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Benutzername: 
Taina
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 5 Bewertungen
Bewertung vom 22.07.2024
Unser größter Schatz: Der Boden
Küntzel, Karolin

Unser größter Schatz: Der Boden


ausgezeichnet

Ein Buch für alle wachen Naturschützer und Menschen, die glaubwürdig umweltbewusst leben wollen. Schon bei der Produktion wurde darauf geachtet: Es ist auf Recyclingpapier gedruckt, kommt ohne Plastik und Mineralöle aus. Dennoch sind die Farben klar und kräftig, die Bilder zeigen nicht nur das Beschriebene, sondern bilden die bunte Vielfalt unseres Lebens auf der Erde ab – es gibt verschiedene Hautfarben und ein Kind im Rollstuhl. Das ist immerhin ein Anfang. Schön ist auch, dass Braun- und Grüntöne passend zum Thema dominieren.
Inhaltlich ist das Buch ebenso vielfältig, es beschreibt Aspekte, die mir nicht sofort in den Sinn gekommen sind. Natürlich ist da der Aufbau unseres Bodens, aber auch der Erde und ihrer Gestalt. Dazu gehören der Aufbau der Erdkruste, vulkanische Aktivitäten, Plattentektonik und Klimazonen. Im Kleinen wird erläutert, wie die Filterfunktion des Bodens funktioniert, was den Boden mit seinen unzähligen Lebewesen darin gesund erhält. Erwähnt werden Gärten und die Pflege des Bodens, aber auch der Raubbau an der Natur, der Abbau von Bodenschätzen, die Verdichtung des Bodens und Faktoren, durch die wir Menschen den Boden beeinflussen – fast immer negativ. Das wird zwar kindgerecht, aber durchaus anspruchsvoll erläutert und bietet Informationen, die über das Erwartete hinausgehen. Die Wichtigkeit der Moore und der Wälder, verschiedene Arten von Naturschutz, der Boden des Meeres, das Wattenmeer – Boden ist ein sehr vielfältiger Begriff. Viele Formationen sind von unserem Schutz abhängig, denn der Einfluss des Menschen führt dazu, dass Wüsten sich ausbreiten, Regenwald verschwindet. Sehr schön ist der Satz: ‚Die Art des Bodens entscheidet darüber, ob die Menschen, die dort leben, hauptsächlich arm oder reich sind.‘ Damit werden die Leser/innen daran erinnert, dass unser Wohlstand nicht immer ein Verdienst ist und dass diejenigen, die in sehr armen Gebieten leben, unsere Solidarität und Unterstützung benötigen.
Das Buch endet sehr abrupt, hier hätte ich mir einen Abschluss gewünscht. Aber es wirkt über sich hinaus, indem es vielfältige Denkanstöße liefert. Der Titel ist ein schönes Wortspiel – Unser größter Schatz – der Boden. Ein Boden- und Bücherschatz für jüngere und ältere Leser.

