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Gerd @ Literatunten
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Berlin
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Die "Literatunten" diskutieren an jedem letzten Mittwoch im Monat um 20 Uhr im Mann-O-Meter Berlin über ein Buch mit schwulem Bezug. Mitmachen erwünscht! Näheres unter http://literatunten.de

Bewertungen

Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 27.01.2015
Dreihundert Brücken
Carvalho, Bernardo

Dreihundert Brücken


ausgezeichnet

Beitrag im Auftrag von Dennis@Literatunten:
Das Leiden anderer beschreiben
Um meiner Begeisterung freien Lauf zu lassen, sage ich es gleich: Carvalho ist ein großartiges Buch gelungen, dem ich viele Leser wünsche. "Dreihundert Brücken" – das ist eine starke Geschichte, ganz stark erzählt!
Der Autor nimmt uns darin mit in jenen Teil Europas, der ehemals der Sowjetunion angehörte. Kurz nach Beginn des neuen Jahrtausends tobt erneut der Krieg im Kaukasus. Vor dem Hintergrund eines alten Nationalitätenkonflikts erzählt Carvalho vom Ausgeliefertsein an politische Verhältnisse und den Wirren daraus resultierender Biographien. Im Mittelpunkt steht die Geschichte von Ruslan und Andrej – Tschetschene der eine, Russe der andere. Ihre Lebenswege kreuzen sich in St. Petersburg. Hier finden und verlieren sie sich. Denn in ihrer Welt, die der Logik des Hasses folgt, hat die Liebe keine Chance. Erst recht nicht die zwischen zwei jungen Männern. Selbst dreihundert Brücken führen nicht in ein besseres und gemeinsames Leben, überwinden nicht die Abgründe zwischen den Menschen. Die Ereignisse überschlagen sich und enden für beide im ausweglosen Unglück.
Mit ihrem Schicksal erzählt Carvalho zugleich eine jener Geschichten, die im Osten Europas üblicherweise nicht erzählt werden – oder nicht erzählt werden dürfen. Denn Macht bestand schon immer auch darin, festlegen zu können, worüber gesprochen wird. Die gegenwärtigen Entwicklungen in Russland erinnern uns daran, dass es auch heute wichtig ist, diese Geschichten zu erzählen. Mit einem Buch wie diesem kommen sie in die Welt.
Der Roman gleicht einem Puzzlespiel: Anfangs erkennt man nur einzelne Teile, später entdeckt man Zusammenhänge, am Ende ergibt sich aus allem ein Bild. Carvalho erzählt nicht linear, sondern in einem fortwährenden Wechsel der Figuren, Zeiten, Orte und Geschehnisse. So erreicht er nicht nur ein hohes Maß an Spannung, sondern vor allem ein Höchstmaß an Dichte. Es ist erstaunlich, wie viel wir auf eher wenigen Seiten über dieses Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, über die Sehnsüchte und Nöte seiner Menschen erfahren.
Vieles davon erzählt Carvalho wie nebenbei. Zahlreiche Episoden, in denen sich Bedeutsames verbirgt und aus denen sich die existenzielle Tiefe des Romans speist, liegen eher abseits der eigentlichen Handlung. So erfahren wir zum Beispiel gleich zu Beginn des Buches von der Dichterin Achmatowa: "In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jechow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen vor den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Irgendwie erkannte mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage: 'Können Sie das beschreiben?' Und ich antwortete: 'Ja, ich kann es.' Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war."
Was hier in beiläufiger Weise berichtet wird, ist der unscheinbare Auftakt zu einem Thema, das den gesamten Roman durchzieht: Die Idee des Schreibens als einer Möglichkeit des Sich-zur-Wehr-Setzens, als einem Mittel gegen das Erstarren und Überwältigt-Werden. Denn überwältigend sind die Ereignisse in der Welt, die uns hier gezeigt wird. Aber es ist auch die Frage: Wie weit reicht diese Kraft der Sprache, wie weit reicht die Macht der Literatur? Carvalho weiß um das Bedrängende aller Realität und um die Aufgabe, ihrer Unüberschaubarkeit nicht auszuweichen, sondern zu verstehen. Schreiben kann dabei helfen. Lesen kann es auch. Dass aber beides bei Carvalho nicht als ausgemacht gilt, trägt zur nachhaltigen Wirkung seines Buches bei.
Richten wir jene Frage, die der Dichterin Achmatowa gestellt wurde, an Carvalho und fragen, ob er das Leben und Lieben und Leiden der Menschen mit seinen "Dreihundert Brücken" beschreiben kann, so muss die Antwort lauten: "Ja, er kann es" – und wie er es kann! (Und über das Gesicht des Rezensenten huscht ein dankbares Lächeln.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.12.2014
Das Bildnis des Dorian Gray
Wilde, Oscar

Das Bildnis des Dorian Gray


ausgezeichnet

Am 30. Juli 2014 haben sich die Literatunten mit dem Klassiker “Das Bildnis des Dorian Gray” von Oscar Wilde befasst. Die Anwesenden zählen den Roman durch die Bank weg zu den immer noch äußerst lesenswerten Texten. Er ist gut geschrieben, spannend bis zum letzten Buchstaben und hat einen kribbelnd unheimlichen Touch.
Das Strickmuster des Romans entspricht dem klassischen Faust-Stoff: ein anfänglich naiver Protagonist wird durch einen Verführer in die Geheimnisse der Gesellschaft eingeführt und dadurch verdorben. Als literarischer Kniff ganz neu und regelrecht genial ist, dass die zunehmende charakterliche Verderbtheit Dorians nicht an ihm selbst, sondern an seinem Bildnis sichtbar wird.
Etwas unheimlich mutet auch an, dass Wilde im Roman Begebenheiten beschreibt, die verblüffende Parallelen zu seinem späteren Leben aufweisen. Als hätte der Autor in genialer Hellsichtigkeit selbsterfüllende Prophezeihungen von sich gegeben.
Mehr wird nicht verraten – selber lesen!

