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textinprogress_by_caro
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Willich

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Insgesamt 5 Bewertungen
Bewertung vom 26.02.2024
Paris Requiem
Lloyd, Chris

Paris Requiem


ausgezeichnet

Ein Kriminalroman, der diese Bezeichnung wirklich verdient! Denn hier wird tatsächlich ermittelt: Inspecteur Eddie Giral geht auf die Straße, befragt Zeugen und trifft sich mit Informanden, er kombiniert klug und vertraut auf seinen Instinkt – ganz ohne technischen Firlefanz. Das ist auch kaum möglich, denn wir befinden uns im Kriegsjahr 1940, in von den Deutschen besetzten Paris. Eddie wird zu einem Mordfall gerufen, der nicht nur auf eine skrupellose Bande der Banden hindeutet, in der die deutschen Besatzer ebenfalls involviert sind, sondern der ihn zusätzlich in seine eigene Vergangenheit versetzt. Chris Lloyd webt in „Paris Requiem“ eine vielschichtige Kriminalgeschichte mit historischen Fakten.

Mit Zuckerbrot und Peitsche – so lernt Eddie, unser Ich-Erzähler, die deutschen Besatzer kennen, allen voran Hochstetter, den Major der Deutschen Abwehr, mit dem er gezwungen wird zusammenzuarbeiten. Eine Kollaboration, die lediglich darauf ausgerichtet ist, dass die französischen Polizisten ihr eigenes Volk kontrollieren und die Ordnung aufrechterhalten sollen. Eddie und seinem Kollege Boniface liegt aber viel mehr daran, den grausamen Mord an einem eigentlich in Fresnes einsitzenden Dieb aufzuklären. So stellen sich ihm mehr als nur die Frage, wer der Mörder ist, sondern auch, wer die Macht hat, ihn und einige andere Verbrecher aus dem Gefängnis zu entlassen, wem der Mörder mit dem Toten eine Warnung schicken wollte und wie die Deutschen damit zusammenhängen. Denn je weiter seine Ermittlungen gehen, je mehr er entdeckt, dass sich eine Bande der Banden aufbaut, die viertelübergreifend und skrupelloser als je zuvor operiert, desto mehr interessieren sich die Deutschen für ihn – und nicht nur die Wehrmacht. Der SD und die Gestapo verfolgen und verhören ihn.

„Ich erinnerte mich an Dominique, die mir vorgeworfen hatte, mich für das einzige Opfer des Kriegs zu halten. Natürlich war ich das nicht. Aber ich war ein Opfer. Ich war so angeschlagen und windschief wie die Kugel, ich hatte die Orientierung verloren.“

Die Ereignisse um den Mord erwecken seine eigenen tief vergrabene Vergangenheit, seine Zeit als Rausschmeißer im Jazzclub, seine große Liebe, sein Sohn und allen voran seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg, die Schützengräben und das deutsche Gefangenenlager. Diese Zeit hat ihn stark geprägt, verhärmt und isoliert. Doch sein Kampfeswille ist noch da und so versucht er alles, um für seine zurückgelassenen Freunde da zu sein, sich ihre Vergebung zu verdienen.

„Weißt du, Eddie, du bist kein schlechter Mann. Du vergisst nur manchmal, ein guter zu sein.“

Deutlich wird, dass während des Kriegs und der Okkupation es zwei Wege gibt zu handeln: Wegschauen und kooperieren wie Eddies Chef oder Widerstand leisten und für das Gute einstehen. Eddie kann natürlich seine Füße nicht stillhalten. Ihm wird aber bewusst, dass es in einer solchen Zeit nicht nur schwarz und weiß gibt, dass er auch mit den Grauschattierungen arbeiten und auf seine Freunde und Verbündete vertrauen muss, um etwas zu erreichen – vielleicht sogar das kleinere Übel wählen muss...

Chris Lloyd hat mit dem zweiten Eddie Giral einen vielschichtigen spannenden Krimi vorgelegt mit unerwarteten Wendungen, berührenden Schicksalen eingebettet in traurig erschreckenden historischen Ereignissen. Es hat ein paar Seiten gebraucht, bis ich mich an den Schreibstil gewöhnt habe, und auch einige unnötige Rechtschreibfehler haben mich abgelenkt, aber ich wurde mit einer richtig klugen Geschichte belohnt! Für klassische Ermittler-Fans ein Muss!

