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jennyreads

Bewertungen

Insgesamt 15 Bewertungen
12
Bewertung vom 07.04.2025
Die Gerüche der Kathedrale
Wauters, Wendy

Die Gerüche der Kathedrale


sehr gut

Der Duft der Vergangenheit

In „Die Gerüche der Kathedrale“ entführt Wendy Wauters ihre Leser mitten hinein in das geschäftige, widersprüchliche Leben rund um die Antwerpener Liebfrauenkirche im 16. Jahrhundert – einem Ort, an dem sich das Heilige und das Alltägliche, das Erhabene und das Grobe eng berührten. Statt klassischer Chronologie oder nüchterner Daten präsentiert Wauters einen atmosphärischen, sinnlich geprägten Zugang zur Geschichte.

Das besondere Augenmerk auf Gerüche – von Weihrauch bis Verwesung – ist kein bloßer Gimmick, sondern Teil eines durchdachten kulturhistorischen Konzepts. Dabei gelingt es der Autorin, wissenschaftliche Tiefe mit anschaulicher Sprache zu verbinden. Die Kathedrale erscheint nicht nur als Ort des Glaubens, sondern auch als Spiegel einer Stadt im Umbruch: Handelsmetropole, religiöser Brennpunkt, sozialer Treffpunkt.

Stärken des Buches sind die interdisziplinäre Herangehensweise und die vielen kleinen historischen Einblicke, die das große Ganze greifbar machen. Durch Illustrationen, Abbildungen und begleitende Materialien (wie Festkalender oder Zeittafeln) wird die Lektüre zusätzlich bereichert.

Trotzdem verlangt die Lektüre eine gewisse Offenheit: Wer sich einen klassischen Geschichtsabriss oder ein durchgängig erzähltes Sachbuch erwartet, wird möglicherweise irritiert sein. Der Fokus auf das Atmosphärische bringt zwar Nähe, verzichtet aber teilweise auf tiefere analytische Kontexte oder größere historische Linien.

Insgesamt ist „Die Gerüche der Kathedrale“ ein bemerkenswert anderes Geschichtsbuch – sinnlich, durchdacht und ungewöhnlich in seinem Zugriff. Besonders empfehlenswert für Leser, die an Alltagsgeschichte, kultureller Anthropologie oder dem Leben zwischen den Zeilen interessiert sind.

Bewertung vom 31.03.2025
Was ich von ihr weiß
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


gut

Jean-Baptiste Andreas Roman Was ich von ihr weiß nimmt sich viel vor: Er erzählt die Lebensgeschichte des Bildhauers Mimo, seine künstlerische Entwicklung, seine Beziehung zur freiheitsliebenden Viola und bettet all das in den historischen Kontext Italiens im 20. Jahrhundert ein. Doch trotz dieser vielversprechenden Ausgangslage gelingt es dem Buch nicht immer, eine fesselnde Erzählung daraus zu machen.

Ein zentrales Problem ist das Erzähltempo. Mit über 500 Seiten zieht sich die Handlung stellenweise erheblich. Insbesondere die detaillierten Beschreibungen, die sicher gut recherchiert sind, dominieren den Text so sehr, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen, allen voran die zu Viola, manchmal zu kurz kommen. Viola wird als faszinierende, unkonventionelle Frau eingeführt, bleibt jedoch oft auf Distanz – sowohl zu Mimo als auch zum Leser. Da der Roman aus seiner Perspektive erzählt wird, bleibt sie eine Figur, die er beobachtet, aber deren innere Welt weitgehend verborgen bleibt. Der deutsche Titel Was ich von ihr weiß scheint genau darauf hinzuweisen: Es ist letztlich nur das, was Mimo von ihr versteht, nicht was sie wirklich ausmacht.

Auch die Liebesgeschichte folgt bekannten Mustern: Ein armer, aber talentierter Künstler trifft auf eine reiche, rebellische Adelige, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge auflehnt. Diese Konstellation hätte durchaus Potenzial, doch es fehlt an Überraschungen oder emotionaler Tiefe, die sie über das Klischeehafte hinausheben würden. Die Begegnungen zwischen Mimo und Viola sind oft flüchtig, ihr Verhältnis schwankt zwischen Nähe und Distanz, doch wirklich greifbar wird ihre Verbindung selten.