Bewertung vom 15.12.2014
Wir Tiere
Torres, Justin

Wir Tiere


gut

Vielleicht bin ich ja zu altmodisch für diesen Text. Jedenfalls fand ich ihn nur schwer lesbar. Der Autor versucht in einem Staccato kurzer Sätze das kindlich-jugendliche Rebellentum, das raubtierartige Niegenug, die animalische, unreflektierte Begierde, den unstillbaren Lebenshunger der drei Brüder wiederzugeben. Diese Stimmung kommt ganz gut rüber. Für meine Begriffe leidet jedoch der Lesefluss und damit die Lesbarkeit unter dieser bemühten Kurzsatzprosa. Die Lektüre ist mir zu sehr Arbeit, weniger Vergnügen. Und für diese Arbeit ist mir der Gewinn zu gering.
Ein anderer ist sicher anderer Meinung. Mir hat das Buch nicht gefallen – kann man lesen, muss man aber nicht.

Bewertung vom 15.12.2014
Der Tag des Königs
Taïa, Abdellah

Der Tag des Königs


sehr gut

An den Stil musste ich mich erst etwas gewöhnen: sehr kurze Sätze, häufige Wiederholungen. Wenn man sich jedoch darauf einlässt, ein sehr lesenswertes Buch. Das letzte Kapitel allerdings finde ich überflüssig.

Bewertung vom 15.12.2014
Promises - Nur mit dir (eBook, ePUB)
Sexton, Marie

Promises - Nur mit dir (eBook, ePUB)


sehr gut

Kann eine Frau einen guten schwulen Coming-Out-Roman schreiben? Nach der Lektüre von “Promises” muss ich das wohl mit einem eindeutigen “Ja” beantworten. Ich fand es schon erstaunlich, wie treffend die Autorin das Gefühlschaos schildert, dass man bei der Bewusstwerdung des eigenen Schwulseins durchlebt. Hut ab vor ihrer Fähigkeit, einfühlsam die wachsende Zuneigung der beiden Protagonisten zu schildern, ohne in Kitsch abzugleiten. Alle Achtung, wie sie es schafft, erotische Szenen einzustreuen, ohne Pornografie zu schreiben. Wunderbar auch ihre Art, ein Happy End an den Schluss des Romans zu setzen, ohne fade zu werden. Ein durchaus auch sprachlich gelungenes Buch, dem zum Glück eine gute Übersetzung zuteil geworden ist, und das ich gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 14.12.2014
Im Meer, zwei Jungen
O'Neill, Jamie

Im Meer, zwei Jungen


ausgezeichnet

Des Lesers Wille ist schon manchmal seltsam. Liest er ein Buch mit Happy End, tut er es gern als Kitsch ab; liest er ein Buch mit tragischem Ausgang, wünscht er sich einen glücklichen. Und obwohl mir hätte klar sein müssen, dass dieses Buch schlimm enden wird, habe ich mir doch so sehr ein freudevolles Ende gewünscht. Aber wie denn soll in den Jahren 1915/1916 eine schwule Liebesgeschichte im katholischen Irland ein Happy End finden? Wie soll sie glücklich ausgehen in einem Land, in dem nur wenige Jahre zuvor Oskar Wilde seinen Skandalprozess hatte? Wie soll das gehen, wenn sie noch dazu gleich mehrfach die gesellschaftlichen Klassengrenzen missachtet?
Und doch! Die Akteure in diesem Buch sind mir beim Lesen dieses brillanten Textes allesamt so ans Herz gewachsen, dass ich ihnen die Erfüllung aller ihrer Wünsche gegönnt habe. Da ist der sympathische, von allen geliebte Jim, dessen Freundschaft völlig natürlich zur Liebe reift, die er nie in Frage stellt. Da ist sein geliebter, draufgängerischer und fürsorglicher Doyler – draufgängerisch, wenn es um Geldbeschaffung oder den irischen Freiheitskampf geht, liebevoll-fürsorglich, wenn er seinen Jim beschützen will. Da ist der Dritte im Bunde, der Aristokrat MacMurroughs, wegen “unsittlicher Handlungen” vorbestraft, zunächst hochnäsig und unangenehm selbstbewusst, dann aber im Kontakt mit den beiden Liebenden, vor allem mit Jim, zum beschützenden, freundlichen, sympathischen “MacEmm” werdend.
Auch die Nebenfiguren sind allesamt vielschichtig geschildert, glaubwürdig und plastisch. Ob es sich um den ängstlichen und ein wenig hochstapelnden Gemischtwarenladenbesitzer Mack, Jims Vater, handelt, um die stolze Patriotin Evelyn MacMurroughs oder um die Dienstmagd Nancy.
Wirklich gut geschrieben ist der Text. Lebendig und fesselnd. Der Autor spielt mit Ausdrucksweisen, wechselt vom etwas Gestelzten der MacMurroughs blitzschnell in den sanften Ton der Freunde Jim und Doyler, beherrscht den anheizenden sexuellen Slang ebenso wie das Aufgeregte eines Volksaufstandes.
Nun, dass die Übersetzung und das Lektorat etwas zu wünschen übrig lassen, stört zwar den Gesamteindruck, kann mein Urteil aber nicht beeinflussen: absolut empfehlenswert!