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Taina
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Berlin

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Insgesamt 20 Bewertungen
Bewertung vom 07.09.2025
Friese, Inka

tiptoi® Wieso? Weshalb? Warum? - Tiere im Zoo


weniger gut

Tiptoi-Bücher sind ohne Zweifel bei Kindern und sicher auch Eltern sehr beliebt, insofern also ein Selbstläufer. Dennoch bin ich der Meinung, dass diese Werke auch ohne Stift als Bilderbuch eine Wirkung haben und die Autoren sich nicht auf die Zusatzfunktionen verlassen sollten.
Dies ist hier nicht gut gelungen: Die Kinder Paul und Kisha werden nur ganz nebenbei eingeführt, es geht im Text in erster Linie um Informationen über Zoos, nicht um die Tiere, die für Kinder doch so spannend sind. Dies ist aus den Kapitelüberschriften klar ersichtlich, z.B. ‚Wozu ist der Zoo gut?‘ oder ‚Wieso sind Gehege unterschiedlich?‘ Das nimmt jüngere Kinder nicht mit, hier sollten eigentlich Paul und Kisha durch den Zoo gehen und dabei eigene Beobachtungen machen, dann zusätzlich Informationen erhalten. Es fehlen eine Geschichte, die Fragen der Kinder, wörtliche Rede, alles, was ein Buch lebendig macht. Ein Zoobesuch ist doch ein aufregendes Erlebnis! Das macht das Bilderbuch nicht deutlich. Wenn wir die Kinder zu Lesern machen wollen, dann brauchen sie tolle Bücher mit spannenden Texten.
Durch den Einsatz des Stifts kann sich das Potenzial eines tiptoi-Buches entfalten – und enttäuscht auch hier. Der Textaufbau ist nicht durchdacht, die Sprache fluktuiert zwischen Über- und Unterforderung: Da ist ohne Erklärung von Zuchtprogramm und Savanne die Rede, andererseits ist das kleinkindhafte Lachen am Ende eines Kapitels eher störend. Die Oma von Paul und Kisha wird erst am Ende vorgestellt und ähnliche Brüche durchziehen das Buch. Gar nicht gut finde ich die Fragen zu den einzelnen Seiten: Da wird nicht auf das eingegangen, was Kindern auffällt und sie sehr interessiert, sondern es soll z.B. auf dem Zooplan etwas gesucht, Tiergeräusche sollen identifiziert werden, die jedoch zuvor nicht gehört werden konnten. Wer weiß denn schon, wie ein Leguan klingt? Welches Kind unterscheidet tropische Vogelarten, die es nicht kennt? Auch kleine Pandas müssten erst einmal vorgestellt werden, denn das Tier, das ein Kind als Panda vor Augen hat, sieht ganz anders aus. Und ‚Ich sehe was, das du nicht siehst‘ wäre eine tolle Chance, den Fokus auf die Aktivitäten der Tiere zu richten, stattdessen wird z.B. nach T-Shirts von Zoobesuchern gesucht. Und das Ultraschallbild? Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.
Ein Buch, das entbehrlich ist, auch wenn Kinder sich mit dem Stift bewaffnet darauf stürzen werden und die Erwachsenen ein bisschen Ruhe haben. Schade!