Ein weiteres Manko ist die Einbettung in die historischen Ereignisse. Zwar wird der Aufstieg des Faschismus thematisiert, doch bleibt er oft eine Kulisse für Mimos persönliche Geschichte, anstatt wirklich in die Handlung integriert zu werden. Während Viola früh die Zeichen der Zeit erkennt, scheint Mimo oft nur reaktiv zu agieren. Hier hätte eine stärkere Auseinandersetzung mit der politischen Dimension der Epoche dem Roman mehr Tiefe verleihen können.

Positiv hervorzuheben ist Andreas Schreibstil. Seine Sprache ist bildhaft und poetisch, ohne ins Überladene abzudriften. Wer sich für kunstvolle Beschreibungen begeistern kann, wird hier auf seine Kosten kommen. Doch wer auf eine packende, emotionale Erzählung hofft, könnte sich an der Langatmigkeit und der distanzierten Figurenzeichnung stören.

Insgesamt ist Was ich von ihr weiß ein ambitionierter Roman mit einer interessanten Grundidee, der jedoch in der Umsetzung nicht immer überzeugt. Die Geschichte verliert sich zu oft in Details und bleibt emotional auf Distanz. Wer sich für das Thema Bildhauerei interessiert und ein Faible für langsame, atmosphärische Erzählungen hat, könnte hier fündig werden – wer jedoch eine fesselnde, tiefgehende Charakterstudie oder eine intensive historische Auseinandersetzung sucht, wird möglicherweise enttäuscht sein.

Bewertung vom 17.03.2025
Der ewige Tanz
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

Zwischen Kunst und Skandal

Steffen Schroeders „Der ewige Tanz“ beleuchtet das Leben der Tänzerin Anita Berber, die in den 1920er Jahren als eine der auffälligsten Figuren der deutschen Kunstszene galt. In einem Berliner Krankenhaus im Jahr 1928, gezeichnet von Krankheit und der Last ihres exzessiven Lebens, blickt Berber auf ihre Jugend, ihre Beziehung zu ihrer Mutter, die Einsamkeit, die sie als Künstlerin begleitete, und ihre größten Erfolge zurück. Durch diese Rückblicke entwirft Schroeder das Porträt einer Frau, die den Tanz zur Kunst erhob und dabei immer wieder zwischen Bewunderung und Skandal hin- und herschwankte.

Der Roman liefert interessante Einblicke in Berbers Leben und die Atmosphäre der Weimarer Republik. Es wird nicht nur das Streben nach Selbstbestimmung und Anerkennung thematisiert, sondern auch die schwierige Balance zwischen Kunst, Ruhm und den persönlichen, oft destruktiven Exzessen, die Berber begleiteten. Die zahlreichen Begegnungen mit prominenten Persönlichkeiten der Zeit – darunter Otto Dix und Marlene Dietrich – verleihen der Erzählung einen historischen Kontext und unterstreichen Berbers Bedeutung als Künstlerfigur.

Allerdings bleibt die Erzählung in ihrer Tiefe und Komplexität etwas auf der Strecke. Der Roman konzentriert sich mehr auf die Fakten und Ereignisse des Lebens von Anita Berber und weniger auf eine tiefere Auseinandersetzung mit ihren inneren Konflikten und der Tragik ihrer Existenz. Der Leser erhält viele historische und biografische Details, doch eine emotionale Nähe zu Berber bleibt oftmals aus.

Schroeders Schreibstil ist präzise und lässt sich gut lesen, doch die Erzählweise wirkt gelegentlich etwas distanziert und geht nicht in die Tiefe, die eine so komplexe Persönlichkeit wie Anita Berber eigentlich verdient hätte. Die Ereignisse und Reflexionen über ihr Leben sind gut recherchiert, aber die Erzählung könnte sich an manchen Stellen mehr auf die Atmosphäre und die Entwicklung der Hauptfigur konzentrieren.

„Der ewige Tanz“ bietet dennoch einen spannenden Überblick über das Leben einer faszinierenden Persönlichkeit und ist für Leser, die an der Weimarer Republik und an der Kunstszene jener Zeit interessiert sind, durchaus empfehlenswert. Wer sich jedoch eine intensivere, emotionalere Auseinandersetzung mit Anita Berber und ihrer Kunst erhofft, könnte das Buch als etwas zu oberflächlich empfinden.

