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Benutzername: 
Taina
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 9 Bewertungen
Bewertung vom 18.11.2024
Mordscoach
Pabst, Lilli

Mordscoach


weniger gut

Der Krimi von Lilli Pabst beginnt zunächst durchaus komisch, da die sich ständig selbst reflektierende, achtsame, psychologisch versierte Ich-Erzählerin Sophie Stach ihren Klienten Nils Bergmann einerseits mit den Augen der Psychotherapeutin, die weiß, was sie zu denken hat, andererseits als Sophie voller Abscheu betrachtet. Der erste Satz lautet: ‚Nils Bergmann ist eine fette Qualle.‘ Das ist ein fulminanter Auftakt und sicherlich nicht das, was sich Menschen wünschen, die eine Therapeutin aufsuchen.
Diese Zweigleisigkeit Psychotherapeutin/Mensch zieht sich durch den gesamten Roman und wird mehrfach thematisiert. Sophie spricht achtsam und bedacht, handelt jedoch spontan und emotional, zum Teil auch kalt und berechnend. Sie bringt, mehr oder weniger unbeabsichtigt, die Geliebte ihres Mannes um und ‚muss‘ dann in der Folge noch mehrfach zum Mord greifen, um einerseits ihre erste Gewalttat zu vertuschen, andererseits sich selbst als Therapeutin zu beweisen. Sie ist selbst in Behandlung, da sie die psychische Gewalt, die ihr in ihrer Kindheit durch ihre Mutter angetan wurde, aufarbeiten will, und sie hat es offenbar bitter nötig. Sie erklärt fachkundig, was bei ihr gerade vor sich geht – und kann dann doch nicht aus ihrer Haut. Sophie lügt und mordet munter weiter, obwohl sie doch so gut ausgebildet ist und in der Lage sein sollte, Konflikte anders zu lösen. Dabei, und dieses Kunststück vollbringt die Autorin, ist die Erzählerin nicht durchweg unsympathisch, man glaubt ihr wenigstens zum Teil die Zwangslagen, die sie zu ihren Handlungen treiben.
Der Grundgedanke dieses Buches ist amüsant, die Ereignisse werden bis ins Groteske gesteigert. Leider stellt sich durch die Redundanz, mit der hier erklärt, belehrt, kommentiert wird, ein gewisser Ermüdungseffekt ein. Die nächste Wendung scheint vorhersehbar, jedenfalls in groben Zügen. Der Mord an dem Freund einer Klientin ist unnötig und passt nicht wirklich gut in die Handlung, ein Weniger wäre hier mehr gewesen. Was überhaupt für den Roman gilt: Eine straffere Handlung, also Kürzung, wäre zuträglich gewesen. Zudem ist er nur oberflächlich lektoriert, das beginnt damit, dass der Ehemann auf dem Klappentext Jörn heißt, im Buch selbst Jakob, dass Fehler wie ‚vorrübergehend‘ durchrutschen oder dass Sophie sich vorstellt, dass das Objekt ihrer Begierde ‚bestimmt kleine schwarze Haare über (?) seinem Sixpack‘ hat, wobei aus dem Kontext hervorgeht, dass sie tiefer denkt. Auch die Häufung des Wortes ‚toxisch‘ verstört. Hier wirkt doch alles sehr schnell dahingeschrieben, auch musste jeder Einfall irgendwie untergebracht und zu einem neuen Handlungsstrang aufgebläht werden. Die zum Teil sehr vulgäre Sprache ist zwar modern, wirkt jedoch recht aufgesetzt.