Bewertung vom 02.09.2025
Flitner, Bettina

Meine Mutter


sehr gut

‚Sie hat nie etwas getaugt‘. Der erste Satz dieses Romans, bei der Trauerfeier für die durch Suizid verstorbene Mutter vom Großvater der Autorin geäußert, offenbart die unfassbare Kälte, in der die Mutter aufgewachsen sein muss. ‚Das sagte er wirklich, in diesem Moment‘, bekräftigt die Autorin einige Seiten später, sie selbst hatte es gehört. Die Töchter der Verstorbenen hatten die Beziehung zur Mutter verloren, deren Zuneigung war unzuverlässig. Trauern können sie kaum. Das Cover des Romans zeigt eine Frau, die zärtlich die Tochter umfasst, sich an ihr festzuhalten scheint, während das kleine Mädchen sich nicht ihr, sondern der Kamera zuwendet. Mutter und Tochter.
Die Mutter wurde 1936 in Niederschlesien, im heutigen Polen, geboren und wuchs in sehr guten Verhältnissen unbeschwert auf. Ihr Vater, ein angesehener Arzt, leitete das Sanatorium Wölfelsgrund, erst im März 1946 floh die Familie von dort. Doch schon vorher hatte die Welt der Frau, die die Mutter der Autorin werden würde, Risse. Sie war 8 Jahre alt, ‚als ihr Leben auseinanderbrach‘: Walter, ihr geliebter Bruder, war gefallen. Der sensible Walter, den der Vater demütigte, weil er stotterte, nicht den Ansprüchen genügte. Von ihm bleiben dem Mädchen ein Brief und ein Buch, beides bewahrte sie bis an ihr Lebensende auf. Das Mädchen Gisela, vorher im Mittelpunkt der Familie, wurde nun durch die Ereignisse des Krieges an den Rand gedrängt. Der Vater ein Opportunist, der sich nie für die Gefühle seiner Familie interessierte, der seinen Patienten gegenüber kein Mitgefühl aufbrachte, seine Frau betrog und stets wusste, wie man sich aus brenzligen Situationen herauswand. Nach der Flucht war der Neuanfang schwierig, Gisela war ein Flüchtlingsmädchen wie so viele. Sie war nicht sehr begabt, aber hübsch. Sie wurde umworben und heiratete bald, die Autorin und ihre Schwester wurden geboren. Doch auch hier genügt sie nicht. Die Mutter war labil, Trauer und Fröhlichkeit wechselten sich ab. Es folgten Affären, Trennungen. Die Töchter wurden mal mit Zärtlichkeit, mal mit Gleichgültigkeit behandelt. Im Alter von 47 Jahren nahm sich die Mutter 1984 das Leben.
Fast 40 Jahre später wird die Autorin mit der Vergangenheit konfrontiert: Ein großer Umschlag mit Fotos ihrer Mutter trifft bei ihr ein, die ein Fotograf damals aufgenommen hatte. Sie betrachtet die Bilder und fasst dann den Entschluss, dem Leben ihrer Mutter nachzuspüren und an den Ort zu reisen, wo diese ihre Kindheit verbracht hat. Vieles ist verbürgt, es gibt Tagebücher, schriftliche Zeugnisse, Gespräche mit denen, die die Mutter kannten. Aber die Autorin selbst nennt das Buch einen Roman, etwas Fiktionales.
Die Schreibweise ist betont sachlich, um Genauigkeit bemüht. Bettina Flitner sucht nach Spuren, nach Erklärungen, doch letztendlich gibt es nicht die eine Ursache für die Depression, der die Mutter schließlich erlag.
Ehrlich, nachdenklich, lesenswert.

Bewertung vom 23.08.2025
Hennig, Markus

Die Sekundenochs


sehr gut

Diesem phantasievoll bebilderten Kinderbuch liegt eine schöne Idee zugrunde: Die kleinen Sekundenochs haben immer Zeit zum Trödeln, während Kinder wie Smilla ständig gehetzt werden, denn es gibt so viel zu erledigen: Smilla muss aufstehen, frühstücken, zur Schule gehen, Trompete üben, ihr Zimmer aufräumen… Viele Eltern werden sich ertappt fühlen und Smillas Wunsch, einfach mal ihre Trompete anzuschauen, weil diese so schön in der Sonne glänzt, vielleicht verstehen können.
Die Sekundenochs leben tief unter der Erde, sie müssen trödeln, damit es ihnen gut geht – das ist witzig ausgeführt, denn auch beim Tischtennis, beim Ballspielen, beim Warten auf eine Pizza, beim Schulbesuch, sie haben immer sehr, sehr viel Zeit.
Als das Sekundenoch-Kind Tjörge mit seinem Aufzug versehentlich unter Smillas Bett landet, treffen die Welten der beiden aufeinander und sie lernen voneinander. Smilla übt nun das Trödeln, Tjörge erkennt, dass es manchmal auch wichtig ist, sich zu beeilen. Aber Tjörge hat Heimweh und Smilla hilft ihm, sich in die Erde zu graben und sein Zuhause sowie seine Eltern wiederzusehen. Hin und wieder besucht er sie später oben auf der Erde, und gemeinsam trödeln sie ein bisschen.
Die Bildsprache dieses Buches gefällt mir gut: Die kleinen Sekundenochs haben ein ganzes Reich unter der Erde, und weil sie so klein sind, gehen eben auch viele von ihnen auf eine Seite. Das ist bunt und lustig anzusehen, wenngleich die Figuren im Comic-Stil gezeichnet und nicht wirklich hübsch sind. Hier haben wir dann Wimmelbuch-Seiten, auf denen es viel zu entdecken gibt. Smilla ist deutlich größer, ihre Bilder nehmen viel mehr Raum ein, deshalb wimmelt nichts.
Smillas schöne und sehr originelle Trödel-Ideen werden den Kindern gefallen: Wie wäre es denn zum Beispiel damit, vor dem Spagetti-Essen alle Nudeln erst einmal ordentlich neben den Teller zu legen? Der Autor hat mit viel Phantasie umgesetzt, was Kindern im Kopf herumgehen mag.
Nicht ganz nachvollziehbar ist, wie nachsichtig die Erwachsenen jetzt mit Smilla umgehen – sie, denen es vorher nicht schnell genug gehen konnte, sitzen oder stehen nun oft neben ihr und warten. Auch anderes bleibt zum Teil unlogisch oder lückenhaft, was im besten Fall dazu führt, dass die Kinder solche Leerstellen selbst ausfüllen oder darüber spekulieren. Auf jeden Fall gibt es eine Menge zu entdecken und zu durchdenken.
Insgesamt ein lustiges Kinderbuch, das ohne einen auf die Eltern gerichteten pädagogischen Zeigefinger ausführt, was Kinder eben auch brauchen: Zeit für sich, Muße.