Bewertung vom 17.03.2025
Heimweh im Paradies
Mittelmeier, Martin

Heimweh im Paradies


weniger gut

Verloren im Faktenmeer

„Heimweh im Paradies“ verspricht eine atmosphärische Reise in das kalifornische Exil großer deutscher Intellektueller, allen voran Thomas Mann. Was man jedoch bekommt, ist ein Buch, das in seiner nüchternen Faktenfülle und seinem bemüht kunstvollen Stil kaum über das Niveau einer Aneinanderreihung biografischer Notizen hinauskommt.

Martin Mittelmeier hat zweifellos akribisch recherchiert – das zeigt sich in der Vielzahl an Anekdoten und historischen Details, die er zusammenträgt. Leider bleibt es genau dabei: Das Buch ist mehr ein Register der Ereignisse als ein erzählerisches Werk mit Atmosphäre oder innerem Spannungsbogen. Der Leser wird Zeuge dessen, was Thomas Mann im Exil tat, mit wem er verkehrte, wann er welchen Vortrag hielt – doch das Wie, das Erleben, das menschliche Drama dahinter, bleibt blass. Dialoge? Fehlanzeige. Stattdessen werden Beobachtungen nüchtern wiedergegeben.

Der Stil des Autors wirkt teils gekünstelt, was den Text häufig schwerfällig und verkopft erscheinen lässt. Besonders Leser, die sich nicht tief im philosophisch-literarischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts auskennen, könnten sich rasch verloren fühlen. Die Folge: ein Buch, das intellektuell fordern möchte, aber emotional kaum berührt.

Dabei hätte das Thema Potenzial: Die Begegnungen der Exilanten, die Spannungen zwischen Künstlern und politischen Flüchtlingen, die Frage nach Kunst und Verantwortung in Zeiten der Diktatur – all das ließe sich packend, lebendig und aufwühlend erzählen. Stattdessen liest sich das Buch streckenweise fast wie ein Pflichttext, nicht wie eine lebendige literarische Auseinandersetzung.

Wer ein Faible für biografische Daten und intellektuelle Name-Dropping-Exkurse hat, wird hier bedient. Wer jedoch auf eine fesselnde, literarisch anspruchsvolle und gleichzeitig zugängliche Darstellung des Exils hofft, dürfte enttäuscht sein. Heimweh im Paradies verpasst die Chance, mehr als bloße Exilchronik zu sein – und bleibt letztlich ein trockenes Stück Literaturgeschichte.

Bewertung vom 01.03.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


gut

Familiengeheimnisse und der Preis des Reichtums

Taffy Brodesser-Akner entwirft in ihrem Roman Die Fletchers von Long Island das vielschichtige Porträt einer reichen, jüdisch-amerikanischen Familie, die von einem traumatischen Ereignis aus den 1980er-Jahren – der Entführung des Familienvaters Carl Fletcher – geprägt ist. Jahrzehnte später zeigt sich, wie dieses Erlebnis nicht nur Carl, sondern auch seine Frau Ruth und die drei Kinder nachhaltig beeinflusst hat. Mit einem scharfen Blick für gesellschaftliche Dynamiken und einem Hauch von bitterbösem Humor beleuchtet Brodesser-Akner die Schattenseiten von Privilegien und den Nachwirkungen familiärer Traumata.

Die Handlung beginnt temporeich mit der Entführung Carls und ihrer unmittelbaren Folgen, bevor sich der Roman stärker auf die Lebenswege der drei Kinder Beamer, Nathan und Jennifer konzentriert. Dabei behandelt Brodesser-Akner große Themen wie generationenübergreifendes Trauma, den American Dream, familiäre Dysfunktionalität und soziale Ungleichheit. Der Erzählton schwankt zwischen satirischem Humor und tiefgründigen Reflexionen, was den Roman sowohl unterhaltsam als auch nachdenklich macht.

Die Charaktere sind gut gezeichnet, wenn auch nicht immer sympathisch. Beamer, ein erfolgloser Drehbuchautor, Nathan, ein neurotischer Anwalt, und Jennifer, die mit ihrem Platz in der Welt hadert, kämpfen allesamt mit den Erwartungen, die ihre privilegierte Herkunft an sie stellt, sowie mit den unausgesprochenen Folgen der Entführung ihres Vaters. Trotz ihrer individuellen Konflikte und Geheimnisse wirkt manches vorhersehbar, und einige Episoden – besonders Beamers Exzesse mit Drogen und Affären – ziehen sich zu sehr in die Länge.