Bewertung vom 03.11.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


sehr gut

Die Rentiere sind Dreh- und Angelpunkt des Romans, stellen die Lebensgrundlage sowie Geschichte und Kultur der Sámi dar, dem letzten indigenen Volk Europas. Rentierhaltung beruht auf einer langen Tradition, viele Sámi haben für dieses Recht gekämpft. Die Rentiere rufen jedoch nicht nur Liebe und Zuneigung bei den Sámi hervor, mit ihnen ist auch ein einsames Leben, Mühsal und Verzicht verbunden. Bei der ansässigen schwedischen Bevölkerung provozieren sie zudem Missgunst, Hass und Gewalt. Die Sámi werden ausgegrenzt, erfahren Rassismus und Benachteiligungen – eine Spaltung der Gesellschaft, die von Generation zu Generation weitergetragen wird. Elsa sieht den sinnlosen Neid und Hass auf ihr Volk, möchte es beenden und ein friedliches Zusammenleben, verlangt aber auch Gerechtigkeit für ihre Rentiere.

Die Handlung setzt 2008 ein, als die 9-jährige Elsa den Mörder ihres Rens erwischt. Die Angst vor ihm lässt sie schweigen. Ein Verdacht besteht zwar – jeder im Dorf weiß, was vor sich geht –, aber ohne Beweise oder Augenzeugen verläuft die Anzeige bei der Polizei im Sande. Dies verdeutlicht die Ohnmacht der Rentierhalter und die Zweiklassengesellschaft. Die Polizei bzw. der Staat schreibt der Wilderei und dem Rentierdiebstahl einen geringeren Stellenwert zu, Tatorte werden selten begutachtet, Beweise kaum gesichert oder analysiert. Die Polizeibehörde ist überwiegend untätig. Laestadius schildert Missgunst, Vorurteile und Unverständnis der Dorfgemeinschaft gegenüber den Sámi. Akzeptanz und Respekt füreinander fehlen. Anfeindungen in Form von Drohanrufen, Unterstellungen, Gewalt wachsen, je mehr die Sámi für ihre Rechte einstehen. Die Autorin zeichnet ein düsteres Bild, das durch die Perspektive der Wilderer weiter verdunkelt wird.

Der zweite Teil spielt im Spätherbst 2018. Elsa kehrt nach ihrem Abitur auf den elterlichen Hof zurück. Sie sehnt sie nach der freien Natur und den Rentieren. Als erste Frau des Sameby verschreibt sie sich völlig der Rentierzucht, entscheidet sich für ein Leben mit Rentieren und ohne Ehemann oder Partner, da kein Sámi sie in dieser Rolle dulden würde. Das Volk der Sámi ist patriarchalisch geprägt, Rollenerwartungen sind zu erfüllen. Männer und Söhne tragen die Verantwortung für die Zucht, Frauen kümmern sich um Haus, Hof und Kinder. Elsa und ihre Freundin Minna brechen aus diesen Rollen aus, wollen Veränderungen in den konservativen Strukturen der Sámi-Gemeinschaft herbeiführen. Elsa findet ihre Stimme, handelt, beweist sich als fähige Rentierzüchterin.

Elsas Zwiespalt schildert Laestadius eindrücklich. Selbstbewusst, mutig, erzürnt über die rohe Gewalt gegenüber den Rentieren durch die Wilderer kämpft sie dagegen an. Doch erwächst gleichzeitig tiefe Angst vor den Reaktionen ihrer Gegner. Denn sie erfährt Beleidigungen und Drohungen – nicht nur von der Dorfgemeinschaft, sondern auch seitens ihres eigenen Volks.

Im dritten Teil, Frühlingssommer 2019, kommt es zu einem Showdown. Die Spannung steigt, die Auflösung ist überraschend. Vor allem die beiden letzten Teile des Romans sind weniger von einer Familiensaga geprägt, sondern haben Ähnlichkeit mit einem packenden Krimi oder Thriller. Der erste Teil fällt im Vergleich dazu leider etwas ab. Ich finde ihn trotz der sehr gefühlvollen Einblicke zu ausschweifend. Gerade die Erzählung aus der Perspektive der 9-jährigen Elsa ist über diese Länge teilweise mühselig. Ich hätte diesen Teil zugunsten der erwachsenen Elsa gekürzt, da die Handlung erst mit der agierenden Elsa Fahrt aufnimmt.