Bewertung vom 09.08.2025
Tober, Heike

tiptoi® Wieso? Weshalb? Warum? - Bei der Polizei


sehr gut

Bei tiptoi-Büchern sollte die erste Frage sein, ob sie auch ohne Stift eine gute Lektüre darstellen. Das kann hier durchaus bejaht werden. Die Bilder sind anschaulich und detailfreudig und bieten viele Gesprächsanlässe, sodass die Kinder zusammen mit Erwachsenen Vermutungen anstellen und über das Gesehene sprechen können. Die kurzen Texte sind klar formuliert und helfen beim Verständnis.
Der Fall, der hier über die Seiten hinweg immer wieder aufgegriffen wird, ist der Einbruch in eine Eisdiele, also etwas, das Kindern nicht wirklich Angst macht, ein Pluspunkt. Die Geschwister Wanda und Marek sowie die Polizisten Samira und Jonas sind der rote Faden, der sich durch das Geschehen zieht. Die Polizeiwache ist interessant und vielfältig abgebildet, Wanda und Jonas sind hier zu finden, als sie eine Aussage machen. Auch werden die verschiedenen Abteilungen und Einsatzbereiche der Polizei gezeigt, hierzu gibt es gut strukturierte kurze Erläuterungen sowie schöne und interessante Bilder. Am Ende wird der Dieb dann gefunden und verhaftet.
Erst nach der gründlichen Lektüre sollte der Stift zum Einsatz kommen, da der Fokus sonst viel zu eng ist. Die Sprache der Hörtexte ist gut zu verstehen und hilft, das Gesehene zu vertiefen, aber eben nur partiell. Gut finde ich, dass Fragen zu den jeweiligen Seiten gestellt werden, die allerdings an manchen Stellen schwer zu beantworten sind, weil es an Logik mangelt und weil sie außerdem Nebensächlichkeiten aufgreifen, statt relevante Fragen zu stellen, zum Beispiel die Geschwister auf der Wache suchen zu lassen oder die Zeugin, mit deren Hilfe das Phantombild angefertigt wird. Schade, dass die Erstellung des Phantombildes nur am Rande thematisiert wird. Das wäre doch ein tolles Thema gewesen und hätte die Ereignisse besser miteinander verknüpft, auch die Überführung des Täters glaubhafter gemacht. Also wieder eine Aufgabe für die Kommunikation mit dem Kind, die unbedingt stattfinden muss.
Das Vokabular zu den Spezialeinheiten ist für Vierjährige nicht angemessen, ebenso wenig wie manche Fragen. Kinder werden nicht schlauer, wenn es an ihren Köpfen oder Interessen vorbeigeht, auch wenn die Polizei an sich ein tolles Thema ist.
Schön ist dagegen, dass auch viel Humor dabei ist – der Notruf wegen eines Kängurus auf der Autobahn wird den Kleinen ganz bestimmt gefallen und auch, dass das Pistazieneis immer mal wieder zu sehen ist, macht Spaß. Insgesamt empfehle ich das Buch eher für Kinder ab 5.