Der Roman ist sprachlich gelungen und bietet viele scharfsinnige Beobachtungen über Reichtum und die damit verbundene Isolation, doch die 600 Seiten hätten gut von einer strafferen Struktur profitiert. Manche Szenen wirken überflüssig und die Thematisierung der Entführung bleibt stellenweise mehr Aufhänger als zentraler Aspekt der Geschichte. Dennoch überzeugt der Roman durch seinen satirischen Witz, die bittersüße Absurdität und die universellen Fragen, die er aufwirft: Wie sehr prägt uns unsere Herkunft? Und können Privilegien ein Segen und Fluch zugleich sein?

Die Fletchers von Long Island ist ein ambitionierter Familienroman, der sich mit den großen Themen des Lebens befasst und dabei unterhält und nachdenklich macht. Trotz einiger Längen und stellenweiser Vorhersehbarkeit ist es ein lesenswerter Roman für alle, die vielschichtige Familiengeschichten und Gesellschaftskritik schätzen.

Bewertung vom 24.02.2025
bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
Lovrenski, Oliver

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann


gut

Jugend am Abgrund

Oliver Lovrenskis "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann" will atemlos und brutal ehrlich sein – eine schonungslose Momentaufnahme jugendlicher Rastlosigkeit und Perspektivlosigkeit in Oslo. Die vier Freunde, die zwischen Drogen, Gewalt und einer tiefen, fast verzweifelten Loyalität zueinander gefangen sind, werden als verlorene Seelen einer reichen, aber gleichgültigen Gesellschaft gezeichnet.

Das Buch besticht durch seinen fragmentarischen Stil und eine konsequente Kleinschreibung, die den Eindruck eines rohen, spontanen Erfahrungsberichts verstärkt. Doch genau hier liegt auch eine der Schwächen: Während die Sprache die ungeschliffene Realität widerspiegeln soll, bleibt sie oft floskelhaft und stilisiert. Die Kapitel sind extrem kurz, was zwar die Rastlosigkeit der Charaktere transportiert, andererseits aber auch Tiefe und Reflexion verhindert.

Thematisch bewegt sich das Buch auf vertrautem Terrain: Drogen, Gewalt, kaputte Familien, toxische Männlichkeit und das Gefühl, nicht dazuzugehören. Doch es bleibt oft an der Oberfläche. Die Charaktere verschwimmen ineinander, ihre Schicksale berühren, ohne wirklich unter die Haut zu gehen. Was bleibt, ist ein raues, wütendes Buch, das wichtige Themen anschneidet – aber nicht immer die emotionale Tiefe erreicht, die es anstrebt.

"bruder, wenn wir nicht familie sind, wer dann" ist in temporeiches, stilistisch auffälliges Debüt, das die Schattenseiten einer Jugend im Ausnahmezustand beleuchtet – aber oft mehr Lärm macht, als es wirklich erzählt.

Bewertung vom 10.02.2025
Something Old, Someone New
Rosen, Jessie

Something Old, Someone New


gut

Romantik und Aberglauben

Jessie Rosens Roman Something Old, Someone New verbindet Romantik mit einer Spur Selbstfindung und einer Prise Aberglauben. Die Geschichte dreht sich um Shea Anderson, die sich aufgrund der Warnungen ihrer Nonna weigert, einen vererbten Ring als Verlobungsring zu akzeptieren. Ihre Suche nach der Geschichte des Rings führt sie quer über den Globus – von New York über Italien bis nach Portugal – und bringt sie nicht nur mit der Vergangenheit des Schmuckstücks, sondern auch mit ihren eigenen Vorstellungen von Liebe und Ehe in Berührung.

Die Grundidee des Buches ist charmant und vielversprechend: eine Reise voller unerwarteter Entdeckungen, die romantische Erwartungen hinterfragt und gleichzeitig von der Bedeutung familiärer Prägungen erzählt. Die Schauplätze sind abwechslungsreich gewählt und versprühen einen gewissen Reiz – auch wenn die Atmosphäre der Reise nicht immer so greifbar wird, wie es das Setting erhoffen lässt.