Bewertung vom 22.07.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


ausgezeichnet

Ein sehr spannender, verstörender Roman. Die Leser/innen folgen der Perspektive der 28-jährigen Sam, die mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester in prekären Verhältnissen im Staat Washington lebt. Sie kann nirgends mithalten, verkauft Snacks auf einer Fähre, fühlt sich ungesehen, während um sie herum die Menschen über Dinge reden, die sie sich nicht leisten kann: „Wie Aschenputtel /…/ verrichtete Sam eine unbedeutende Arbeit, doch kein Prinz würde sie je davon erlösen“ (S.11). Die Welt der Märchen zieht sich durch den Roman und zeigt Sams inneren Stillstand auf der Ebene der Kindheit. Die Mutter der beiden Schwestern ist seit Jahren arbeitsunfähig, sie hat in einem Nagelstudio gearbeitet, ebendiesen Leuten die Nägel lackiert und ist an den Dämpfen und Chemikalien erkrankt. Ihre Arzt- und Krankenhauskosten verschlingen das Geld, das die Schwestern verdienen. Sie lieben sie sehr und erinnern sich an die wundervolle, schöne Mutter, die sie war. Die Pflege obliegt weitestgehend Elena, die sich um alles kümmert – Pflege, Haushalt, Finanzen. Samantha bleibt passiv und überlässt alles ihrer großen Schwester, ohne zu sehen, dass diese unter der Last fast zusammenbricht. Sams ersehnte Erlösung liegt in einer Zukunft mit Elena.
Die Kindheit der beiden Frauen verlief unbeschwert, wenn sie in ihre eigene Welt in der Natur eintauchen konnten. Dann bemerkten sie ihren Außenseiterstatus nicht. Draußen war das Paradies – frei und fernab von ökonomischen Zwängen. Zu Hause herrscht ein unberechenbarer, gewalttätiger Freund der Mutter, bis diese ihn mit Unterstützung des Jugendamtes hinauswirft. Als Samantha am Ende ihrer Grundschulzeit aufgrund ihrer Lebensverhältnisse offene Ablehnung erfährt, kapselt sie sich ab und verfolgt in ihrer Fantasie weiter die Welt ihrer gemeinsamen Kindheitsträume: Sie wird nach dem Tod der Mutter mit Elena von dem leben, was der Verkauf ihres Grundstücks erbringt, und ein neues Leben beginnen. Alles, was sich die beiden in jungen Jahren vorgestellt haben, soll dann wahr werden. Etwas Anderes ist nicht denkbar. So nimmt Sam keine sozialen Kontakte auf, flüchtet sich in unverbindlichen Sex, lebt ganz auf sich und Elena bezogen. „Sam wartete darauf, dass sich ihr Leben änderte. Sie wartete schon sehr lange“ (S.17).
Ein Grizzly, der während der Rundfahrt der Fähre gesichtet wird, tritt in ihr Leben. Er nähert sich ihrem Haus und stellt eine Bedrohung dar, eine Naturgewalt, die nicht vorgesehen war. Elena sieht die Präsenz des mächtigen Tieres als Faszinosum, sie weicht ihm nicht aus, sondern sucht dessen Nähe. Die Gefahr und die Möglichkeit, sie zu bannen, werden zu einem Fixpunkt in ihrem Leben. Auch sie ist plötzlich in der märchenhaften Welt angekommen, explizit wird dem Roman eine Passage aus „Schneeweißchen und Rosenrot“ vorangestellt. Sam hat Angst vor dem Tier und nimmt Kontakt zu einer Biologin auf, die helfen soll. Gleichzeitig stößt sie diese jedoch zurück, wenn sie ihr vermeintlich sehr in den Lebensbereich der Schwestern eindringt.
Wie sehr Sam sich von Elena wirklich entfernt hat, wird offenbar, als die Mutter stirbt. Elenas Träume sind längst nicht mehr die ihrer Schwester, sie konfrontiert Sam mit der brutalen Realität: Nie werden sie gemeinsam weggehen, das Paradies existiert nicht mehr, Elena möchte ein eigenes, ein wirkliches Leben. Sam will das nicht wahrhaben, sie negiert alles, was Elena sagt und was sich ihr nach und nach offenbart. Ihre Leugnung führt in die Katastrophe. Doch selbst dann kann Sam sich nicht aus der Welt des Träumens befreien – sie deutet das Geschehen um, sodass es in ihre Märchenwelt passt.
Der Schreibstil der Autorin ist flüssig, vorwiegend kurze Sätze werden aneinandergereiht und spiegeln damit Sams kindlich-naive Weltsicht. Die Handlung entfaltet einen Sog, der das Unheil ahnen lässt, das sich anbahnt. Ein Roman, den man nicht vor der letzten Seite aus der Hand legt.

Bewertung vom 15.04.2024
Wo die Asche blüht
Que Mai, Nguyen, Phan

Wo die Asche blüht


schlecht

Die Autorin nimmt in ihrem ambitionierten Roman die unterschiedlichen Opfergruppen des Vietnamkrieges in den Blick: Da ist beispielsweise der Amerasier, der im eigenen Land aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert wird und der von einem besseren Leben in Amerika träumt, da der amerikanische Veteran, ehemals Hubschrauberpilot, der an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und mit seiner Schuld leben muss, die jungen Mädchen, die, um der Armut zu entkommen, zu Prostituierten werden. Und man bekommt einen Einblick, wie die Korruption innerhalb der Gesellschaft die Ausbeutung, die von Kolonialmächten begonnen wurde, fortsetzt. Die Zeitebenen sind die Zeit des Krieges, einige Jahre später und das Jahr 2016. Diese Aspekte geben einen recht detaillierten Einblick in die Schrecken und Grausamkeiten, die ein Krieg für alle Beteiligten mit sich bringt. Es ist der Autorin gelungen, diese in den Fokus zu rücken und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Nicht gelungen ist bedauerlicherweise die literarische Umsetzung. Die Figurenperspektiven sind oft unglaubwürdig gestaltet, die Sprache wird den Menschen nicht gerecht, sie bleiben Typen statt zu Charakteren gestaltet zu werden. ‚Du bist das Beste, was mir je passiert ist‘ – eine solche hohle Phrase, heute leider oft gehört, wird einer Nonne in den Mund gelegt, die ein Waisenkind großzieht. Und kommt ein weiteres Mal im Roman vor. Die Liebesszenen sind entweder verkitscht (Sein Atem duftete nach Honig und fühlte sich so frisch an wie Morgensonne auf ihrer Haut) oder derb formuliert. Der Amerikaner Dan, der mit seiner Frau zurückkommt, damit er an seinem Trauma arbeiten kann, formuliert in Gedanken, die junge Geliebte habe ihm ‚die Augen dafür geöffnet, dass die Vietnamesen genauso Menschen waren wie die Amerikaner.‘ Eine solche Erkenntnis sollte in einem Roman durch die Gestaltung deutlich werden, hier jedoch wird alles ausformuliert und plattgeredet. Das, was Literatur sein soll, wird zum Traktat. Vertraut die Autorin der Intelligenz der Leser/innen nicht oder hat sie kein Zutrauen zur eigenen Leistung? Es erscheint überflüssig zu erwähnen, dass sehr viele Zufälle zusammenkommen müssen, damit am Ende alle Erzählfäden zusammenlaufen. – Schade!