Bewertung vom 05.08.2025
Rivera Garza, Cristina

Lilianas unvergänglicher Sommer


ausgezeichnet

Mehr als 29 Jahre nach der Ermordung ihrer Schwester Liliana im Jahr 1990 begibt sich die Autorin auf die Suche nach deren Akte bei der Staatsanwaltschaft von Mexiko-Stadt. Zusammen mit einer Freundin wird sie in kafkaesker Weise von Amt zu Amt geschickt, am Ende ist jedoch die Akte nicht mehr auffindbar. Das ist der Moment, in dem Cristina beschließt, schreibend der Schwester nachzuspüren, ihre Existenz durch die vielen Zeugnisse materieller und immaterieller Art zu rekonstruieren, die sie hinterlassen hat. Schon immer hatte sie Briefe und Aufzeichnungen verfasst, die sie sorgfältig aufbewahrte. Diese stehen Cristina zur Verfügung, um Lilianas Leben zu dokumentieren, außerdem spricht sie mit Freunden und Kommilitonen sowie vielen, die sie gekannt hatten. Die junge Frau war voller Energie, Lebenslust, Liebe, hatte viele Freunde, eine große und warmherzige Familie, und sie war eine sehr gute Architekturstudentin. ‚Eine freie Frau‘. Liliana darf nicht vergessen werden.
Liliana fiel einem Mörder in die Hände, den sie für ihren Freund hielt und der für das Verbrechen nie vor Gericht gestanden hat. Cristina Rivera Garza nennt seinen vollen Namen, Ángel Gonzáles Ramos, und zeigt ein Foto aus der Zeit des Mordes, mit dem nach ihm gesucht wurde. Schon früh zeichnete sich das Verhängnisvolle der Beziehung zwischen ihm und ihrer Schwester ab, Liliana wurde gedemütigt, bedroht, vergewaltigt, doch eine Befreiung gelang ihr nicht.
‚Im schlimmsten Winter merkte ich, dass in mir ein unvergänglicher Sommer war‘ schrieb Liliana einer Kommilitonin, um diese zu trösten. Das Motto von Albert Camus ist in einem etwas anderen Wortlaut dem Buch vorangestellt. Lilianas unvergänglicher Sommer, das ist ihre Lebenslust, ihr Optimismus, mit dem sie sich dem Schatten, den ihr Freund auf ihr Leben wirft, entgegenstellt. ‚Die Freiheit /…/ ist das Wichtigste im Leben‘ (183) sagte Liliana, als sie einem gefangenen Spatz die Freiheit schenken wollte. Doch er starb – wie sie später. Kurz vor ihrem Tod, nach einer endgültigen Trennung von Ángel, spürt sie Angst, kann jedoch nicht glauben, dass er fähig wäre, ihr etwas anzutun. Sie wurde mit nur 20 Jahren ermordet, das Entsetzen und die Trauer prägen ihre Familie und ihre Freunde ein Leben lang. Cristina vermisst Liliana ‚jeden Tag, und jede Stunde in jedem Tag. Jede Minute in jeder Stunde. Jede Sekunde‘. (297) Der Schmerz ist unendlich groß und er ist immer da. Wenn Cristina ins Wasser taucht, glaubt sie, Lilianas Gegenwart darin zu spüren.
Das Buch legt Zeugnis ab von einem Leben voller Vorfreude auf das, was es bringen sollte. Es ist angereichert mit Schwarz-Weiß-Fotos von Liliana und ihrer Schwester, eingefügt sind die Briefe, die Liliana an Freunde und Verwandte verfasst hat. Und es weitet Lilianas Schicksal aus in das gesellschaftliche Problem der gewaltvollen Beziehungen, die zu oft zu Victim Blaming führen. Nichts in dem, was die Frauen an sich haben, wie sie leben, sich kleiden, was sie tun, rechtfertigt Gewalt gegen sie, das ist Cristina wichtig.
Das alles macht das Buch zu einer emotional aufwühlenden Lektüre, nicht leicht zu lesen, auch weil die eingefügten Briefe in einer sehr kleinen Schrift gedruckt sind. Ein wichtiges, sehr persönliches, ehrliches Buch. Unbedingt empfehlenswert.