Shea ist eine sympathische Protagonistin, deren Aberglaube und Zweifel sie glaubwürdig und greifbar machen. Allerdings fällt es teilweise schwer, ihre Bindung zu ihrem Verlobten John nachzuvollziehen – insbesondere, da sein Verhalten in Bezug auf den Ring ihre Sorgen kaum ernst zu nehmen scheint. Der Journalist Graham sorgt für eine interessante Dynamik, bleibt aber eher im Hintergrund, als dass er eine große Rolle in der Handlung übernimmt.

Die Erzählweise ist angenehm locker, leidet jedoch unter zu kurzen Kapiteln und einer manchmal sprunghaften Entwicklung. Viele Wendungen passieren zu leicht, wodurch die emotionale Tiefe etwas verloren geht. Wer sich eine klassische Liebesgeschichte mit großem Charakterwachstum erwartet, könnte hier etwas enttäuscht werden, da sich die Geschichte eher episodenhaft entfaltet.

Obwohl das Buch unterhaltsam ist, bleibt es insgesamt recht vorhersehbar und bringt wenig frischen Wind in das Genre. Für Fans von leichten, romantischen Geschichten mit einem Hauch von Mystery und Familiengeschichte könnte Something Old, Someone New dennoch eine unterhaltsame Lektüre sein.

Bewertung vom 03.02.2025
Berauscht der Sinne beraubt
Kirakosian, Racha

Berauscht der Sinne beraubt


gut

Erforschung der Ekstase

Ekstase ist ein faszinierendes Thema – ein Zustand zwischen völliger Hingabe und Kontrollverlust, der in unterschiedlichsten Kulturen und Epochen eine bedeutende Rolle spielte. In Berauscht der Sinne beraubt widmet sich Racha Kirakosian diesem Phänomen aus einer kulturhistorischen, religiösen und medizinischen Perspektive. Das Buch bietet einen tiefgehenden Blick darauf, wie ekstatische Erfahrungen in der Antike selbstverständlich waren, während sie in der Moderne zunehmend als irrational abgetan werden.

Inhaltlich ist das Werk detailliert und fundiert, allerdings auch stellenweise schwer zugänglich. Der wissenschaftliche Stil mit vielen Fachbegriffen und historischen Quelltexten kann den Lesefluss erschweren, insbesondere für diejenigen, die ohne Vorkenntnisse in die Materie eintauchen. Besonders zu Beginn wirkt die Fülle an Informationen beinahe erschlagend. Wer eine moderne oder interdisziplinärere Betrachtung erwartet, könnte sich zudem an der starken Fokussierung auf religiöse und mittelalterliche Aspekte stören.

Das wohl größte Hindernis für potenzielle Leser dürfte jedoch das Cover sein. Mit seinem grellen, überladenen Design könnte es leicht falsche Erwartungen wecken und schreckt möglicherweise diejenigen ab, die sich für eine seriöse wissenschaftliche Auseinandersetzung interessieren.

Trotz dieser Schwächen bietet Berauscht der Sinne beraubt spannende Einblicke in ein Thema, das in der Wissenschaft oft übersehen wird. Wer sich nicht von der dichten Sprache und den vielen historischen Exkursen abschrecken lässt, kann hier eine tiefgehende Analyse einer außergewöhnlichen menschlichen Erfahrung entdecken.

Bewertung vom 03.02.2025
Digitale Diagnosen
Wiesböck, Laura

Digitale Diagnosen


gut

Social Media Diagnosen

Laura Wiesböck nimmt in Digitale Diagnosen den wachsenden Trend unter die Lupe, psychische Gesundheit in sozialen Medien immer stärker zu thematisieren – und dabei oft mit Diagnosen zu jonglieren, die früher ausschließlich in der Fachwelt diskutiert wurden. Begriffe wie „Trauma“, „triggern“ oder „toxisch“ tauchen ständig auf, oft in einem Kontext, der wenig mit ihrer eigentlichen Bedeutung zu tun hat. Das Buch hinterfragt, wo die Grenze zwischen Aufklärung und problematischer Vereinfachung verläuft.