Bewertung vom 17.09.2024
Medusa / Mythen der Monster Bd.1
Marsh, Katherine

Medusa / Mythen der Monster Bd.1


sehr gut

Ein Roman für ältere Kinder (ab 12 Jahre), der spannende Einblicke in die griechische Mythologie bietet. Hier wird diese auf den Kopf gestellt, da es um die Frauen geht, die nur allzu oft eine untergeordnete Rolle inne und wenig zu sagen haben. Katherine Marsh hat mit Ava und ihren Freundinnen Fia und Layla Protagonistinnen erschaffen, die stets auf die Rollen der weiblichen Gestalten Wert legen und sich dann durch ihre eigenständigen Aktionen in große Gefahr bringen.
Es beginnt mit einer alltäglichen Erfahrung von Mädchen in der Schule: Obwohl Ava sich gemeldet hat, wird Owen, der sich vordrängelt, bevorzugt. Ava ist wütend und es geschieht etwas Unerwartetes, woraufhin die Mutter Ava und ihren älteren Bruder Jax sofort auf der Accademia del Forte in Venedig anmeldet – ein weiter Weg von ihrem Zuhause in Amerika. Es soll sich nach Aussage der Mutter um ein Internat für besonders begabte Kinder handeln, was sich auf eine originelle Weise als richtig erweist. In der Accademia tauchen Ava und Jax viel tiefer in die griechische Mythologie ein, als sie sich das hätten träumen lassen. Ava findet in Fia und Layla Freundinnen und in Arnold einen guten Freund. Die Freundinnen wollen wie sie nicht hinnehmen, dass stets nur von den männlichen Göttern gesprochen wird und die Frauen eigentlich nichts zu sagen haben. Es beginnt eine aufregende und rasante Handlung mit vielen Aktionen, bei denen es um Leben und Tod geht. Dabei muss sich die sich Freundschaft der drei Mädchen sowie des Jungen Arnold beweisen, und wenn Freunde in Not sind, dann wachsen sogar Flügel – im wörtlichen Sinne. Selbstverständlich unterstützt auch Jax seine kleine Schwester.
Die mythologischen Gestalten werden durch die verschiedenen Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer verkörpert. Gut, dass sich im Anhang des Buches ein Glossar befindet, in dem auch Erwachsene immer wieder nachsehen können, wer auf dem Olymp welche Rolle innehatte, über welche spezifischen Fähigkeiten verfügt und wie das Verwandtschaftsverhältnis der weit verzweigten Familie der Gottheiten war. Dies ist nicht nur spannend, sondern äußerst lesbar und unterhaltsam geschrieben und bringt den Leserinnen und Lesern die Göttinnen, Götter und eben auch die Monster sehr nahe. Die Idee von Katherine Marsh, diesen eine konkrete Person auf der Accademia zuzuordnen, hilft beim Verstehen und Behalten.
Was allerdings auffällt, sind die vielen Anleihen bei Harry Potter: Schon der Empfang auf der Accademia präsentiert ein Bankett, das stark an die Szene im Stein der Weisen erinnert, nur, dass hier eben kein gebackener Kürbis, sondern italienische Spezialitäten serviert werden. Die Freundschaft, bei der die Jugendlichen ihre unterschiedlichen Fähigkeiten zusammentragen müssen, um zum Erfolg zu gelangen, hat viele Anklänge an J.K. Rowlings Erfolgsroman, wenngleich man zugeben muss, dass sie selbst mit Fluffy eine Inkarnation von Zerberus geschaffen und ihrerseits viele Mythen aufgegriffen hat. Diejenigen Leser, die mit Harry Potter gut vertraut sind, werden weitere Parallelen schnell aufspüren.
Insgesamt ein aufregender Roman, der die Interessen der Jugendlichen bedient. Auch das Internat ist ja seit Hanni und Nanni vor über 80 Jahren ein immer wieder gern gelesener Ort – es entspricht dem Wunsch der Heranwachsenden nach Ablösung von den Eltern und einer Peer Group, in der sie sich erproben können.

