht überwinden kann.

Sie spricht von Angst, als es passiert. Bittet ihn, zu warten, und wird ignoriert. Erwägt, um Hilfe zu rufen, aber «es passierte ja nichts Außergewöhnliches». Versucht, sich der Situation mental zu entziehen, indem sie an ein Referat über das russische Judentum denkt. Hat sie nein gesagt, wird sie später überlegen? Danach unterhält sie sich ganz normal mit ihm, geht nach Hause.

«Irgendwo tief in mir tat etwas weh, das ich weder sehen noch benennen konnte.»

Sie weiß nicht, was sie denken oder fühlen soll. Doch als sie ihrer Mitbewohnerin davon erzählt, malt die eine plakative Version des Geschehens, übernimmt in gerechtem Zorn das Steuer – und raubt Isabel damit ebenfalls das Recht auf Selbstbestimmung.

Ihr Professor beginnt damit, die zutiefst verunsicherte Isabel mit Lob zu überschütten, und das fällt auf fruchtbaren Boden. Sie weiß, dass er verheiratet ist, als sie sich auf eine Affäre einlässt.

Daisy Alpert Florin beobachtet genau, zeichnet Isabels Gedanken und Gefühle mit feinen Schattierungen. Es wäre allzu einfach, aus der Geschichte ein plumpes moralisches Lehrstück zu machen, doch der Roman verliert nie aus den Augen, dass die Wahrheit ein scheues Tier ist.

Die Stärke der Erzählung liegt meines Erachtens in der nuancierten Charakterisierung der Protagonistin, die erst lernen muss, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und sich gegen Fremdbestimmung zu behaupten. Hier und dort könnte man belehrend den Finger erheben, doch 'Schuld' und 'Unschuld' sind in diesem Kontext wenig mehr als unbedeutende gesellschaftliche Konstrukte.

Bewertung vom 26.02.2024
Was damals geschah
Jewell, Lisa

Was damals geschah


ausgezeichnet

In den 90er Jahren werden in einem scheinbar verlassenen Haus drei verwesende Leichen gefunden – und ein quicklebendiges Baby, das offensichtlich jemand liebevoll versorgt hat… Was ist hier geschehen? Es bleibt vorerst ein Mysterium. Viele Jahre später erbt die junge Libby Jones das Haus, und damit eine ungeahnte problematische Familiengeschichte.

Erzählt aus drei verschiedenen Perspektiven, enthüllt die komplexe Handlung auf zwei Zeitebenen nach und nach die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner. Dabei präsentiert die Autorin unerwartete Wendungen und überraschende Enthüllungen so geschickt, dass sie die Glaubwürdigkeit nie überstrapaziert. Die Spannung gewinnt von Seite zu Seite an Dimension, während Geheimnisse sich wie Puzzleteile zu einem düsteren Bild zusammensetzen.

Die Charaktere, insbesondere Libby, sind so vielschichtig und gut ausgearbeitet, dass sie Leser:innen gut durch das anfangs noch fragile Gerüst der Handlung führen können. Auch die atmosphärische Dichte des Schreibstils und die bildhaften Beschreibungen tragen dazu bei, dass eine stimmige Geschichte entsteht, die irgendwo zwischen Thriller und Familiendrama eine ganz eigene Sogwirkung entfaltet.

Ob nun Familiendrama oder Thriller, «Was damals geschah» war für mich insgesamt ein echtes Highlight.

Bewertung vom 23.02.2024
Schneesturm
Walsh, Tríona

Schneesturm


sehr gut

Tríona Walsh entführt uns auf die irische Insel Inishmore, wo nicht nur das Wetter so geheimnisvoll wie unerbittlich ist. Wir begegnen einer Gruppe ehemaliger Freunde, die sich dort nach zehn Jahren wiedertreffen, um den Todestag eines der Ihren auf positive Weise zu begehen. Darunter befindet sich auch unsere Protagonistin Cara, die Witwe des damals tragisch aus dem Leben Gerissenen, die inzwischen als einzige Polizistin der Insel dauerhaft auf Inishmore lebt.

Die versöhnliche, vorsichtig hoffnungsvolle Stimmung weicht indes schnell einer Aura der Angst und des Misstrauens. Ein unerwarteter Schneesturm schneidet die Insel vollkommen vom Festland ab, kurz darauf wird eine Leiche gefunden… Geschickt webt die Geschichte fortan ein dichtes Netz aus Geheimnissen und Lügen.

Ja, die Ausgangslage ist ein Klassiker der Spannungsliteratur: ein Wiedersehen alter Freunde,ein abgeschiedener Schauplatz, ein Mord… Die Autorin reichert dieses Grundschema jedoch mit atmosphärischer Dichte, irischem Flair und tiefgründigen Charakterstudien an, sodass «Der Schneesturm» mehr zu bieten hat als das Altbekannte. Walshs Prosa fängt die raue Schönheit Irlands meisterhaft ein, und sie beweist ein feines Gespür für Spannung und die menschliche Psyche. Meines Erachtens sind auch langsame Passagen bewusst als Wegmarken einer Geschichte voller Wendungen und Abgründe konstruiert. Das schwankt zwischen Krimispannung und Thrillerelementen, was mir persönlich gut gefällt.