Die Autorin schreibt klar und verständlich, ohne zu sehr ins Wissenschaftliche abzudriften. Sie liefert eine kompakte Analyse, die viele relevante Aspekte anspricht, von der „Sad Girl Culture“ bis hin zu den Gefahren von Fehldiagnosen durch Influencer. Gleichzeitig bleibt das Buch relativ kurz, wodurch manche Themen eher angerissen als tiefgehend beleuchtet werden. Einige Argumente wiederholen sich zudem im Laufe des Textes, und gegen Ende scheint der rote Faden nicht mehr ganz so deutlich.

Während die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema wertvolle Denkanstöße liefert, schwingt mitunter eine recht persönliche Perspektive mit. Dadurch wirken einige Passagen eher wie ein gesellschaftspolitisches Statement als eine neutrale Analyse. Wer sich ein möglichst vielschichtiges Bild des Themas wünscht, könnte hier eine breitere Einbindung unterschiedlicher fachlicher Sichtweisen vermissen.

Insgesamt ist Digitale Diagnosen ein interessantes Buch mit einer wichtigen Fragestellung. Es regt zum Nachdenken an und bietet einen guten Einstieg ins Thema, bleibt aber in manchen Punkten eher an der Oberfläche. Wer sich intensiver mit der Rolle von Social Media in der Diskussion um psychische Gesundheit beschäftigen möchte, wird sich möglicherweise noch weitere Lektüre wünschen.

Bewertung vom 26.01.2025
Sing mir vom Tod
Pochoda, Ivy

Sing mir vom Tod


sehr gut

Spannend und düster

Ivy Pochodas Sing mir vom Tod ist ein intensiver Roman, der die Dunkelheit im Inneren seiner Charaktere erforscht. Die Geschichte dreht sich um zwei Frauen – Florence „Florida“ Baum und Diosmary „Dios“ Sandoval – die sich im Gefängnis von Arizona begegnen und auf Bewährung entlassen werden. Statt eines klassischen Thrillers steht hier jedoch die psychologische Entwicklung der Figuren im Vordergrund.

Florida gibt sich zunächst als Opfer der Umstände aus, doch ihre ehemalige Zellengenossin Dios weiß es besser. Dios erkennt die Schattenseiten Floridas, die sie vor sich selbst zu verbergen versucht, und ist entschlossen, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren – koste es, was es wolle. Die Handlung entwickelt sich zu einer tödlichen Jagd durch die glühend heißen Landschaften von Arizona bis in die trostlosen Straßen von Los Angeles, wo die Ermittlerin Lobos, ebenfalls eine Frau mit einer düsteren Vergangenheit, auf sie wartet.

Pochoda ist es gelungen ihre Protagonistinnen vielschichtig und komplex zu zeichnen. Florida wirkt auf den ersten Blick unscheinbar, doch nach und nach wird klar, dass ihre Vergangenheit ebenso düster ist wie die von Dios. Dios selbst ist faszinierend und beunruhigend zugleich. Detective Lobos, deren Perspektive ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, erweitert die Erzählung um eine weitere Facette.

Interessant ist dabei, wie Pochoda sich von stereotypischen Geschlechterrollen löst: Sie zeigt, dass auch Frauen zu extremer Gewalt fähig sind, und konfrontiert Leser*innen mit unbequemen Fragen über Schuld, Macht und die Grauzonen zwischen Opfer und Täter.

Der Schreibstil von Pochoda ist eindringlich und fängt die düstere Stimmung der Geschichte ein. Die bedrückende Hitze Arizonas, die chaotische Enge der Zeltstädte in Los Angeles und die isolierende Stimmung der Corona-Pandemie werden lebendig und fast greifbar. Der Wechsel zwischen verschiedenen Perspektiven wirkt allerdings manchmal etwas verwirrend, und die Handlung zieht sich teilweise in die Länge. Dennoch bleibt der Roman durchgehend intensiv und fesselnd.

Sing mir vom Tod ist ein interessanter Roman, der mit den Erwartungen an das Thriller Genre bricht. Das Buch punktet durch seinen Schreibstil und die Tiefe der Figuren, verliert jedoch etwas an Dynamik durch Längen und einen manchmal überladenen Perspektivwechsel. Dennoch ist es eine interessante Lektüre für alle, die nach etwas Düsterem und Nachdenklichem suchen.

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