Bewertung vom 28.08.2024
Das Wesen des Lebens
Turpeinen, Iida

Das Wesen des Lebens


ausgezeichnet

Ein lange von dieser Erde verschwundenes Tier, die Stellersche Seekuh, bildet das Leitmotiv des außerordentlich lesenswerten Romans von Iida Turpeinen. Das Schicksal dieser Tierart steht für unzählige, deren Knochen wir heute in wenigen Museen finden können – und die nur selten unsere Aufmerksamkeit erhalten.
Das riesige Geschöpf, das der Naturforscher Georg Wilhelm Steller auf einer Expedition mit Vitus Bering im Nordmeer im Jahre 1741 vorfand, zieht sich als roter Faden durch den Roman. Ohne Arg, ein Pflanzenfresser, schutzlos dem Menschen ausgeliefert. Rückblickend heißt es: … ‚die erste verschwundene Art/…/ die den Menschen gezwungen hat, in den Spiegel zu blicken.‘ (298)
Der Körper der Seekuh hilft der Mannschaft Berings zu überleben, Bering selbst stirbt. Steller erkennt, dass er auf eine seltene, fast mythische Art gestoßen ist, eine Meerjungfrau, ein Manati – es existieren verschiedene Namen. Er vermisst das riesige Tier genau, kann das Skelett aber nicht mit nach Europa nehmen, wie er gehofft hatte. Nach Stellers Tod bleiben nur die Aufzeichnungen erhalten.
Der Roman springt in das Jahr 1859 zur Südostküste Alaskas, wo Gouverneur Furuhjelm das Skelett einer Seekuh in seinen Besitz bringt – einer der letzten. Sie sind bereits ausgestorben, denn sie wurden um der Pelze willen gejagt, gleichzeitig griffen die Menschen in die Nahrungskette ein und nahmen den Tieren die Möglichkeit zu überleben.
Der nächste Sprung führt nach Helsinki in das Jahr 1861, als der Anatomieprofessor von Nordmann das verblichene und unvollständige Skelett der Seekuh abzeichnen lässt und damit ein Buch illustriert. Noch immer sind viele Menschen ‚nicht bereit zu glauben, dass der Mensch in der Lage sein soll, eine andere Art auszulöschen‘ – also in den Spiegel zu schauen. (249) Das Skelett landet schließlich im Tierkundemuseum von Helsinki, wo John Grönvall, der sich eigentlich dem Vogelschutz verschrieben hatte, es in den 1950ern neu zusammensetzt, da die Forschung inzwischen fortgeschritten ist und neue Erkenntnisse in die Arbeit einfließen.
Spannend und informativ führt Iida Turpeinen ihre Leser/innen durch die vergangenen Jahrhunderte. Ihr Verdienst ist es, aus diesen Fakten nicht nur ein berührendes Sachbuch, sondern ein großes Stück Literatur zu machen. Die historischen und wissenschaftlichen Sachverhalte sind eingebettet in eine Romanhandlung, in der die Menschen lebendig werden, deren Schicksale mit dem des Tieres auf die eine oder andere Weise verknüpft sind.
Eindringlich und ohne zu belehren beschreibt die Erzählerin die Zusammenhänge und lässt dabei eine große Empathie erkennen: ‚Sanftmütig und ohne Furcht‘ ist das riesige Tier, als es Steller begegnet. Turpeinen nutzt vorrangig kurze, prägnante Sätze, die eine starke Sogwirkung entfalten und zur Spannung des Romans beitragen. Dabei verzichtet sie auf Dramatisierungen, der Erzählstil ist geprägt von einer großen Schlichtheit. Die Melancholie, die dahinter hervorschimmert, spiegelt die Trauer angesichts dessen, was Menschen angerichtet haben und noch immer anrichten.
Das ist kein schneller Lesegenuss, aber ein außerordentlich lohnender. Nie sind die Entstehung des Lebens aus einer Urzelle und die Weiterentwicklung der Arten durch die klimatischen und geographischen Veränderungen der Jahrmillionen hindurch poetischer und eindringlicher beschrieben worden als in diesem Buch.