Bewertung vom 10.06.2025
Sußebach, Henning

Anna oder: Was von einem Leben bleibt


ausgezeichnet

Der Autor spürt in dieser Biographie seiner Urgroßmutter Anna nach, über die ihm nur wenig bekannt ist. Um sich ein Bild von ihr zu machen, sie zu verstehen, ihr Leben mit allen Sinnen zu erfahren, betrachtet er die wenigen alten Fotos, die von ihr existieren, recherchiert akribisch die Zeit, in der sie lebte: Was ist in der Welt passiert? Wie könnte Anna gefühlt, gelebt, gedacht, was könnte sie gesehen, gehört, gerochen haben? Er selbst tritt als Erzähler in Erscheinung, der recherchiert, erzählt, vermutet.
Anna wurde 1866 geboren, ihr Vater starb, als sie 12 Jahre alt war. Nach einem schwierigen Start trifft sie 1887 in Cobbenrode im Sauerland als junge Lehrerin ein. Sie ist an einen Erlass des damals bestehenden Verbots der Verheiratung gebunden – eine Lehrerin hatte ledig zu bleiben. Doch sie verliebt sich in den 4 Jahre jüngeren Clemens, dessen Vater die Beziehung verbietet. Nach dessen Tod kündigt sie und die beiden heiraten, doch die Ehe ist nur von kurzer Dauer, da Clemens nach einem Unfall verstirbt. Ihr Sohn wird als Halbwaise geboren. Als Erbin übernimmt Anna die Postagentur in Cobbenrode, ein Amt, das vorher Clemens innehatte. Sie, die bei ihrer Eheschließung schon 37 war, verliebt sich später erneut und heiratet 1909 den 19 Jahre jüngeren Lehrer Bernhard Raesfeld. Im Alter von 45 Jahren schenkt sie einer Tochter das Leben: Maria, die Großmutter des Autors, wird geboren. Der Krieg beginnt, Bernhard überlebt. Die Jahre danach sind schwer, doch die Familie bleibt zusammen – eine Liebe gegen alle Wahrscheinlichkeit, wie Sußebach betont.
Anna stirbt schließlich im Alter von 65 Jahren an Brustkrebs, es ist das Jahr 1932.
Was dieses Buch so besonders macht, ist die Erzählweise: Der Autor erzählt Annas Leben, bleibt ihr gegenüber immer respektvoll, fragt, wie es gewesen sein könnte – und betont, dass es vielleicht ganz anders war. Die Leerstellen sind durch den historischen Kontext nur als Vermutungen zu füllen. Sußebach macht seine Rolle deutlich und reflektiert sie: „Ich beschließe, dass sie…“, „Ich entscheide, dass…“ – und doch bezeichnet er selbst es als übergriffig, genau das zu tun. Das Dilemma des Schreibenden wird zum Thema des Romans – er möchte Annas Leben dem Vergessen entreißen, immer in der Gefahr, es zu erfinden, den eigenen Blickwinkel zu sehr in den Vordergrund zu stellen „Ich dürfte manches in Anna gesehen haben, was sie nie war. Und werde einiges übersehen haben, was sie gewesen ist.“ (188) . Die große Sensibilität der Urgroßmutter gegenüber zeichnet Sußebach aus. Ein Foto von Anna aus Bad Salzuflen lässt ihn an ihren Tod denken, der für sie in der unbekannten Zukunft liegt, in die er sie ungern entlassen möchte. Er hätte Fragen an sie gehabt.
Eine ungewöhnliche, sehr einfühlsame Darstellung einer Frau, deren Nachfahre er ist und über die er doch so wenig weiß. Großartig.

Bewertung vom 13.05.2025
Nicholas, Anna

Das Teufelshorn


sehr gut

Ein echter Mallorca-Krimi – so echt, dass es sich empfiehlt, eine Karte des Gebiets um Sant Martí und die Westküste griffbereit zu haben. Dieser Roman hat reale Schauplätze und eine große Anzahl von Personen, ein Verzeichnis wäre hilfreich.
Isabel Flores, die ehemalige Kommissarin, ist eine attraktive Frau Anfang 30 mit viel Energie, kriminalistischem Spürsinn, Appetit und Humor. Zurzeit leitet sie die Ferienhausvermietung ihrer Mutter zusammen mit Pep, dem Bruder ihrer Freundin.
Zunächst geht es um die Entführung der kleinen Miranda, mitten am Tag, am belebten Strand von Pollenca. Isabel hat in ihrer Zeit als Kommissarin in Palma Entführungsfälle bearbeitet, und so ruft ihr ehemaliger Chef Tolo Cabot sie an und bittet um Unterstützung. Obwohl Isabel eigentlich nicht mehr in ihrem alten Beruf arbeiten wollte, beginnt sie mit den Ermittlungen. Sie stellt Nachforschungen an und kommt mithilfe ihrer Beobachtungsgabe und ihres scharfen Verstandes zu einer Theorie. Einer der Verdächtigen verkehrt in zwielichtigen Kreisen, die mit Rauschgiftschmuggel im Zusammenhang stehen. Vom Bürgermeister wird Isabel dann über den grausamen Mord an einem alten Mann informiert, er möchte, dass sie auch hier hinzugezogen wird. Sie ist als erste am Tatort und macht sich ein eigenes Bild.
Isabel ist sehr gut vernetzt, kennt viele Menschen und ist damit den anderen Ermittlern stets um einen Schritt voraus. Die Schauplätze der Ereignisse werden sehr genau beschrieben, enge Straßen, traumhafte Gärten, Orangenhaine und eine blühende Landschaft mit ihren Gerüchen ziehen an den Lesern vorüber, die sich sicherlich gerne mit an den reich gedeckten Tisch von Isabels Mutter oder in eines der kleinen Cafés setzen würden. Hier wird jedoch auch ein Mallorca beschrieben, das eben nicht nur aus den touristischen Hotspots besteht; die realen Probleme der Insel sind immer präsent. Isabel gelingt es, Drogenschmugglern auf die Schliche zu kommen, sie findet das Geheimnis des alten Mannes und die Hintergründe von Mirandas Entführung heraus. Die Leser/innen werden durch Isabels präzise Arbeits- und Denkweise in ihre Überlegungen einbezogen, die zurückhaltend eingestreuten Hinweise auf den oder die Täter machen das Lesen zu einer Detektivarbeit und zu einem Vergnügen. Dabei verknüpft Anna Nicholas geschickt die verschiedenen Erzählstränge und Kriminalfälle. Daneben ist Platz für Verständnis und Empathie, sogar gegenüber denen, die sich nicht gesetzeskonform verhalten, jedoch nachvollziehbare Motive haben. Und Isabels romantische Gefühle für Tolo weisen am Ende auf eine mögliche Entwicklung dieser Beziehung im nächsten Band. Auch ist das Verschwinden ihres Onkels nicht geklärt, es gibt jedoch neue Hinweise…
Ein Kriminalroman, der aufgrund der detailreichen Schilderungen nicht schnell zu lesen ist, aber wer Freude daran hat, einzutauchen in das Setting, mitzurätseln und Isabels Erkenntnisse nach und nach in ein Gesamtbild zu fügen, der wird diese Lektüre nicht bereuen. Und auch, wenn Isabel ein bisschen zu sehr Superwoman ist: Ich freue mich auf die Fortsetzung!