Über allem schwebt das Thema Klimaveränderung. Regen im Februar, wechselhafte warmkalte Temperaturen im Winter, brüchiges Eis, heiße Sommer, verschwindende Weideflächen durch das neue Bergwerk. Veränderungen, die sowohl Tiere wie auch Menschen beeinträchtigen. Ein weiteres großes Thema sind die Auswirkungen solch langer, dunkler Winter auf die Psyche des Menschen. Eindrücklich beschreibt Laestadius die harte Arbeit der Samen, deren zurückgezogenes einsames Leben. Kälte und Dunkelheit führen häufig zu Depression und Alkoholkonsum. Selbstmord ist nicht selten. Aufgezeigt wird, dass die staatliche Hilfe nicht auf die Sámische Lebensweise ausgerichtet ist. Sie werden nicht verstanden, stehen somit alleine.

Fazit:
Einfühlsam, bewegend und authentisch schildert Laestadius ein kaum beachtetes Volk, deren Lebensweise und Liebe für die Rentiere und bringt uns so eine Lebensart im Einklang mit der Natur näher. Besonders gefallen haben mir auch die ruhigen Schilderungen der Landschaft, Stille und Weite der Natur sowie der Einsamkeit – ganz ohne verklärte Winterromantik. Trotz einiger Längen lesenswert!

Bewertung vom 01.09.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

Ein so passender Titel! Katie Kitamura beschreibt in „Intimitäten“ so eindrücklich, gefühlvoll und psychologisch vertieft von zwischenmenschlichen Beziehungen, von Nähe und Distanz, von Wahrheit und Geheimnis, von Sicherheit und Unsicherheit, von Geborgenheit und Fremde. All diese Aspekte vereinen sich in der namen- und gesichtslosen Protagonistin des kleinen Bandes. Wir tauchen ein und kommen der Hauptfigur und ihren Aufgaben als Dolmetscherin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sehr nahe. Sie gibt uns tiefe Einblicke in das Handwerk des Dolmetschens, ist nicht nur Vermittlerin des Gesagten, sondern baut auch eine intime Beziehung zwischen Sprecher (sie nimmt dessen Ich-Position ein), vor allem aber zwischen Dolmetscher und Empfänger auf, da sie für ihn spricht.

Kitamura balanciert zwischen dem Großereignis am Internationalen Gerichtshof, dem Strafprozess eines Staatsmannes, dem u. a. Genozid vorgeworfen wird, und der titelgebenden Nähe und Verbundenheit im Kleinen. Sie zeichnet den Kontrast zwischen Sensationellem und den Feinheiten, den Details vor allem der Sprache. Die Protagonistin bringt uns ihr Verständnis von Sprache näher, die Mängel und Vorteile einer Übersetzung sowie das Zwischensprachliche. Beim Dolmetschen überträgt sie nicht nur die Worte, sondern auch die Intention, Tonalität und Darstellungsweise und hat somit Einfluss auf die Aussagekraft beispielsweise von Zeugen. Ein leichtes Zögern in einem „Ja“ kann bereits Zweifel hervorrufen. Intimität sehen wir aber auch wachsen in der unmittelbaren, persönlichen Übersetzung, im Einflüstern des Übertragenen ins Ohr des Empfängers. Spannend!

Neben den sprachlichen Tiefen beeindruckt ihre Beobachtungsgabe von Gestik, Mimik, Körpersprache und Gruppendynamik, durch die sie ein ums andere Mal intime Situationen interpretiert. Sie deckt die Wahrheit auf, liest in den Macht- und Dominanzgebaren, erkennt Schauspiel und Täuschung sowie Verheimlichtes und Geheimnisse.

Gerade der Prozess um den Ex-Präsidenten, der für Völkermord verantwortlich sein soll, ist wahnsinnig spannend. Dabei verfolgen wir jedoch nicht den Prozess an sich, die Argumente von Verteidigung und Anklage, sondern erleben ihn durch die Beobachtungen und Erlebnisse der Erzählerin. Wir begleiten sie zu den Gerichtsverhandlungen, die sie dolmetscht, sowie zu Besprechungen der Verteidiger mit dem Angeklagten. Das Übertragen der Worte der Verteidiger und das In-Worte-Fassen der Gräueltaten des Angeklagten bringen die Protagonistin und ihre Objektivität ins Schwanken. Ohne darauf Einfluss zu haben, entwickeln sich durch diese intime Situation des Sprechens für ihn und der Nähe zu ihm Intimität und Verständnis. Die steigende Verbundenheit mit dem Ex-Präsidenten und ihre wachsende Abgestumpftheit gegenüber seiner Gewalt führen am Ende zu einer gewissen Gleichgültigkeit. Dies beschämt die Protagonistin, weckt sie auf und lässt ihr Leben überdenken.