Bewertung vom 25.08.2024
Mord in der Charing Cross Road
Hamilton, Henrietta

Mord in der Charing Cross Road


gut

Das ist naturgemäß ein altmodischer Krimi, das Original stammt aus dem Jahr 1956. Umgangsformen, Nachwirkungen des Krieges, Geschlechterrollen, Kleidung – in allem fließt dieser Umstand mit ein. Das hat zunächst durchaus seinen Reiz. Miss Sally Merton, also ledig, arbeitet in einer antiquarischen Buchhandlung. Die handelnden Personen kommen nach und nach an ihr vorbei, um Feierabend zu machen, und sie werden vor allem dadurch charakterisiert, wie sie sich ihr gegenüber verhalten. Der Senior Chef ist ein Gentleman der alten Schule, auch die anderen sind zumeist auf ihre Art liebenswert.
In der Buchhandlung wurde mehrfach ein Geist gesichtet, den es schon vor vielen Jahren in diesem Gebäude gegeben haben soll. Die Angestellten – natürlich vor allem die Frauen - sind erschrocken und ängstlich.
Dann geschieht ein Mord. Die Aufklärung gestaltet sich schwierig, da viele in der Buchhandlung ein Motiv gehabt haben könnten, dem unsympathischen Mr Butcher (der Name ist durchaus gut gewählt) den Tod zu wünschen. Als die Ermittlungen beginnen, unterzieht der leitende Kommissar die Personen eingehenden Befragungen und stellt die Beziehungen zwischen ihnen fest, was durchaus interessant ist. Doch dann geht es allzu ausführlich darum, wer zu welcher Zeit welche Tür aufgelassen oder aufgeschlossen, wer wann die Treppe zum Büro des Opfers benutzt haben könnte. Das ist von der Autorin so detailliert ersonnen, dass ich es als Leserin irgendwann nicht mehr nachvollziehen konnte oder wollte. In meinen Augen mindert es die Spannung, wenn man sozusagen mitschreiben oder nochmals nachlesen müsste, wie es sich genau verhält. Das Retardierende steht dem Vorwärtsdrängen der Leser entgegen, das ist geschickt gedacht, jedoch übertrieben ausgestaltet.
Die Auflösung findet dann nicht die Polizei, sondern Sally und ihr Verehrer, der Juniorchef Johnny Heldar, sind erfolgreich, indem sie den Spuren akribisch nachgehen, um Johnnys Cousin zu entlasten. Der wurde verhaftet, was beide für absurd halten. Am Ende finden dann Sally und Johnny zueinander.
Leider ist der Krimi insgesamt etwas langatmig und an einigen Stellen zu ausführlich gehalten. Auch die Geschlechterklischees und die ärgerlichen Ressentiments einiger Charaktere wirken veraltet. Es hat zwar durchaus Charme, sich die Charing Cross Road vor fast 70 Jahren zu vergegenwärtigen, doch insgesamt bleibt der Eindruck eher schwach.

Bewertung vom 22.07.2024
Unser größter Schatz: Der Boden
Küntzel, Karolin

Unser größter Schatz: Der Boden


ausgezeichnet

Ein Buch für alle wachen Naturschützer und Menschen, die glaubwürdig umweltbewusst leben wollen. Schon bei der Produktion wurde darauf geachtet: Es ist auf Recyclingpapier gedruckt, kommt ohne Plastik und Mineralöle aus. Dennoch sind die Farben klar und kräftig, die Bilder zeigen nicht nur das Beschriebene, sondern bilden die bunte Vielfalt unseres Lebens auf der Erde ab – es gibt verschiedene Hautfarben und ein Kind im Rollstuhl. Das ist immerhin ein Anfang. Schön ist auch, dass Braun- und Grüntöne passend zum Thema dominieren.
Inhaltlich ist das Buch ebenso vielfältig, es beschreibt Aspekte, die mir nicht sofort in den Sinn gekommen sind. Natürlich ist da der Aufbau unseres Bodens, aber auch der Erde und ihrer Gestalt. Dazu gehören der Aufbau der Erdkruste, vulkanische Aktivitäten, Plattentektonik und Klimazonen. Im Kleinen wird erläutert, wie die Filterfunktion des Bodens funktioniert, was den Boden mit seinen unzähligen Lebewesen darin gesund erhält. Erwähnt werden Gärten und die Pflege des Bodens, aber auch der Raubbau an der Natur, der Abbau von Bodenschätzen, die Verdichtung des Bodens und Faktoren, durch die wir Menschen den Boden beeinflussen – fast immer negativ. Das wird zwar kindgerecht, aber durchaus anspruchsvoll erläutert und bietet Informationen, die über das Erwartete hinausgehen. Die Wichtigkeit der Moore und der Wälder, verschiedene Arten von Naturschutz, der Boden des Meeres, das Wattenmeer – Boden ist ein sehr vielfältiger Begriff. Viele Formationen sind von unserem Schutz abhängig, denn der Einfluss des Menschen führt dazu, dass Wüsten sich ausbreiten, Regenwald verschwindet. Sehr schön ist der Satz: ‚Die Art des Bodens entscheidet darüber, ob die Menschen, die dort leben, hauptsächlich arm oder reich sind.‘ Damit werden die Leser/innen daran erinnert, dass unser Wohlstand nicht immer ein Verdienst ist und dass diejenigen, die in sehr armen Gebieten leben, unsere Solidarität und Unterstützung benötigen.
Das Buch endet sehr abrupt, hier hätte ich mir einen Abschluss gewünscht. Aber es wirkt über sich hinaus, indem es vielfältige Denkanstöße liefert. Der Titel ist ein schönes Wortspiel – Unser größter Schatz – der Boden. Ein Boden- und Bücherschatz für jüngere und ältere Leser.