Bewertung vom 06.05.2025
Schmeißer, Frank

Schisser und ich Bd.1


sehr gut

In jedem Fall ein Buch, das geübte Leser/innen ab 8 mögen werden, denn es ist vordergründig witzig und sehr gut geschrieben. Schwarz-weiße Zeichnungen im Comic-Stil, die Einteilung in kurze Kapitel und eine übersichtliche Druckgrafik tragen dazu bei, dass die immerhin knapp 190 Seiten gut zu bewältigen sind, außerdem kann ein Kind auch Antolin-Punkte sammeln.
Zu Beginn des Romans werden von Jakobs Familie Vorbereitungen für einen Umzug an den Stadtrand getroffen. Dieser ist nötig, um dem 10-jährigen Ich-Erzähler Jakob eine ruhigere Umgebung zu bieten, denn er leidet unter einer Angststörung und seine Therapeutin hat eine reizärmere Umgebung empfohlen. Die 4 Jahre ältere Schwester Lilli ist nicht begeistert, ihr Schulweg wird mühsamer. Was sie äußert, sollte ernst genommen werden: Es gehe immer nur um ‚den kleinen Spinner‘, also Jakob. Schisser ist der Stoffhase, den er immer bei sich trägt, ein Angsthase, der ihm bei der Bewältigung des Stresses helfen soll, die seine Ängste auslösen. Und das ist eine Situation, in der kein Kind stecken sollte: Jakob ist klug, strukturiert und sieht seine Situation sehr klar, aber die vielen Gefahren, die im Alltag lauern, sind ihm stets präsent. Seine Panikattacken und die um mögliche Gefahren kreisende Gedanken werden sehr anschaulich beschrieben. So wird schon die Autofahrt in das neue Wohngebiet, das Feuerviertel, für ihn zu einer Herausforderung, die er nur mit Helm und Knie- sowie Ellenbogenschützern überstehen kann. Der Vater verfährt sich und in einem Schrebergarten entdeckt Jakob einige Hühner in viel zu engen Kisten. Es empört ihn, aber er kann noch nichts unternehmen.
Im Feuerviertel lernt er andere Kinder kennen, die eine Bande gebildet haben. Um dazuzugehören, soll Jakob eine Mutprobe bestehen. Es kommt, wie es kommen muss, seine große Schwester erweist sich als Retterin in der Not und holt ihn aus der Situation nach Hause. Das erste Mal war Jakob nahe daran, auch Freunde zu haben, zu einer Bande zu gehören, und nun das: Die Angst ist stärker. Er ist am Boden zerstört. Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte – sonst wäre der Roman ja nichts für Kinder. Wie es gelingt, die Hühner zu retten und was Jakob damit zu tun hat, ist unterhaltsam und spannend erzählt. Allerdings bekommt man beim Lesen den Eindruck, dass es am Schluss sehr überstürzt zugeht und die Glaubwürdigkeit darunter leidet. Auch gibt es lose Enden, die vielleicht für eine Fortsetzung gedacht sind, aber unbedingt sofort eine Lösung verlangt hätten. Immerhin hatten der Hühnerbesitzer und sein Kumpan noch etwas Schlimmes vor.
Insgesamt ein etwas zwiespältiges Fazit: Zu ertragen ist die witzige Darstellung der Ängste nur, weil Jakob selbst davon erzählt und es als Galgenhumor gewertet werden kann. Wir sehen ein Kind, das eigentlich krank, aber vielleicht auf einem guten Weg ist.
Die Zeichnungen dürften eher Kinder ab 10 ansprechen, da sie karikaturenhaft daherkommen und jüngere Kinder doch eher hübsche und bunte Illustrationen bevorzugen.