Eine weitere Besonderheit ist das Fehlen von Dialogen, der direkten Rede. Das ist – wenn man genau darüber nachdenkt – gerade in einem Buch, in dem es vor allem um das gesprochene Wort geht, um Sprache und Pointierung, sehr ungewöhnlich. Trotzdem bin ich direkt in den Lesefluss gekommen, denn dieses Fehlen gerade im Schriftbild führte bei mir zu Nähe, Intimität und Verbundenheit mit den Figuren. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die konturlose Hauptfigur, über die wir sehr wenig erfahren und trotzdem eng mit ihr verbunden sind. Diese Aussparung steht im Kontrast zu den vielen detaillierten Beschreibungen im Roman.

Fazit
„Intimitäten“ ist kein stringent fortlaufender Roman, in dem es um die großen Themen geht. Von Bedeutung sind die Feinheiten, Nuancen und kleinen, intimen Details, die die Erzählerin aufdeckt und klug und einfühlsam verwebt.

Bewertung vom 28.01.2022
Milch Blut Hitze
Moniz, Dantiel W.

Milch Blut Hitze


ausgezeichnet

Im Gegensatz zu dem positiven, farbenfroh strahlenden Cover geht es in diesem Erzählband „Milch Blut Hitze“ der US-amerikanischen Autorin Dantiel W. Moniz um die „Schattenseiten des Sunshine State“, um Menschen aus der unteren Gesellschaftsschicht Floridas. Im Mittelpunkt stehen Mädchen, Teenager, Frauen, die außerhalb der typischen „weißen Welt“ leben. Diese Ausgrenzung macht die Autorin aber nicht unmittelbar zum Hauptthema. Sie wirkt eher unterschwellig in Anspielungen, Vorurteilen, Rollenklischees oder festgelegten Ansichten. Dadurch lassen sich die Storys übertragen, ermöglichen Identifikation unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, jeder anderen Zugehörigkeit. Diese Subtilität in vielfacher Hinsicht ist kennzeichnend für die Autorin.

Moniz‘ Porträts sind aufrichtig, authentisch, realistisch. Es könnte eine Geschichte von mir sein, von meiner Freundin, von meiner Nachbarin. Sie sind so nah. Ich bin direkt in die Figuren abgetaucht, konnte durch die Innensicht ihre Gefühle nachvollziehen, mich mit ihnen identifizieren. Es erschreckt, ängstigt, zugleich stärkt es und macht Mut. So kurz ihre Geschichten sind, hallen sie doch lange nach. Sie machen nachdenklich, verlangen nach Interpretation, nach eigenen Überlegungen. Sie deuten aber nur an, geben nichts vor.

Mich hat von der ersten Seite an Moniz‘ Sprache in ihren Bann gezogen. Sie schreibt fließend, präzise und leicht verständlich. Die Ausdrucksweise jeder einzelnen Story passt sich der Erzählerin an, ich höre ein Mädchen, eine junge Frau, eine Studentin und eine Mutter sprechen. Moniz geht auf ihre Figuren ein und verleiht ihnen ihre Stimme. Ihre Sprache ist nüchtern, einfach, aber wortgewaltig, mit wunderschön bunten Wortkreationen und steht wie das Cover im Kontrast zu der düsteren Thematik. Vor allem in der ersten Kurzgeschichte hat mich die fantasievolle, aber klare Sprache begeistert.

Ich bin begeistert! Moniz‘ „Milch Blut Hitze“ ist eine erstaunliche Sammlung von eindrücklichen Geschichten, die zum Nachdenken anregen, einen aber nicht mit einem schlechten Gefühl zurücklassen. Sie geben auch Mut und strahlen Zuversicht auf eine gewisse Weise aus. Diese Storys lege ich jeden ans Herz!