Bewertung vom 22.07.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


ausgezeichnet

Ein sehr spannender, verstörender Roman. Die Leser/innen folgen der Perspektive der 28-jährigen Sam, die mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester in prekären Verhältnissen im Staat Washington lebt. Sie kann nirgends mithalten, verkauft Snacks auf einer Fähre, fühlt sich ungesehen, während um sie herum die Menschen über Dinge reden, die sie sich nicht leisten kann: „Wie Aschenputtel /…/ verrichtete Sam eine unbedeutende Arbeit, doch kein Prinz würde sie je davon erlösen“ (S.11). Die Welt der Märchen zieht sich durch den Roman und zeigt Sams inneren Stillstand auf der Ebene der Kindheit. Die Mutter der beiden Schwestern ist seit Jahren arbeitsunfähig, sie hat in einem Nagelstudio gearbeitet, ebendiesen Leuten die Nägel lackiert und ist an den Dämpfen und Chemikalien erkrankt. Ihre Arzt- und Krankenhauskosten verschlingen das Geld, das die Schwestern verdienen. Sie lieben sie sehr und erinnern sich an die wundervolle, schöne Mutter, die sie war. Die Pflege obliegt weitestgehend Elena, die sich um alles kümmert – Pflege, Haushalt, Finanzen. Samantha bleibt passiv und überlässt alles ihrer großen Schwester, ohne zu sehen, dass diese unter der Last fast zusammenbricht. Sams ersehnte Erlösung liegt in einer Zukunft mit Elena.
Die Kindheit der beiden Frauen verlief unbeschwert, wenn sie in ihre eigene Welt in der Natur eintauchen konnten. Dann bemerkten sie ihren Außenseiterstatus nicht. Draußen war das Paradies – frei und fernab von ökonomischen Zwängen. Zu Hause herrscht ein unberechenbarer, gewalttätiger Freund der Mutter, bis diese ihn mit Unterstützung des Jugendamtes hinauswirft. Als Samantha am Ende ihrer Grundschulzeit aufgrund ihrer Lebensverhältnisse offene Ablehnung erfährt, kapselt sie sich ab und verfolgt in ihrer Fantasie weiter die Welt ihrer gemeinsamen Kindheitsträume: Sie wird nach dem Tod der Mutter mit Elena von dem leben, was der Verkauf ihres Grundstücks erbringt, und ein neues Leben beginnen. Alles, was sich die beiden in jungen Jahren vorgestellt haben, soll dann wahr werden. Etwas Anderes ist nicht denkbar. So nimmt Sam keine sozialen Kontakte auf, flüchtet sich in unverbindlichen Sex, lebt ganz auf sich und Elena bezogen. „Sam wartete darauf, dass sich ihr Leben änderte. Sie wartete schon sehr lange“ (S.17).
Ein Grizzly, der während der Rundfahrt der Fähre gesichtet wird, tritt in ihr Leben. Er nähert sich ihrem Haus und stellt eine Bedrohung dar, eine Naturgewalt, die nicht vorgesehen war. Elena sieht die Präsenz des mächtigen Tieres als Faszinosum, sie weicht ihm nicht aus, sondern sucht dessen Nähe. Die Gefahr und die Möglichkeit, sie zu bannen, werden zu einem Fixpunkt in ihrem Leben. Auch sie ist plötzlich in der märchenhaften Welt angekommen, explizit wird dem Roman eine Passage aus „Schneeweißchen und Rosenrot“ vorangestellt. Sam hat Angst vor dem Tier und nimmt Kontakt zu einer Biologin auf, die helfen soll. Gleichzeitig stößt sie diese jedoch zurück, wenn sie ihr vermeintlich sehr in den Lebensbereich der Schwestern eindringt.
Wie sehr Sam sich von Elena wirklich entfernt hat, wird offenbar, als die Mutter stirbt. Elenas Träume sind längst nicht mehr die ihrer Schwester, sie konfrontiert Sam mit der brutalen Realität: Nie werden sie gemeinsam weggehen, das Paradies existiert nicht mehr, Elena möchte ein eigenes, ein wirkliches Leben. Sam will das nicht wahrhaben, sie negiert alles, was Elena sagt und was sich ihr nach und nach offenbart. Ihre Leugnung führt in die Katastrophe. Doch selbst dann kann Sam sich nicht aus der Welt des Träumens befreien – sie deutet das Geschehen um, sodass es in ihre Märchenwelt passt.
Der Schreibstil der Autorin ist flüssig, vorwiegend kurze Sätze werden aneinandergereiht und spiegeln damit Sams kindlich-naive Weltsicht. Die Handlung entfaltet einen Sog, der das Unheil ahnen lässt, das sich anbahnt. Ein Roman, den man nicht vor der letzten Seite aus der Hand legt.