Bewertung vom 25.04.2025
Koppelstätter, Lenz

Was am Ufer lauert / Ermittlungen am Gardasee Bd.2


sehr gut

Also ein neuer Fall für die Gerichtsreporterin Gianna Pitti, drei Wochen, nachdem sie erfolgreich zur Lösung eines Verbrechens in ihrem idyllischen Ort am Gardasee beigetragen hat. Die kleine Zeitung, für die sie arbeitet, sendet sie immer wieder zu Rechercheaufträgen. Diesmal ist es anders: Ihr Vater Arnaldo Pitti, eigentlich Marchese Pitti-Sanbaldi, Inhaber eines investigativen Online-Portals, hat sich nach über einem Jahr bei ihr gemeldet und ihr einen harmlos erscheinenden Auftrag erteilt. Sie soll am Ufer des Gardasees eine Informantin treffen. Gianna hatte ihren Vater für tot gehalten und freut sich auf ein Wiedersehen.
Als sie am Ufer ankommt, findet sie die Informantin ermordet im See. Eine leere CD-Hülle zeugt vom Material, das übergeben werden sollte: Churchills Geheimnis. Diesem sind noch andere Menschen hinterher, Gianna beobachtet einen Jeep, dessen Insassen sich für sie interessieren. Zurück in der Redaktion, wird sie sofort zu einem anderen Tatort geschickt, an dem sich eine Schießerei ereignet hat. Am See verschwindet indessen die Leiche. Sie ahnt, dass die beiden Fälle zusammengehören.
Es folgen turbulente, auch gefährliche Ereignisse, die geschickt historische Fakten mit einem ‚Was-wäre-wenn‘ verknüpfen, dabei ist die Familie Giannas immer involviert: Ihre Mutter Carla, der Vater und auch der liebenswert-schrullige Onkel Francesco, bei dem Gianna seit einem Wasserrohrbruch lebt, der sich in ihrer Wohnung ereignet hat. Es geht spannend zu, ohne die Leser/innen mit allzu vielen Grausamkeiten zu konfrontieren. Und immer ist da auch eine gehörige Portion Humor in der Beschreibung der Charaktere. Der Geschichtsprofessor, der hier verfolgt wird, ist ein Engländer, wie ihn sich Karikaturisten ausgedacht haben könnten. Francesco achtet auf Stil und verwaltet das Erbe der Pitti-Sanbaldis, ist jedoch bereit, für seine Familie jede erdenkliche Hilfe zu leisten, auch wenn es dabei gefährlich wird. Wie sein Bruder und seine Nichte Gianna, so verfügt auch er über kriminalistischen Spürsinn. Gianna ist eine junge Frau, etwas chaotisch, offenbar attraktiv, die Listen anfertigt, um mehr Struktur in ihr Leben zu bekommen, dann aber daran scheitert und die Listen ad absurdum führt. Und Arnaldo, der Verschollene, der seine Frau Carla wegen einer anderen verließ, kann es nicht glauben, dass es ihr auch ohne ihn gut zu gehen scheint!
Der Autor verbindet alles das gekonnt mit dem Kriminalfall, der sich als größer und komplizierter entpuppt, als Gianna das geahnt hätte. Hier geht es um die politische Brisanz der Geheimnisse Churchills, die sogar den britischen Geheimdienst auf den Plan rufen. Zum Ende des Romans wird die Spannung gesteigert, die Dinge scheinen sich zu überschlagen. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse wird durch verschiedene Erzählstränge verdeutlicht, der Fokus liegt abwechselnd auf Gianna, ihrem Vater, ihrem Onkel und der Chefredakteurin Elvira, wobei der größte Teil auf Gianna entfällt. Durch das Unterbrechen des jeweiligen Erzählstranges entstehen spannungssteigernde Cliffhanger. Am Schluss entlässt uns Koppelstätter mit einem solide geschriebenen Kriminalfall, einer neu gestalteten Familie, aber auch mit einem Augenzwinkern. Die Perspektive für weitere Romane der Reihe ist eröffnet. Lesenswert.