Bewertung vom 03.04.2024
Der Sommer, in dem alles begann
Léost, Claire

Der Sommer, in dem alles begann


gut

Ein Roman, in dessen Mittelpunkt drei Frauenschicksale stehen, die miteinander auf eine Art verwoben sind, die erst nach und nach enthüllt wird. Der Roman beginnt 20 Jahre nach der Beerdigung von zwei Personen, dem Vater und der Lehrerin der Protagonistin Hélène. Nun kehrt Hélène in die Bretagne zurück, die sie damals verlassen hat, um nach Paris zu gehen. Eine Bretagne, wie sie wenigen bekannt ist: ein abgelegenes Dorf im Landesinnern, nicht die touristische Region am Meer. Hier ist das Klima rau, jeder kennt jeden, das Leben verläuft in den vorherbestimmten Bahnen. Paris ist einerseits der Ort, dessen Einwohner um ihr Leben beneidet werden, andererseits wird die Regierung dort von einigen als Unterdrücker des bretonischen Volkes gesehen. Die Lehrerin aus Paris brachte das Gefüge ins Wanken, sie ist die Tote. Es wird offenbar, dass die Geschehnisse weiter zurückreichen, in das Jahr 1940, in dem für die junge Odette die behütete Kindheit beendet ist. 1944 muss sie nach dem Tod ihrer Eltern das Dorf verlassen und nach Paris gehen. Als sie später zurückkehrt, ahnt niemand, dass sie ein Geheimnis hütet, das sie niemandem anvertrauen kann. Ihr Schmerz und ihre Ablehnung alles dessen, was aus Paris kommt, setzen die Katastrophe in Gang. Die Autorin zeigt die bretonische Heimat der Frauen – von der eine nur spürt, dass hier ihre Wurzeln liegen – und die Schicksale, die damit verknüpft sind. Sie zeigt jedoch auch die zerstörerische Kraft, die entsteht, wenn eine Versöhnung nicht möglich scheint. Hélène jedoch weiß, dass ihre Wurzeln ihr die Stärke geben, die sie zum Leben befähigt.

Bewertung vom 13.02.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


sehr gut

Ein bedrückender Roman. Anlässlich eines Erbschaftsstreits um zwei Ferienhütten auf der Insel Hvaler entfaltet die Erzählerin nach und nach eine Lebensgeschichte, die geprägt ist von einem fast pathologischen Graben in der eigenen Kindheit, von einem Leid, das zum Bruch mit der Familie geführt hat – und doch ist da die uneingestandene Sehnsucht, zu denen zu gehören, von denen sie sich bewusst entfernt hat. Die Hütten auf Hvaler würden ihr die Zugehörigkeit sichern, sind jedoch den Schwestern überschrieben worden. Deren Verhalten und das der Mutter empfindet sie als Verrat, als Nicht-Anerkennung ihrer Geschichte. Immer wieder werden die ‚Hütten auf Hvaler‘ erwähnt, sie stehen symbolisch für das Ausgegrenztsein und die subjektiv empfundene Ungerechtigkeit.
Mit ihren fast sechzig Jahren ist die Erzählerin unfähig, sich von den Ereignissen ihrer Kindheit zu lösen, sie überschatten ihre Beziehungen bis zum Zeitpunkt des aktuellen Geschehens. Die Leser/innen werden hineingezogen in dieses Leben, durch Rückblenden wird die Jetztzeit ergänzt – schmerzhaft oft und mit selbstzerstörerischer Kraft kreisen die Gedanken der Erzählerin um die immer gleichen Begebenheiten und deren Spuren in ihrem Leben. Und trotz allem fragt sie sich, ob sie nicht doch nur ihre Narben streichelt, wie sie es nennt. Sie ist jedoch unfähig, etwas zu ändern.
In konzentrischen Kreisen, soghaft, mit präziser Syntax, Windungen, Wiederholungen, wird nach und nach offenbart, was die Erzählerin quält – so langsam und obsessiv, dass die Seelennot auf die Leser/innen übertragen, die Qual beim Lesen spürbar wird.