Bewertung vom 15.04.2024
Wo die Asche blüht
Que Mai, Nguyen, Phan

Wo die Asche blüht


schlecht

Die Autorin nimmt in ihrem ambitionierten Roman die unterschiedlichen Opfergruppen des Vietnamkrieges in den Blick: Da ist beispielsweise der Amerasier, der im eigenen Land aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert wird und der von einem besseren Leben in Amerika träumt, da der amerikanische Veteran, ehemals Hubschrauberpilot, der an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und mit seiner Schuld leben muss, die jungen Mädchen, die, um der Armut zu entkommen, zu Prostituierten werden. Und man bekommt einen Einblick, wie die Korruption innerhalb der Gesellschaft die Ausbeutung, die von Kolonialmächten begonnen wurde, fortsetzt. Die Zeitebenen sind die Zeit des Krieges, einige Jahre später und das Jahr 2016. Diese Aspekte geben einen recht detaillierten Einblick in die Schrecken und Grausamkeiten, die ein Krieg für alle Beteiligten mit sich bringt. Es ist der Autorin gelungen, diese in den Fokus zu rücken und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Nicht gelungen ist bedauerlicherweise die literarische Umsetzung. Die Figurenperspektiven sind oft unglaubwürdig gestaltet, die Sprache wird den Menschen nicht gerecht, sie bleiben Typen statt zu Charakteren gestaltet zu werden. ‚Du bist das Beste, was mir je passiert ist‘ – eine solche hohle Phrase, heute leider oft gehört, wird einer Nonne in den Mund gelegt, die ein Waisenkind großzieht. Und kommt ein weiteres Mal im Roman vor. Die Liebesszenen sind entweder verkitscht (Sein Atem duftete nach Honig und fühlte sich so frisch an wie Morgensonne auf ihrer Haut) oder derb formuliert. Der Amerikaner Dan, der mit seiner Frau zurückkommt, damit er an seinem Trauma arbeiten kann, formuliert in Gedanken, die junge Geliebte habe ihm ‚die Augen dafür geöffnet, dass die Vietnamesen genauso Menschen waren wie die Amerikaner.‘ Eine solche Erkenntnis sollte in einem Roman durch die Gestaltung deutlich werden, hier jedoch wird alles ausformuliert und plattgeredet. Das, was Literatur sein soll, wird zum Traktat. Vertraut die Autorin der Intelligenz der Leser/innen nicht oder hat sie kein Zutrauen zur eigenen Leistung? Es erscheint überflüssig zu erwähnen, dass sehr viele Zufälle zusammenkommen müssen, damit am Ende alle Erzählfäden zusammenlaufen. – Schade!