Bewertung vom 06.01.2022
Im Auge des Zebras / Olivia Holzmann Bd.1
Kliesch, Vincent

Im Auge des Zebras / Olivia Holzmann Bd.1


sehr gut

»Kannst du die Wahrheit ertragen, auch wenn sie furchtbar ist? Oder ziehst du die Ungewissheit vor? Wählst du den Feind, gegen den du kämpfen kannst, oder den Wind, den du niemals zu greifen bekommen wirst, der dir aber auch nichts anhaben kann?«

Meine Entscheidung: immer für die Wahrheit, auch wenn sie schmerzhaft ist. Denn Ungewissheit kann noch viel schlimmer sein. Und dass es so ist, zeigt uns Vincent Kliesch in seiner neuen Auftaktreihe um die Hauptkommissarin Olivia Holzmann in »Im Auge des Zebras«. Olivia muss einen verzwickten Mord- und Entführungsfall lösen, in dem der Mörder nicht den Gesetzen der Physik folgt. Übersteigt dieser mysteriöse und rätselhafte Fall Olivias Fähigkeiten? Kliesch komponiert einen sehr klugen Psychothriller mit spannenden Details und interessanten, überraschenden Wendungen.
Mir gefällt, dass trotz allem Olivia den Hauptpart spielt. Wie viele Serien und Romanreihen gibt es, in denen eine schlaue, geniale Person mit hoher Auffassungsgabe die Rätsel alleine löst, und die ihm umgebenden Personen nur als Statisten dienen?! Diese weibliche Ermittlerin ist zwischen den vielen Genies (auch im LKA sitzen wohl nur beeindruckende Persönlichkeiten!) erfrischend, gar bodenständig und bietet damit dem*der Leser*in eine Identifikationsfläche. Sie ist eine tatkräftige, gewissenhafte und kluge Kommissarin. Vielleicht fehlt mir an ihr noch ein Makel, eine Schwäche, die sie menschlicher und fehlbar erscheinen lässt. Die Unsicherheit, dass ihre Ermittlerfähigkeit nicht genügt, um die Kinder zu retten, ist für mich noch nicht ausreichend. Ich bin gespannt, wie in den nächsten Fällen die Figur Olivia weiter Kontur annimmt, sich entwickelt und vielleicht nun unabhängig von Boesherz die Fälle löst.

Die Täterfiguren hat Kliesch ebenfalls sehr gut konstruiert. Der*Die Leser*in schaut ihnen in die Tiefe ihrer Seele. Kliesch zeigt mit ihnen auf, dass die Welt nicht in Schwarz und Weiß, nicht in Gut und Böse einzuteilen ist und dass auch ein Mörder Lasten zu tragen hat. »Wir haben alle unseren Rollstuhl. Du hast nur das Glück, dass man deinen sehen kann!« Die Grauschattierungen machen den Menschen aus. Ein vermeintlich schlechter Mensch kann sich auch für die Rettung fremder Kinder einsetzen. Er kann positive Züge haben, andere lieben, sich um sie kümmern und umsorgen. Auch Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist und die unsichtbare Wunden davongetragen haben, die nicht so einfach heilen, stehen womöglich näher an der Grenze zum Bösen. Sie sind vielleicht dadurch eher geneigt, ihr Leid mit dem Leid anderer zu vergelten. Umgekehrt sind sie aber auch in der Lage, das Böse als das Böse zu erkennen und sich für einen anderen Weg zu entscheiden.

»Du bist stark, vergiss das nie! Das Zebra ist ganz genauso in dir wie dieser bösartige Parasit. Und es kann ihn besiegen. Wenn du es willst.«

Ein guter Thriller lebt ja davon, dass der*die Leser*in erst am Ende erfährt, wer der Mörder ist. Kliesch geht einen anderen Weg. Bereits in der Mitte des Buches legt er offen, wer der Mörder ist, indem er zumindest den Mörder – noch unerkannt – zur Sprache kommen lässt. Damit werden einige lose Fäden der Geschichte miteinander verflochten. Diese Zusammenhänge führen bereits in Richtung der Auflösung (leider teilweise sehr offen). Ich bin mir auch jetzt noch nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finde. Es hat die Spannung und das Tempo erhöht, gleichzeitig hat es aber auch das Mysteriöse der Geschichte genommen.

Für mich standen bereits sehr früh bestimmte Figuren unter Verdacht. Leider haben sich genau diese Vermutungen bestätigt (Wenn eine Beziehung zu perfekt erscheint, sie aber unausgeglichen ist, dann ist sie zu schön, um wahr zu sein – und es verbirgt sich noch mehr dahinter). Der Täter und seine Motivation waren für mich recht früh auszumachen. Das Spannende an diesem Thriller aber waren vor allem die Herangehensweise und die Gedankenwege von Olivia und Boesherz bei den Ermittlungen genauso die verstrickten Verbind