Die Charaktere empfand ich als fein gezeichnet und vielschichtig, obwohl ihre Geheimnisse und Motivationen nicht immer bis ins Detail erläutert werden. Schon nach wenigen Kapiteln hatte ich eine Ahnung, verwarf sie dann wieder, verdächtigte andere Charaktere – und am Schluss stellte sich dann doch heraus, dass ich direkt ins Schwarze getroffen hatte. Nur eine milde Enttäuschung, hatte mich die Autorin doch mehrfach auf Abwege geführt…

Fazit: Eine atmosphärische Geschichte, die mit schwelender Spannung und psychologischer Tiefe überzeugt, sowie einem Hauch von Mystery und irischer Kultur.

Bewertung vom 02.02.2024
No Exit (eBook, ePUB)
Adams, Taylor

No Exit (eBook, ePUB)


gut

Darby Thorne strandet während eines extremen Schneesturms in einer Raststätte mitten im Nirgendwo. Die vier Fremden, die dort ebenfalls den Sturm abwarten, wirken wenigstens nicht unfreundlich. Als Darby sich jedoch in der Hoffnung auf Handyempfang in die Eiseskälte wagt, schaut sie im Vorbeigehen in eines der geparkten Autos – und entdeckt zu ihrem heilosen Entsetzen ein gefesseltes kleines Mädchen…

Darby erwägt, den anderen Anwesenden davon zu erzählen, aber einem der vier Fremden muss das Auto ja gehören, und er könnte bewaffnet sein. Jetzt geht es um alles, denn Darby muss das Mädchen retten, ohne dabei ihr Leben und das der anderen Unschuldigen aufs Spiel zu setzen. Wer hat den längeren Atem? Der Sturm, der Täter, oder Darby? Die Uhr tickt…

Die Grundidee von "No Exit" ist geradezu klassisch: ein isolierter Schauplatz, eine Gruppe von Menschen, unter denen sich ein Monster verbirgt… Das schafft sofort eine beklemmende Atmosphäre, und die ersten Seiten bauen eine solide Grundspannung auf. Die Ausgangssituation ist ohne Zweifel vielversprechend, ihr Potential wurde meines Erachtens aber nicht voll ausgeschöpft.

Ja, Adams gelingt es zweifellos, die intensive Spannung durchweg hochzuhalten! Allerdings wirken einige der Wendungen übertrieben und daher auch unglaubwürdig. Es ist ein bisschen wie bei einer Achterbahnfahrt – aufregend, aber manchmal einfach zu viel des Guten.

Darby ist als Hauptfigur interessant, und ihre Entwicklung im Verlauf der Geschichte ist bemerkenswert. Jedoch fühlten sich einige der Nebencharaktere etwas flach und stereotyp an; ihre Entscheidungen erscheinen manchmal unrealistisch. Ich hätte mir mehr Tiefe und Nuancen in ihrer Darstellung gewünscht.

Der Schreibstil ist flüssig; er erweckt Szenen bildhaft und mit intensiver Atmosphäre zum Leben. Die Dialoge sind indes mal großartig, mal etwas holprig und überkonstruiert.

Fazit:

«No Exit» ist zweifellos ein packender Thriller, der für einige Stunden gute Unterhaltung bietet. Er hat jedoch seine Schwächen in der Glaubwürdigkeit und Charaktertiefe. Insgesamt ein solides Buch, aber kein herausragendes Meisterwerk im Thriller-Genre.

Bewertung vom 28.01.2024
Neuschnee
Foley, Lucy

Neuschnee


ausgezeichnet

Eine Gruppe von neun Freund:innen trifft sich in einer abgelegenen Hütte in den schottischen Highlands, um gemeinsam Silvester zu feiern. Das Treffen nimmt jedoch eine düstere Wendung, als eine:r von ihnen tot aufgefunden wird – während ein Schneesturm sie ohne Erbarmen von der Außenwelt isoliert. Geheimnisse kommen zum Vorschein, Spannungen innerhalb der Gruppe brechen sich ihre Bahn… Es beginnt ein psychologisches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem sich herausstellt, dass jede:r der Freund:innen etwas zu verbergen hat.

Lucy Foley stellt ihren Thriller auf ein solides Fundament: ein isolierter Schauplatz, eine Freundesgruppe, bei der es unter der schönen Oberfläche gärt… Das mag nichts Neues sein, doch «Neuschnee» beweist, dass diese Kombination aus gutem Grund altbewährt ist! Auch in langsamen Passagen ist die Handlung meines Erachetens fesselnd, und die atmosphärischen Beschreibungen der schottischen Highlands tragen zu einer beklemmenden Grundstimmung bei. Mit jeder tückischen Wendung schrauben sich Paranoia und Verzweiflung innerhalb der Gruppe immer weiter hoch.

Das Buch brilliert in meinen Augen vor allem durch die gelungene Konstellation komplexer, zwiespältiger Charaktere, die von der Autorin differenziert ausgearbeitet werden. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten tragen wesentlich zur Sogkraft der Geschichte bei.

Fazit:

Psychologische Spannung, menschliche Abgründe, unerwartete Wendungen, dichte Atmosphäre? Was will man mehr! Bei mir sorgte das Buch für ein entspannendes, spannendes Lesewochenende.