Bewertung vom 03.04.2024
Der Sommer, in dem alles begann
Léost, Claire

Der Sommer, in dem alles begann


gut

Ein Roman, in dessen Mittelpunkt drei Frauenschicksale stehen, die miteinander auf eine Art verwoben sind, die erst nach und nach enthüllt wird. Der Roman beginnt 20 Jahre nach der Beerdigung von zwei Personen, dem Vater und der Lehrerin der Protagonistin Hélène. Nun kehrt Hélène in die Bretagne zurück, die sie damals verlassen hat, um nach Paris zu gehen. Eine Bretagne, wie sie wenigen bekannt ist: ein abgelegenes Dorf im Landesinnern, nicht die touristische Region am Meer. Hier ist das Klima rau, jeder kennt jeden, das Leben verläuft in den vorherbestimmten Bahnen. Paris ist einerseits der Ort, dessen Einwohner um ihr Leben beneidet werden, andererseits wird die Regierung dort von einigen als Unterdrücker des bretonischen Volkes gesehen. Die Lehrerin aus Paris brachte das Gefüge ins Wanken, sie ist die Tote. Es wird offenbar, dass die Geschehnisse weiter zurückreichen, in das Jahr 1940, in dem für die junge Odette die behütete Kindheit beendet ist. 1944 muss sie nach dem Tod ihrer Eltern das Dorf verlassen und nach Paris gehen. Als sie später zurückkehrt, ahnt niemand, dass sie ein Geheimnis hütet, das sie niemandem anvertrauen kann. Ihr Schmerz und ihre Ablehnung alles dessen, was aus Paris kommt, setzen die Katastrophe in Gang. Die Autorin zeigt die bretonische Heimat der Frauen – von der eine nur spürt, dass hier ihre Wurzeln liegen – und die Schicksale, die damit verknüpft sind. Sie zeigt jedoch auch die zerstörerische Kraft, die entsteht, wenn eine Versöhnung nicht möglich scheint. Hélène jedoch weiß, dass ihre Wurzeln ihr die Stärke geben, die sie zum Leben befähigt.

Bewertung vom 13.02.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


sehr gut

Ein bedrückender Roman. Anlässlich eines Erbschaftsstreits um zwei Ferienhütten auf der Insel Hvaler entfaltet die Erzählerin nach und nach eine Lebensgeschichte, die geprägt ist von einem fast pathologischen Graben in der eigenen Kindheit, von einem Leid, das zum Bruch mit der Familie geführt hat – und doch ist da die uneingestandene Sehnsucht, zu denen zu gehören, von denen sie sich bewusst entfernt hat. Die Hütten auf Hvaler würden ihr die Zugehörigkeit sichern, sind jedoch den Schwestern überschrieben worden. Deren Verhalten und das der Mutter empfindet sie als Verrat, als Nicht-Anerkennung ihrer Geschichte. Immer wieder werden die ‚Hütten auf Hvaler‘ erwähnt, sie stehen symbolisch für das Ausgegrenztsein und die subjektiv empfundene Ungerechtigkeit.
Mit ihren fast sechzig Jahren ist die Erzählerin unfähig, sich von den Ereignissen ihrer Kindheit zu lösen, sie überschatten ihre Beziehungen bis zum Zeitpunkt des aktuellen Geschehens. Die Leser/innen werden hineingezogen in dieses Leben, durch Rückblenden wird die Jetztzeit ergänzt – schmerzhaft oft und mit selbstzerstörerischer Kraft kreisen die Gedanken der Erzählerin um die immer gleichen Begebenheiten und deren Spuren in ihrem Leben. Und trotz allem fragt sie sich, ob sie nicht doch nur ihre Narben streichelt, wie sie es nennt. Sie ist jedoch unfähig, etwas zu ändern.
In konzentrischen Kreisen, soghaft, mit präziser Syntax, Windungen, Wiederholungen, wird nach und nach offenbart, was die Erzählerin quält – so langsam und obsessiv, dass die Seelennot auf die Leser/innen übertragen, die Qual beim Lesen spürbar wird.