Bewertung vom 22.04.2025
Peters, Amanda

Beeren pflücken


sehr gut

Der Roman erzählt die Geschichte des entführten Mädchens Ruthie aus zwei unterschiedlichen personalen Perspektiven, ihrer eigenen und der ihres Bruders Joe. Im Prolog erfahren wir, dass Joe, nun 56-jährig, im Sterben liegt und sich an die Zeit zurückerinnert, die zwischen Ruthies Verschwinden und der jetzigen liegt. Hier wird bereits offenbart, dass ein Wiedersehen nach nun 50 Jahren bevorsteht.
Zu Beginn des Buches wird deutlich, wie ‚die Weißen‘ auf die ‚Indianer‘ herabschauen, sie als minderwertig betrachten. Ruthies Mi’kmaq Familie reiste zum Beerenpflücken aus Nova Scotia nach Maine, um dort Geld zu verdienen. Am Rande erfahren die Leser/innen von Indianerbeauftragten, Internaten für Indianerkinder und davon, wie die Landbesitzer von den Saisonkräften und ihrer vermuteten Unempfindlichkeit gegen Kriebelmücken profitieren: Diesen Menschen wird Empfindsamkeit abgesprochen, in physischer wie psychischer Hinsicht.
Als Ruthie vierjährig verschwindet, sucht die Familie sechs Wochen lang nach der Kleinen, immer wieder durchkämmen sie den Wald und das Gelände, rufen sie, sind verzweifelt. Schließlich müssen sie zurück. Das Mädchen wächst, nachdem sie entführt wurde, bei einem weißen Ehepaar an einem anderen Ort als Norma auf.
Norma berichtet, wie Joe, rückblickend. Zunächst erfahren wir, dass sie als Kind Träume hatte, die eigentlich die Wahrheit offenbarten, was ihr aber nicht bewusst wurde. Sie träumte von der Zeit in Maine, von einem Bruder, erfand eine Freundin namens Ruthie. Von Anfang an wird klar, dass Norma und Ruthie identisch sind. Ihre psychisch labile ‚Mutter‘ Lenore hatte einige Fehlgeburten und Ruthie, die auf einem Stein saß und auf ihre Familie wartete, einfach mitgenommen. Der Ehemann, ein Richter, deckte seine Frau und versuchte, Norma ein guter Vater zu sein. Bei ihren Fragen wirkte er jedoch gequält und unsicher. Sie hatte nicht die gleichen Freiheiten wie die Kinder gleichen Alters, wurde sehr abgeschirmt und quasi bewacht. Beim Heranwachsen bemerkte sie die vielen Ungereimtheiten in ihrem Leben und schob sie irgendwann darauf, offenbar adoptiert worden zu sein.
Ruthie/Norma lernte, ihre vorgeblichen Eltern zu lieben, übernahm aber Lenores Trauma und hatte nach einer Fehlgeburt Angst, das gleiche durchzumachen wie sie. Es gelingt ihr nie, stabile Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, Freundschaften kann sie nicht halten, ihre Ehe scheitert. Beruflich ist sie durchaus erfolgreich, sie kann studieren und findet eine gute Anstellung. Dass ihr Leben ein falsches war, die Ungeheuerlichkeit der Wahrheit, erfährt sie erst nach Lenores Tod. Sie sucht ihre eigentliche Familie und findet am Ende die, die noch da sind. Sie haben die Hoffnung nie aufgegeben, dass Ruthie lebt.
Joe fühlt sich mitschuldig am Verschwinden von Ruthie, war er doch der letzte, der sie gesehen hatte. Er vermisst seine kleine Schwester, sein Leben wird fortan geprägt von Wut und Unstetigkeit. Auch er kann kein gelingendes Leben mit stabilen sozialen Beziehungen führen.
Die Spannung des Buches besteht darin, die verschiedenen Lebenswege zu verfolgen und zu erfahren, wie es den Menschen ergangen ist und wie es zu der angedeuteten Wiedervereinigung kommen wird. Es gibt aber einige Längen – zu oft werden Normas Träume thematisiert, wird geschildert, wie versucht wird, ihr verharmlosende Deutungen nahezulegen. Strukturiert ist das Buch durch die abwechselnden Erzählungen von Norma und Joe, deren Lebenswege wir verfolgen. Sprachlich kann das Werk durchaus überzeugen, es wurde von Brigitte Jakobeit sorgfältig übersetzt. Was unangenehm auffällt: Wer spricht heute noch von Indianern? Hier wäre es an Amanda Peters gewesen, diesen kolonialen Begriff zumindest zu problematisieren, auch wenn die erzählte Zeit so weit zurückreicht, dass dies noch nicht zentral thematisiert wurde.